Lebensspuren in Bibeln und Gesangbüchern

Familienbibel
Sebastian Watta
Viele alte Familienbibeln haben persönliche Eintragungen, die oft Jahrhunderte zurückreichen. Sie machen sie oftmals für ihre Besitzer zu einem persönlichen Schatz, der seinen besonderen Platz unter den Familienerinnerungen in den eigenen vier Wänden hat.
Evangelisches Zeug: Der Name als Ding
Lebensspuren in Bibeln und Gesangbüchern
Serie in fünf Folgen: Teil 5
Ein altes Buch in dunklem Leder, Metallschließen, raues Papier unter den Fingern: so begann für viele die erste Begegnung mit der Familiengeschichte. Familienbibel und persönliches Gesangbuch waren nicht nur Andachtshelfer oder für den Gottesdienst, sondern Schatzkästchen voller Namen, Daten und kleiner Geheimnisse. Kunsthistoriker Sebastian Watta folgt den Spuren, die Menschen in ihren Büchern hinterließen und erzählt, wie aus Glaubensbüchern private Chroniken wurden.

Religion ist nicht nur etwas für den Kopf – sie zeigt sich auch in Dingen: in einem Gesangbuch, einem Abendmahlskelch, einer Kirchenbank. Solche Objekte erzählen Geschichten. Vom Glauben. Vom Alltag. Von dem, was Menschen bewegt hat – und heute noch bewegt. In der Serie "Evangelisches Zeug" geht es um genau solche Dinge. Um Alltagsobjekte und besondere Stücke, die etwas über evangelische Frömmigkeit und Kultur verraten. "Zeug" ist hier liebevoll gemeint – im Sinne von "Gegenstand", "Gerät", "Begleiter". Neugierig geworden? Dann gehen Sie mit Kunsthistoriker Sebastian Watta auf Entdeckungstour – durch Kirchen, Museen oder einfach im Alltag. Es gibt viel zu sehen und einiges neu zu entdecken.

Wann genau bei mir die Liebe zu Büchern angefangen hat, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich, wie bei so vielen, durch das Vorlesen. Da findet man dann irgendwann neben der Geschichte auch das Buch an sich interessant. An ein besonders altes Buch erinnere ich mich aber, das man mir zeigte und das ich dann auch anfassen und mir selbst anschauen durfte. 

Nachbarn meiner Eltern waren nach Süddeutschland gezogen und während eines Sommerurlaubs besuchten wir sie. Ich dachte damals mit Unbehagen vor allem noch an den kleinen sandfarbenen Spitz, der zum dortigen Haushalt gehörte und früher immer, hell bellend, versucht hatte, einem von hinten in den Fuß zu zwicken. Also ein Besuch bei dem älteren Ehepaar. Den Hund gab es noch, er lief aufgeregt im Wohnzimmer umher und bellte. Ich zog beim Sitzen die Füße ein. Irgendwann musste er in die Küche. Kaffee und Kuchen, für mich als Kind eine arge Langeweile. Auf einer dunklen Anrichte mit Spitzendecke lag ein dickes Buch in dunklem Leder und sogar mit Metallschließen. Die Familienbibel, erklärte man mir und öffnete sie. Ich durfte über das rauhe Papier und die seltsame Schrift streichen, die sich tief in die Seiten eingeprägt hatte. Ohne Druck kein Buchdruck, sagte mein Vater. Jemand hatte mit schwarzer Tinte hineingeschrieben in dieses alte Buch. Da stünden sie alle drin, erklärten die Besitzer, die Familienmitglieder von vor ein paar hundert Jahren. Das könne man aber heute sowieso alles nicht mehr lesen.

Neulich fiel mir erst der Hund ein, dann auch wieder das Buch. Warum, hatte ich damals gedacht, schreibt man die Familie da rein? Ja, warum eigentlich?

