"Mein Platz!": Kirchensitz und Ego

Loge in der St. Johannis-Kirche in Nieblum
Sebastian Watta
Blick in den Kirchenraum: Aufwändig bemalte Loge aus dem Jahr 1772 in der St. Johannis-Kirche in Nieblum auf Föhr. Wem sie gehörte, ist wohl unbekannt. Bekannt hingegen ist, was es mit diesen Logen auf sich hatte.
Evangelisches Zeug: Status als Ding
"Mein Platz!": Kirchensitz und Ego
Serie in fünf Folgen: Teil 2
Früher war genau geregelt, wer wo im Gottesdienst saß – vom einfachen Kirchenbankplatz bis zur prunkvollen Loge für Adelige. Manche Plätze waren so exklusiv, dass ihre Besitzer die Schlüssel hatten. Heute ist vieles davon vergessen. Kunsthistoriker Sebastian Watta erzählt von Kirchensitzen, sozialer Ordnung und Statussymbolen und was davon geblieben ist.

Was Dinge vom Glauben erzählen

Religion ist nicht nur etwas für den Kopf – sie zeigt sich auch in Dingen: in einem Gesangbuch, einem Abendmahlskelch, einer Kirchenbank. Solche Objekte erzählen Geschichten. Vom Glauben. Vom Alltag. Von dem, was Menschen bewegt hat – und heute noch bewegt. In der Serie "Evangelisches Zeug" geht es um genau solche Dinge. Um Alltagsobjekte und besondere Stücke, die etwas über evangelische Frömmigkeit und Kultur verraten. "Zeug" ist hier liebevoll gemeint – im Sinne von "Gegenstand", "Gerät", "Begleiter". Neugierig geworden? Dann gehen Sie mit Kunsthistoriker Sebastian Watta auf Entdeckungstour – durch Kirchen, Museen oder einfach im Alltag. Es gibt viel zu sehen und einiges neu zu entdecken.

Vielleicht kennen Sie die Situation auch? Sie besuchen einen sonntäglichen Gottesdienst in einer Ihnen fremden Kirche und haben sich gerade auf einer der Bänke oder Stühle im Kirchenraum niedergelassen, da spricht sie jemand an. Eigentlich, so teilt ihnen die Person mit, sei das ja immer "ihr Platz", der Gewohnheit nach, aus praktischen oder anderen nachvollziehbaren Gründen. Vielleicht haben Sie sich reflexartig zur Lehne des Möbels umgeschaut, ob es da vielleicht ein Namensschild gäbe, geben müsste. Natürlich nicht, aber ebenso selbstverständlich geben Sie den Platz frei, rutschen auf oder verkrümeln sich nach hinten.

Derartige Markierungen und Vorstellungen von einem Ordnungssystem der sitzenden Gottesdienstteilnehmenden hat es in früheren Zeiten durchaus gegeben. Aber sie bringen, wenn man heute auf sie stößt, nicht mehr unbedingt Klarheit.

Im Urlaub waren wir in Nieblum auf Föhr. In der dortigen sehr sehenswerten St. Johannis-Kirche, dem "Friesendom", gibt es nicht nur die allgemein bekannten Kirchenbänke, es gibt auch Logen. Die aufwändigste ist in eine Nische der Südwand eingebaut, hoch oben über dem Kirchenschiff und zugänglich von der Orgelempore. Sie ist zweigeschossig und mit barocken Malereien geschmückt, außen und innen bis hin zur Decke. Ein großes Medaillon enthält die Initialen E. R. und die Jahreszahl 1772. Zwei Jahrzehnte später fügte man einen Holzaufsatz mit weiteren Namenskürzeln und der Jahreszahl 1791 hinzu. Ich versuchte in Kirchenführern und Denkmalverzeichnissen herauszufinden, wer diesen hoch über allen schwebenden Sitz hatte bauen lassen, und wurde enttäuscht. Offenbar scheint es unbekannt zu sein, da sich die Initialen nicht mehr auflösen lassen. Wissen, das den Zeitgenossen selbstverständlich war, kann verloren gehen. Man sieht: Großer Aufwand sichert nicht immer die Erinnerung. 

Logen für die oberen Zehntausend

Doch was sind das eigentlich für Luxussitze? Es gibt viele Formen und "Herrschaftslogen" werden sie manchmal als neutraler Überbegriff genannt. Manche waren den zumeist adligen Familien und Kirchenpatronen vorbehalten, die beispielsweise Baugrund zur Verfügung gestellt hatten. In Norddeutschland wurden sie oft "Prieche" genannte, was aber auch die gesamte Empore meinen konnte. In jedem Fall waren sie Aufenthaltsort von Honoratioren, adlig oder nicht, und besonders aufwändig gebaut und ausgestattet, wofür die Besitzer aber selbst aufkamen.

