Religion ist nicht nur etwas für den Kopf – sie zeigt sich auch in Dingen: in einem Gesangbuch, einem Abendmahlskelch, einer Kirchenbank. Solche Objekte erzählen Geschichten. Vom Glauben. Vom Alltag. Von dem, was Menschen bewegt hat – und heute noch bewegt. In der Serie "Evangelisches Zeug" geht es um genau solche Dinge. Um Alltagsobjekte und besondere Stücke, die etwas über evangelische Frömmigkeit und Kultur verraten. "Zeug" ist hier liebevoll gemeint – im Sinne von "Gegenstand", "Gerät", "Begleiter". Neugierig geworden? Dann gehen Sie mit Kunsthistoriker Sebastian Watta auf Entdeckungstour – durch Kirchen, Museen oder einfach im Alltag. Es gibt viel zu sehen und einiges neu zu entdecken.
Manchmal begegnen einem Objekte, bei denen die Nutzungsspuren oder Umgestaltungen auf die ganz großen Diskussionen einer bestimmten Epoche verweisen. Schaut man dann auf die Details, wird es richtig spannend, denn man sieht, wie sich Mentalitäten verändern. Der Altar der Ludgeri-Kirche in der ostfriesischen Stadt Norden ist so ein Fall. Und eine der großen Kontroversen im Protestantismus, um die es im Folgenden geht, war der Umgang mit den Bildern.
Manchmal sind die interessantesten Entdeckungen Zufall. Im Jahre 1985 entpuppte sich der Altar der größten mittelalterlichen Kirche Ostfrieslands als etwas Besonderes, als man die alte Leinwand spätbarocker Malereien ablöste und es dahinter plötzlich golden schimmerte.
In der Ludgeri-Kirche, die seit 1527 evangelisch ist, haben sich sehr viele Ausstattungselemente aus unterschiedlichen Zeiten erhalten, ein echter Glücksfall. Geht man vom Langhaus aus an der Kanzel vorbei in Richtung Chor, so passiert man so viele Gestühlreihen, Emporen, Logen und Sondersitze, teilweise mit Schnitzereien, Wappen und Inschriften versehen, dass man sich fast seinen Weg suchen muss. Sehr viele Gruppen und Einzelpersonen hatten hier über die Jahrhunderte ihren eigenen Bereich, von dem aus sie am Gottesdienst teilnehmen konnten.
Quer in der Raumachse und breit steht der "Fürstenstuhl" der Herrscherfamilie über Ostfriesland, der Grafen und späteren Fürsten des Hauses Cirksena. Diese Loge, von der man auf der einen Seite zur Kanzel und auf der anderen in Richtung Altarraum schauen konnte, verstellt fast ganz den Blick in den Hochchor. Aber wenn man darunter hindurchtritt ist der Eindruck umso größer. Umgeben von einem Chorumgang, neben einem Sakramentshaus und leicht erhöht steht der große Flügelaltar der Kirche unter den bis zu 22 Meter hohen Gewölben, mit Sitzbank und hölzernem Abendmahlstisch, und dann sieht man und wundert sich: nichts als Schrift? Die große Mittelpartie und die Seitenflügel des Altars, dort, wo man andernorts Figuren und Bilder erwartet, ist vollständig mit Text bedeckt.
Wenn sich Konfessionen streiten
Die Reformation wurde in Ostfriesland bereits in den 1520er Jahren eingeführt. Vielerorts prägte neben dem Luthertum auch der Calvinismus, stark von den Niederlanden beeinflusst, das religiöse Leben. Die reformierten Gemeinden orientierten sich an niederländischen Vorbildern – sowohl bei Neubauten und Umgestaltungen älterer Kirchen als auch bei deren Ausstattungen. Immer wieder kam es in verschiedenen Städten zu Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Reformierten, da auch die Obrigkeiten unterschiedlichen Bekenntnissen angehörten. Ab den 1570er Jahren setzte sich schließlich das Luthertum in der Grafschaft Ostfriesland immer mehr durch, einzelne reformierte Gemeinden hatten Bestand.
Steht man vor den Tafeln in der Ludgeri-Kirche, so wirkt das Schriftbild monumental. Das sollte es auch. Goldene Buchstaben treten deutlich vor dem azuritblauen Hintergrund hervor. Die maximale Deutlichkeit wird erreicht durch den Kontrast der Komplementärfarben, Gold (Orange-Gelb) und Blau geht immer, nicht nur bei Werbeanzeigen unserer Zeit. Der Farbkontrast, die Buchstabenformen, das alles bezieht sich auf die römische Antike. Die Tafeln des Altars entstanden schließlich in der Renaissance, der "Wiedergeburt" der Antike. Wenn Sie einmal in Rom sein sollten, schauen Sie sich die monumentale Bauinschrift der Kirche Santa Sabina aus dem beginnenden 5. Jahrhundert an oder die großen Inschriftenfelder der kaiserlichen Triumphbögen. Das sind die Vorbilder, auf die sich eine solche Entwurfsidee bezieht. Bildlosigkeit bedeutet keineswegs zugleich gestalterische Zurückhaltung, im Gegenteil: Schließlich ist es das Wort Gottes, das hier vor Augen gestellt wird. Und auch die Form muss Autorität ausstrahlen.