Oftmals haben sie Einbände aus schön geprägtem Leder oder gar noch aus hellem Pergament, manchmal auch bereits aus bestrichenem Leinen. In den ersten Jahrhunderten des Buchdrucks war das mehrere hundert Seiten starke und eingebundene Buch noch eine Kostbarkeit, nur wenige konnten sich die Anschaffung leisten, geschweige denn, eine eigene kleine Bibliothek aufbauen. Auch später waren die Bibel oder das Gesangbuch vielleicht die einzigen Bücher im Haushalt. Das, was oftmals auch in den widrigsten Umständen bewahrt und an die nächste Generation weitergegeben wurde.

Manchmal hat man vielleicht in Erzählungen der Großeltern- oder Urgroßeltern-Generation davon gehört, dass die Familienbibel als wertvoller Besitz bei den kriegsbedingten Fluchtbewegungen im erzwungenermaßen extrem begrenzten Gepäck mitgenommen wurde. Manchmal wird auch erzählt, das Buch habe als Versteck für wichtige Dokumente gedient.

Eine Kostbarkeit, am Anfang ein Prestigeobjekt

Das Buch war bereits seit der Antike ein Symbol für Belesenheit, für Bildung. Attraktiv war es, sich mit Büchern darstellen zu lassen, die man sich auch erst einmal leisten können musste. Und das galt nicht nur für die Amtsporträts der Pastoren, die man teilweise heute noch in den Kirchen finden kann, bei denen das (Bibel-)Buch Arbeitsgrundlage und Glaubenszeichen ist, sondern auch für weltliche Honoratioren.

In der Neuzeit waren in Pastorenporträts, wie diesem des 41-jährigen Henning Henningsen, der sein Amt im 17. Jahrhundert in der in der St. Nicolai-Kirche in Boldixum auf Föhr ausübte, die Bibel und andere Bücher beinahe unverzichtbare Verweis auf den Beruf und auch den eigenen Glauben. Das Aufstützen und die Hand am Herz betont hier für die Betrachtenden noch einmal die innige Verbindung.

Aus der eigenen Bibel wurde auch im Familienkreis vorgelesen, sofern ein Mitglied ausreichend lesekundig für eine längere Passage war. Bis 1800 war im Gebiet des heutigen Deutschland die Lesefähigkeit in der Gesamtbevölkerung aber wohl recht gering. Eine solche Vorlese-Szene wird manchmal in Bildern darstellt, alle Familienmitglieder sitzen im einzigen beheizten Raum um den Tisch und gelesen wird bei schwierigen Lichtverhältnissen, bei Kerze oder Lampe.

Bei vielen dieser Familienbibeln dienten die Innenseiten der Einbände und die Vorsatzblätter vor dem Titel als freie Flächen für Notizen.

Man trug den eigenen Namen als Besitzer des Buches ein, außerdem die Familienangehörigen, Geburts-, Tauf- und Hochzeitsdaten, ebenso wie Sterbefälle. Manchmal fügte man auch die Berufe und noch weitere familieninterne Informationen hinzu, mehr oder weniger ausführlich, in ganzen Sätzen oder in Stichworten. So lassen sich in einzelnen Fällen beispielsweise auch Einträge zu Naturkatastrophen oder politischen Ereignissen finden. Reichte der Platz nicht, so wurden auch weitere Blätter eingelegt, die jedoch immer Gefahr liefen, verloren zu gehen. Für die einzelne Familie sind diese Eintragungen oftmals die einzige Überlieferung zu Vorfahren und Geschehnissen, Informationen die sonst vielleicht verloren gegangen wären oder zumindest, wie in öffentlichen Archiven, nur mit Aufwand und Glück auffindbar wären. Es bleiben auf diese Weise Spuren von Menschen, die oftmals nicht zu einer Gesellschaftsschicht gehörten, die über ihr Leben ein Tagebuch führten. In einzelnen Fällen finden sich so Einträge über diverse Generationen einer Familie und über Jahrhunderte.