Sie boten auch Schutz vor Kälte und Zugluft, manche waren mit Öfen versehen. In kalten Kirchenräumen und in einer Zeit vor der modernen Medizin konnten das wichtige Faktoren sein. Einige waren von außen zugänglich und abschließbar und blieben im Besitz einer Familie. In den Kirchenraum blickte man oftmals durch hölzerne Gitter oder auch Butzenscheiben. Diese Fenster ließen sich natürlich für den Gottesdienst öffnen. Man konnte sich hier aber wohl auch etwas unterhalten, während auf den "billigeren Plätzen" auf den normalen Kirchenbänken sicherlich eine größere Ruhe zu herrschen hatte.

Auf die Spitze getrieben wurde die Gattung der von außen zugänglichen "Fürstenloge" zum Beispiel in der Erlöserkirche im hessischen Bad Homburg. Für Kaiser Wilhelm II. und seine Gattin Auguste Viktoria war im Inneren des von ihnen geförderten Kirchenbaus mit seinen Goldmosaiken nicht nur eine Loge schräg oberhalb des Altarbereichs vorgesehen. Als äußeren Zugang entwarf man das "Kaiserportal" mit Skulpturenschmuck, Treppenanlage und eigener kleiner Vorhalle. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, baute man noch eine neue Tür in die Mauer zum Schlossgarten ein, damit das Paar nach Wunsch auf direktem Weg in Richtung seiner Loge flanieren konnte.

Durch das Kaiserportal der Erlöserkirche in Bad Homburg, erbaut 1903-1908, gelangte das Kaiserpaar direkt in seine Loge.

Doch auch abseits der "Logenplätze" war es in früheren Jahrhunderten klar geregelt, wer sich wo im Kirchenraum während des Gottesdienstes aufhielt. Spuren dieser Regelungen gibt es viele, in Schriftquellen, wie "Stuhlordnungen" oder "-registern", in "Mietverzeichnissen" für den eigenen Platz in der Kirche, aber vor allem an den noch erhaltenen Einbauten selbst, die gar nicht mehr zahlreich sind. Es sind eher Glücksfälle, wo sie sich noch erhalten haben, und das Gesagte nachvollziehbar machen. Einrichtungen dieser Art wurden vor allem im 20. Jahrhundert abgeräumt, da sie der Vorstellung von demokratischer Gleichheit nicht mehr entsprachen. 

Maßnahmen gegen Wildwuchs

Festes Gestühl im Kirchenraum, als aufwändigere Schreiner- und Schnitzarbeit oder auch sehr einfach, je nach Möglichkeiten, wurde in nachreformatorischer Zeit immer weiter optimiert. Eine parallele Entwicklung gab es aber auch in katholischen Bauten. Teilweise sind die Ansätze dazu bereits älter, und zwar um etwas gegen einen gewissen Wildwuchs mobiler Sitz- und Lagermöglichkeiten zu tun. 

In mittelalterlichen Kirchen waren feste Sitzplätze, etwa in Form des Chorgestühls, vor allem für die Kleriker oder für besondere weltliche Amts- und Würdenträger vorhanden. Die anwesende Gemeinde verfolgte den Gottesdienst wohl oft stehend oder von selbst aufgestellten Sitzen oder Bänken an den Außenmauern aus. Das konnte zu Durcheinander führen. 

Sicherlich gab es bei dieser abwechslungsreichen Entwicklung einen gewissen Zusammenhang mit dem Status der Predigt im evangelischen Ritus und ihrer Dauer, wodurch eine bequemere Form des Zuhörens nötig wurde. Aber dieser Faktor war es nicht allein. Es ging auch und gerade um die Selbstdarstellung vor den Zeitgenossen, um die sozialen Unterschiede und die Aufrechterhaltung der Ordnung im Kirchenbau.

Es brauchte vor allem mehr Platz. In den Föhrer wie auch vielen Kirchen andernorts wurden in den Jahrhunderten nach der Reformation nach und nach die bestehenden Sitzplätze durch Emporen erweitert, um eine wachsende Zahl von Gottesdienstteilnehmenden aufzunehmen.

Ein Anbau eines weiteren Kirchenschiffs mit Empore und zusätzlichem Gestühl in der St. Nicolai-Kirche in Boldixum auf Föhr wurde um 1700 nötig.

Man kann es sich heute kaum vorstellen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in der St. Johannis-Kirche in Nieblum über 1000 Sitzplätze vorhanden. Sie waren aufgeteilt in Privat-, Kirchen- oder Kirchenbedienstetenbesitz, außerdem in Plätze 1., 2. und 3. Klasse. Sie stellten Vermögenswerte dar, die auch verkauft werden konnten. Was uns heute vielleicht überrascht: Unklarheiten der Besitzansprüche über diese "Kirchenstände" brachten oft erbitterte juristische Streitigkeiten. Eine regionale Sage erzählt sogar, dass bei einem solchen Streit einer der beiden Kontrahenten auf das Wohl seiner Familie schwor und dennoch log. Man kann sich vorstellen, dass das für seine Lieben übel ausging. 