Mit antiker Autorität
Der Altar ist ein Umbau. Der bekrönende Baldachin und die Rückwand zeigen, dass es sich um ein Stück des mittleren 15. Jahrhunderts handelt, das ursprünglich sicherlich mit geschnitzten Figuren und/oder mit Tafelbildern versehen war. Er war das zentrale Element des zu diesem Zeitpunkt neu errichteten Chores der Kirche. Aber den figürlichen Altarschmuck räumte man 1577 heraus, als in einem gewissen Zeitraum während eines konfessionellen Streites zwischen Lutheranern und Reformierten in der Ludgeri-Kirche reformierte Pastoren das Sagen hatten. Ein Handwerker setzte die großen Schrifttafeln ein.
Flügelaltäre haben durch die Klappbarkeit ihrer Seitenteile eine Werktags- und eine Festtagsseite. Im geschlossenen Zustand, dem für die Werktage, liest man auf den Außenseiten der Flügel die Zehn Gebote, wie auf zwei großen Steintafeln. Sie dienten damit als wichtige Richtschnur für das eigene Verhalten an jedem Tag, auch in Vorbereitung für den Abendmahlsgottesdienst. Das zweite Gebot, hier in der reformierten Fassung, thematisiert die (Kult-)Bilder und das Verbot, sie zu fertigen und besonders, sie zu verehren: DV SCHALT DY NENE BILDE NOCH GELIKENISSE MAKE. BEDE SE NICHT AN VND DENE EN NICHT. Der zum Abendmahlgottesdienst geöffnete Altar zeigt dann auf der großen Mitteltafel die Einsetzungsworte und auf den Innenseiten der Flügel weitere neutestamentliche Texte zu diesem Thema aus Paulus’ erstem Korintherbrief. 1557 hatte die reformierte Geistlichkeit eine neue Ordnung für das Abendmahl in mittelniederdeutscher Sprache erlassen, aus der die Texte wortwörtlich entnommen sind.
Bilder verbieten?
Nach reformiertem Bekenntnis sind alle Formen von Bildern im Kirchenraum abzulehnen. Für die Reformierten war das strenge Bilderverbot wie für die Juden, in Anknüpfung an die Zählung der Zehn Gebote nach der Thora, ein eigenes Gebot, während Martin Luther und auch die katholischen Bibelübersetzungen das Bilderverbot in das Erste Gebot integriert hatten. Calvin betonte immer wieder, dass Gott unbegreiflich und ewig sei, also nicht in Bildwerken von Menschenhand dargestellt werden könne und dürfe. Es bestünde immer die Gefahr, Bilder anzubeten und damit Götzendienst zu üben.
Bildkritische Vorstellungen wie diese, die früh etwa auch der Reformator Andreas Bodenstein von Karlstadt von Wittenberg aus und auch lokale Autoritäten in Ostfriesland vertraten, führten in den frühen Jahrzehnten des Protestantismus an diversen Orten zu Bilderstürmen und großen Zerstörungen von Kirchenausstattung. Vielerorts entfernte man einfach Stück für Stück die Bilder aus den Kirchen.
Luther nahm an, die Bilder zu zerstören würde keine eigentliche Veränderung bewirken, sondern die Gläubigen müssten sie und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen, wie die Verehrung, innerlich überwinden. Man könne auch neue Gedenk- und Zeugnisbilder entwerfen, die der Erinnerung und der Bekräftigung der Glaubensinhalte dienten, auch für Menschen, die nicht lesen konnten. Letztlich habe aber allein Gottes Wort und die Schrift Autorität. Die Auseinandersetzung damit in der Predigt rückte ins Zentrum des evangelischen Gottesdienstes.
Von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gibt es mehrere Beispiele dieser Art von "Schriftaltären", nicht nur in Norddeutschland, sondern auch andernorts. Teilweise begleiten in lutherischen Gebieten auch einzelne Bilder die Texte.
Und es geht noch weiter. Wenn man sich den Altar heute genauer anschaut, stellt man fest, dass er ein Schloss mit Schlüsselloch besitzt, und tatsächlich wurde der neue Schriftaltar wohl bereits wenige Jahre nach seiner Fertigstellung, als die Kirche lutherischen Geistlichen unterstand, dauerhaft abgeschlossen, so dass allein die Werktagsseite mit den Zehn Geboten sichtbar blieb.
Ein Altar zum Abschließen
Wenn Sie sich das Bild des Altars genauer ansehen, wundern Sie sich vielleicht über die kleinen Engelfiguren in den Ecken der Mitteltafel? Diese fügte man in einer späteren Phase, im Jahr 1682, hinzu, als man den Altar der nun schon lange lutherischen Ludgeri-Kirche wahrscheinlich erstmals wieder öffnete und ein wenig dem aktuellen Zeitgeschmack anpasste.