All das diente sicherlich auch der Selbstvergewisserung: Wer waren meine Vorfahren und wer bin ich? Familiäre Erinnerungskultur wurde auf durchaus unterschiedliche Weise gelebt. Das Buch ist nicht nur ein Teil des eigenen Lebens, sondern es schafft eine Art Brücke innerhalb der Familiengeschichte.

Fast ein heiliger Raum?

Aber man schrieb die eigenen Familienangehörigen dadurch auch in den Raum des Buches ein, seinen Einband, seine Seiten, ganz nahe dran an der heiligen Schrift, dem Wort Gottes. Sofern man schreiben gelernt hatte. Das, was die Familie bewegte, sie vielleicht auch erschütterte, wurde einerseits dokumentiert, aber auch am Ort des Gotteswortes niedergelegt. Die Funktion geht also über den reinen Erinnerungsspeicher hinaus.

Unwillkürlich kommt einem vielleicht das himmlische "Buch des Lebens" in den Sinn, das in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen in den biblischen Texten genannt wird, wobei ein allgemeines Charakteristikum ist, dass Namen als Zeichen der Gottesgemeinschaft und des Glaubens eingetragen werden. Und wehe dem, dessen Name daraus getilgt wird. 

Personennamen sind bereits seit der Antike echte Vertretungsinstanzen. Sie stehen stellvertretend für den durch sie bezeichneten Menschen. Der Vorstellung nach kann daher durch die Kenntnis und den Gebrauch des Namens auch Einfluss über eine Person gewonnen werden kann. Das galt im Positiven wie im Negativen. Das Aufschreiben oder eben Nicht-Aufschreiben, das Vergessen-Machen eines Namens, war also ein wahrhaft existenzieller Faktor. In unserer Kulturgeschichte wirkt das lange nach. Ehrenmonumente, Grabmäler und andere "Textträger" geben davon beredte Kunde. Und Rumpelstilzchen im Märchen kann grausame Pläne schmieden, aber nur so lange gilt "… ach wie gut, dass niemand weiß… ". Sie erinnern sich vielleicht, wie es danach ausgeht.

Mehr als ein Name

Wir sind in einer Zeit, in der "Erinnerungsbilder", wenn man sie bezahlen konnte, gemalt wurden und nur für die Wohlhabendsten erschwinglich waren. Fotografie war noch nicht erfunden, dafür aber wurden beispielsweise Haarlocken von Familienangehörigen in Medaillons mit sich getragen.

Und heute? Vermutlich wird in diesen Bibeln heute nur noch selten gelesen. Zum einen gibt es neuere und eingängigere Übersetzungen, zum anderen stellt sicherlich die verwendete Fraktur-Schrift für das flüssige Lesen oftmals ein Hindernis dar. Geschweige denn, dass man noch etwas hineinschreiben würde. Die Bibel wirkt irgendwann eher museal. In ein Buch, das mehrere Jahrhunderte alt ist, schreibt sich nicht so leicht hinein. Auch, wenn man keinen Kugelschreiber, sondern den Tintenfüller für die besonderen Unterschriften und Glückwunschkarten verwendet. Da war man in früheren Zeiten, was etwa aktuelle Besitzvermerke in historischen Büchern betrifft, wohl weit weniger von Skrupeln beeinflusst. Das Buch, auch das alte, war damals vielleicht noch eher ein lebenslanger Besitz, für viele zudem ein Arbeitsinstrument, das es für sich zu markieren galt.

Ein solcher Wunsch nach einer "Familienchronik" wurde in späterer Zeit natürlich auch professionalisiert. In der Forschung spricht man auch von "biographischen Bibeln". Sie wurden und werden zu besonderen Begebenheiten im Leben verschenkt, etwa zur Konfirmation oder zur Hochzeit. So gab es die Traubibeln zur Eheschließung, in die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits der vorgefertigte Teil einer "Familienchronik" eingefügt wurde, die nur noch ausgefüllt und weiter gepflegt werden musste. Passender Bildschmuck bezog sich hier oft auf die Rolle der Eltern, der Kinder, der Paten und anderer, deren Namen und Daten hier eingetragen werden sollten.