Pachtveranstaltung als Party

Die Plätze, die der Kirche gehörten, wurden bis etwa 1900 jährlich im Dezember beim "Steedengriepen" per Los vergeben und dann von den Nutzenden gepachtet, ein Einkommen für die Gemeinde in Nieblum. All das fand in einer Gastwirtschaft statt und war mit einem großen Tanzvergnügen verbunden. 

Auch andernorts war es in evangelischen Gemeinden gang und gäbe, dass man Sitzplätze in der Kirche mieten konnte beziehungsweise musste. Für diese kirchliche Einnahmequelle gab es einen Gestühlplan und ein Zahlungsvezeichnis, das jemand zu führen hatte, etwa eine manchmal genannte "Stuhl-/Gestühl-Frau". 

Wer wo in der Kirche saß, richtete sich nach diversen Faktoren: nach dem Geschlecht, nach dem Alter, nach dem gesellschaftlichen Rang, nach dem Vermögen oder dem Beruf. Regional konnte es durchaus unterschiedliche Regelungen geben. Amtsstühle gab es als besonders herausgehobene Sitze für weltliche oder kirchliche Amtsträger oder auch einzelne Berufsgruppen. 

Kirche ist Bühne einer Gesellschaft

Die Kirche Gottes besteht aus den Gläubigen, damit aus der Gesellschaft. Die Ordnung im Kirchenraum war daher auch in früheren Zeiten auf diese Gesellschaft abgestimmt. Man hinterfragte das nicht, da es mit zentralen Vorstellungen des Angemessenen zu tun hatte. Sitzordnungen und Kirchengestühl machten die sozialen Unterschiede für alle sichtbar. Sie waren ein Abbild der Ordnung. Sie schufen sie nicht, aber sie stabilisierten sie auf eine Weise.

Der Sitzplatz war wichtiger Verweis darauf, dass man "jemand war". Diese Annehmlichkeiten waren nicht nur möglich, da Stand und Vermögen sie erlaubten, sondern sie waren viel eher notwendig, um Stand und Vermögen zu zeigen, um "stattzufinden" würde man vielleicht heute sagen. Unsere heutigen modernen Vorstellungen, die Bescheidenheit im Auftreten manchmal auch schätzen, kann man damit kaum verbinden.

Und wem gehört der Platz nun? Wenn es eine feste Ordnung gab, musste diese auch markiert werden. Neben den Logen, zu denen die Besitzer im wahrsten Sinne des Wortes allein den Schlüssel in der Tasche hatten, gab es auch Namensinschriften oder Wappenschilde, teilweise mit Jahreszahlen. Am einfachsten war die Nummernmarkierung, die den gemieteten Platz anzeigte. 

Diese Kirchenstuhlschilder konnten auch aufwändig farbig gestaltet sein, sie bestanden aus graviertem oder bemaltem Metall mit Namenskürzeln, Jahreszahlen und den Wappen der Familie oder beider Partner. Eine kleine Sammlung aus den Nürnberger Kirchen gibt es im dortigen Germanischen Nationalmuseum https://objektkatalog.gnm.de/wisski/navigate/40655/view zu sehen. 

Bankkissen und Öfchen für die Füße

Diese "eigenen" Bänke konnte man sich auch besonders einrichten, wie mit bestickten Polstern oder Kissen. Bestimmte Bänke waren auch besonders opulent geschnitzt oder von größeren Dimensionen, so dass es sich bequemer saß. Manche Gottesdienstbesucher brachten einen kleinen tragbaren Ofen, "Stövchen" oder "Feuerkieke", zum Wärmen der Füße in den kalten Kirchen mit. Doch es war Vorsicht geboten. Eine regionale Überlieferung berichtet, dass der Organist der Cappeler Kirche 1810 mit einer vergessenen Feuerkieke einen Großbrand auslöste.

Man könnte denken, dass uns das heute ja nicht mehr betrifft. Aber wir leben in einer Zeit, die vielleicht stärker als jemals zuvor mit Hilfe neuer Medien Statussymbole feiert und Menschen dazu bewegen will, sich darüber zu definieren. Das zeigt, dass es sie lohnt, zu beachten, wie Dinge immer dazu verwendet werden können, soziale Ungleichheit zu betonen. 

Wenn ich dann in einem unserer "demokratisch eingerichteten" Kirchenräume mit Einheitsbestuhlung und ohne deutliche Statusmarkierung sitze und über das eben Geschilderte nachdenke, dann kann ich beim nächsten Mal umso leichter gern einer Person, die mich daraufhin anspricht, ihren Platz überlassen, auf dem sie "immer schon saß".