Gänzlich verschwanden die Texte des Schriftaltars aber 1785. Durch den niederländischen Maler F. C. de Hosson ließ man drei Gemälde auf Leinwand anfertigen, mit denen man die Texte der Festtagsseite überdeckte, mittig das Abendmahl, auf den Flügeln die Kreuzigung sowie die Kreuzabnahme. Die Außenseite der Flügel mit den Zehn Geboten ließen die Kirchenverantwortlichen einfarbig übermalen. Eine Restaurierung ebendieser Bilder und des Altars im Jahre 1985 brachte seine frühere Gestalt ans Licht. Man kann sich die Überraschung der Restaurator:innen vorstellen, die die aufgenagelten Leinwandgemälde eigentlich nur zur weiteren Bearbeitung von ihrem Holzträger lösen wollten. Heute hängen sie, mit Rahmen versehen, an der Südwand des Langhauses der Kirche.
Der Altar, der mehrfach umgestaltet wurde, macht damit für uns heute gleich verschiedene Phasen dieser Diskussion um das Für und Wider von Bildern sichtbar.
Wie groß allerdings die Bandbreite der Diskussion um eine passende Bildsprache ist, zeigt zum Beispiel auch die Unionskirche im hessischen Idstein. Textfelder mit Sprüchen gibt es auch hier, aber vor allem: Bilder über Bilder.
Eine barocke Bilderflut
Der Chor und weitere Mauerpartien der damaligen Martins-Kirche und späteren Stadtkirche stammen noch aus dem Spätmittelalter. Die Neubenennung als "Unionskirche" legte man 1917 fest und bezog sich damit auf die Union zwischen Lutheranern und Reformierten, die das Ergebnis der nassauischen Synode von 1817 war, als deren Ort die Idsteiner Stadtkirche gedient hatte.
Graf Johannes von Nassau-Idstein ließ die Kirche, die seit dem 15. Jahrhundert auch Grablege des Grafenhauses war, ab 1669 im Stil des Barock umbauen und ein völlig neues Langhaus gestalten. Der Graf starb 1677, so dass das Bauprojekt erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Neuausmalung des Chores abgeschlossen wurde.
Höchster Anspruch
Die Emporen des Langhauses und darunter liegende Bereiche tragen Inschriftentafeln, deren Texte zumeist biblischen Ursprungs sind. Sie beziehen sich inhaltlich auf die Personengruppen, die dort ihre angestammten Plätze hatten, wie die Grafenfamilie, die Beamten und Bürger, und ermahnen unter anderem zu gutem Handeln. Die Gesellschaft war in ihrer Ordnung auch hier im Kirchenraum abgebildet.
Aber den stärksten Eindruck auf die Besuchenden machen die Bilder. Der Großteil der Gemälde der Decken- und angrenzenden Wandflächen wurde von einem Künstler aus dem Rubens-Umkreis, Michel Angelo Immenraedt aus Antwerpen, übrigens einen Katholiken, und seine Gehilfen geschaffen. Man sieht bekannte biblische Szenen des Neuen Testaments, das Wirken Jesu und der Apostel bis zur Passion mit Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt, die das Zentrum der Decke einnehmen. Die Bilder förderten sicherlich auch das Gespräch unter den Betrachtenden, über die biblischen Themen, über den künstlerischen Anspruch oder auch einzelne ikonographische Motiven, denn der Künstler bediente sich eifrig an bekannten Bildentwürfen seiner Zeit und übernahm diese.
Evangelisch oder katholisch?
Man kann hören, dass viele Besucher die Kirche aufgrund ihrer Bilderfülle zunächst für einen katholischen Bau halten.
In der Szene des "Ganges nach Emmaus" hat der Künstler wohl gar den Grafen selbst als einen der beiden Jünger wie einen Pilger auftreten lassen. In seinem Bauprojekt, dessen Fertigstellung er nicht mehr erlebte, ging es Graf Johannes, wie den meisten seiner Zeit- und Standesgenossen, neben der Herausstellung der frommen Tat als Kirchenstifter um die prunkvolle Inszenierung der eigenen herrscherlichen Rolle. Es entstand eine ungewöhnliche und extrem repräsentative Bildausstattung für einen evangelischen Bau, der zugleich dem Anspruch nach vor allem Residenz- aber auch Stadtkirche war.
Der kurze Blick vom Schriftaltar in Ostfriesland auf die Bilder und die Inschriftentafeln der Unionskirche in Idstein zeigt, wie groß die Spannweite des Möglichen in der Diskussion um protestantische Kirchenausstattungen war und auch noch ist. Und so vieles liegt dazwischen. Was hielt und hält man für geboten, was für angemessen? Oft lassen sich bei einem zufälligen Besuch im wahrsten Sinne des Wortes überraschend vielschichtige Kunstwerke entdecken, die immer wieder ein echter Spiegel ihrer Zeit sind.