Ein vielfältiger Begleiter: das Gesangbuch

Aber auch im 19. Jahrhundert war die Anschaffung einer Bibel noch kostspielig. Viele wählten daher eher ein anderes Buch, um ihre eigene Familienchronik zu führen, ihr Gesangbuch. Schauen Sie mal bei Gelegenheit in einige ältere Exemplare. Es diente nicht nur der Teilnahme am Gottesdienst, sondern vor allem auch der häuslichen Nutzung, der privaten Erbauungslektüre, der Lebenshilfe. Es war mit seinen Liedtexten, nach Themengebieten sortiert, nahe an den Menschen und ihrer Lebensrealität. Die gesungenen Lieder im Gottesdienst machten die frohe Botschaft für alle verständlich und einprägsam. Es wundert daher nicht, dass man auch Gesangbücher dazu verwendete, seine Familienchronik auf leeren Flächen im Buch einzutragen. Und das, obgleich auch immer mal wieder neue Fassungen eingeführt wurden. Teilweise wurde dann auch einfach dieser Umstand und Zeitpunkt zusätzlich handschriftlich vermerkt. 

Die persönliche Bedeutung dieser Bücher zeigen einem auch die in ihnen hinterlassenen Spuren, wenn man einmal genauer hinschaut. Zwischen den Seiten finden sich Reste von Trockenblumen, Postkarten, kleine Kärtchen mit Bibelsprüchen, Glanzbildchen, ausgeschnittene Todesanzeigen, neben all den kleinen Anstreichungen einzelner Passagen, den Eselsohren und vielleicht, hinten noch selbst eingeklebt, der Gottesdienstordnung der regionalen Kirche, um sich auch übermüdet beim Morgengottesdienst leichter zurechtzufinden. Der Einband ist abgegriffen, bei Leder irgendwann glänzend und glatt, wie ein Handschmeichler. Das Tragen, Anfassen, das Aufschlagen hinterlassen Spuren am Buchrücken. Vielleicht hat man ihn später einmal mit Gewebeband geklebt. Man trug das Gesangbuch sichtbar auf dem Weg zum Gottesdienst oder nach der Kirche. Aufwand und Schönheit des Einbandes waren dabei sicherlich auch Prestigeobjekt. Die heute bekannten großen Sätze von Gesangbüchern, die in der Kirche für den allgemeinen Gebrauch ausliegen, sind erst eine Entwicklung aus dem mittleren 20. Jahrhundert.

Alte Gesangbücher, bei denen die Verbindung mit den Familie der ehemaligen Besitzer verloren gegangen ist, werden heute oftmals auf dem Flohmarkt angeboten, man kann sie im Internet ersteigern oder in "Offenen Bücherschränken" finden. Ohne den persönlichen Bezug sind sie dann aber vor allem noch für Sammler interessant.

Auf dem Flohmarkt liegen Gesangbücher und auch ältere Bibeln heute oft in den großen braunen Pappkartons, nur selten, wenn sie einen besonders schönen Einband haben, schaffen sie es auf die Tapeziertische zu den anderen Dingen, die mehr Aufmerksamkeit erhalten. Ein anderer Fall sind die heute vielerorts aufgestellten "Offenen Bücherschränke". Ich persönlich stöbere da sehr gern, wenn ich mal an einem vorbeikomme. Auch hier findet man manchmal alte Bibeln oder Gesangbücher, oft in lädierten Zustand. Ihnen sind häufig die Vorsatzblätter herausgetrennt oder gar -gerissen, also gerade die Seiten, die meistens für persönliche Eintragungen verwendet wurden. Geschieht das vielleicht aus Pietät vor der eigenen Familiengeschichte? Oder ist das nur so etwas wie Datenschutz? Ich stelle mir dann am liebsten vor, dass diese Fragmente als familiäre Spuren vielleicht jemand bewusst aufbewahrt hat, sie vielleicht einfach in ein anderes Buch gelegt hat, das dieser Person etwas bedeutet.