Schamlos gläubig

Schamlos gläubig
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Letzte Woche erschien das neue Buch der bekannten US-Pastorin und Queer-Ikone Nadia Bolz-Weber in der deutschen Übersetzung. Katharina Payk bespricht „Unverschämt schamlos“ aus queer-feministischer Perspektive.

Die lutherische Pastorin Nadia Bolz-Weber, bekannt durch ihre reformatorische "Outsider"-Theologie und -Gemeindepraxis, hat ein neues Buch veröffentlicht, das sich explizit an alle richtet, die Schaden genommen haben an einer toxischen kirchlichen Lehre über Sex und den eigenen Umgang mit dem Körper, ebenso wie an alle, "die sich vom Christentum abgewandt haben, aber insgeheim doch noch an Jesus hängen". An alle, die sich schon einmal wegen ihrer Sexualität geschämt haben.

Das Buch, das Anfang des Jahres in der englischen Originalfassung erschien (1) und nun im Handel in der deutschen Übersetzung erhältlich ist, erzählt u. a. von Menschen, die erst spät von einer befreiten Sexualität erfahren, die Gott nahe sein wollen und sich dabei selbst verletzen, die um Anerkennung ringen und Selbstliebe lernen wollen. Zumeist sind es Menschen aus konservativ-evangelikalen Kreisen, die sich von deren toxischen Lehren über Gott emanzipieren – und aus dem christlichen Glauben und der kirchlichen Gemeinschaft dennoch Kraft schöpfen, indem sie neue Zugänge kennenlernen. In ihrer ehemaligen Gemeinde, dem "House for All Sinners and Saints", das sie 2008 in Denver gegründet hat, versammelte Bolz-Weber viele LGBTI, "Freaks" und "Misfits" – Menschen, die nicht hineinpassen in eine Welt voller Normen und Ideale. Solche Menschen – heterosexuelle wie queere Menschen, cis und trans Personen –, kommen in ihrem Buch vor. Bolz-Weber berührt mit den Geschichten viele verschiedene Themen: Sexualität, Schwangerschaftsabbruch, Liebe, Rassismus, Ausgrenzung und Sucht etwa. Auch eigene Erfahrungen offenbart sie. Dabei macht sie Bibelstellen fruchtbar für ein gerechtes Miteinander, und zwar konsequent gegen rassistische, LGBTIQ-feindliche Ausschlüsse und Sexnegativität.

Aktivismus

Bolz-Weber predigt und schreibt nicht nur. Sie interveniert auch aktivistisch in Politiken und Praktiken, die marginalisierte Menschen diskriminieren, zum Beispiel intergeschlechtliche, trans oder nonbinäre. So überklebte sie in der Woche, als der oft androgyn auftretende Popsänger Prince gestorben war und gleichzeitig das Parlament des Staates North Carolina das sogenannte Toilettengesetz (2) beschlossen hatte, Toilettenschilder am Flughafen in Charlotte für "Herren" und "Damen" als Protest mit dem lilafarbenen Prince-Symbol. "Anschließend ging ich in die Kirche", berichtet Bolz-Weber nüchtern.

Rein oder Heilig

Aus dem US-amerikanischen Kontext heraus, wo viele Kirchen strenge Verhaltensregeln etwa für Körper und Sexualität predigen, beleuchtet sie die Themen Reinheit und Heiligkeit aus einer lebensnahen Perspektive. Heiligkeit sei nichts, was man sich "verdienen" oder was man selbst hervorbringen könne. Stattdessen existiere Heiligkeit "in solchen Momenten, in denen wir gelöst sind von unsrem Ego und dennoch fest verbunden mit unserem Selbst und etwas anderem." Sie sei das Gegenteil davon, "unsere Aufmerksamkeit von dem unvermeidlichen, verstörenden Alleinsein abzulenken" – z. B. mit Essen, Amüsement, Sex – sondern "ein Zustand und Gefühl der Einheit". Und weiter erklärt sie: "Wenn wir uns mit dem Heiligen verbinden, finden wir Zugang zum innersten Teil unseres Geistes. Vielleicht ist das der Grund, warum wir so viele Mauern, Schutzzäune und Regeln sowohl um den Sex als auch um die Religion gebaut haben. Beides sind Dinge, die so viel von uns selbst bloßlegen, was dann entweder verletzt oder geheilt werden kann. Nur wenn die Mauern, Schutzzäune und Regeln wichtiger werden als das Heilige, das sie schützen sollen, dann führt das zu Verlusten." Um Reinheit könne man sich bemühen, aber sie sei nie dasselbe wie Heiligkeit. Aber es sei leichter zu definieren, was rein ist, als zu definieren, was heilig ist.

Körper-, Sex und Frauenfeindlichkeit

Bolz-Weber entlarvt die Doppelmoral der US-amerikanischen Gesellschaft, in der einerseits junge Menschen – vor allem Frauen – sich christlichen Gruppen anschließen, die gebieten, keinen Sex vor der Ehe zu haben, weil das rein sei und man dadurch "heil" bleibe, und in der andererseits Sex Marktwert und Geld symbolisieren. Sowohl Kirche als auch die westliche kapitalistische Gesellschaft können Sex "kaputt" machen, so die mittlerweile fünfzigjährige Bolz-Weber, die selbst in einer zutiefst fundamentalistischen christlichen Gemeinde sozialisiert wurde. So musste sie dort in ihrer Jugend noch biedere Benimm- und "Schönheits"kurse für Mädchen absolvieren, deren Grundlage ein frauenfeindliches Menschenbild inklusive Slutshaming und Victimblaming bildeten. Bolz-Weber ist trotzdem oder gerade deshalb Feministin geworden. Sie schreibt offen über ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen durch Männer seit ihrer Kindheit und liefert damit wie so viele Frauen ihren Beitrag zur #MeToo-"Apokalypse", wie sie es nennt. Zu dem selbstgewählten Begriff erklärt sie: "Das griechische Wort Apokalypse bedeutet "aufdecken, abschälen, zeigen, was darunter ist". #MeToo ist für sie eine Art "kulturelle Bloßstellung", die männliche Herrschaftsbehauptung und Kontrollsucht – Gewalt – aufdeckt und sichtbar macht.

Auch hier, in Deutschland etwa, haben Evangelikale vermehrten Zulauf, und auch manche evangelische Kirche ist hierzulande eher rückwärtsgewandt bzw. ausschließend gegenüber LGBTI etwa. Viele Menschen aber, die hier in Landeskirchen sozialisiert sind, werden andere, zumeist positivere Erfahrungen im Umgang mit Sexualität gemacht haben als in dem Buch beschriebene. Der starke moralisierende Einfluss durch lutherische Christ_innen in den USA fällt auf. Die im Buch angesprochene evangelikale Reinheitsbewegung tritt aber auch in Deutschland in Erscheinung, beispielsweise in Form der sogenannten Christfluencer: jugendliche christliche Influencer, die über YouTube-Channels ihre vermeintlich biblischen Botschaften zu Enthaltsamkeit und Pornografieverteufelung verbreiten wollen. Auch hier gibt es also noch und wieder fundamentalistische körper- und sexualitätsfeindliche Denkweisen.

Moneypulation

Auch über Geld und Scham schreibt Bolz-Weber. Sie kritisiert "Holzhammerpredigten", die moralinsauer und manipulativ den Gemeindemitgliedern etwa das Geld aus der Tasche ziehen und dabei die Angst, von Gott bestraft zu werden, benutzen. "Wir neigen zu solchen Manipulationen, weil oft Geld ein Thema ist, das uns Angst einjagt. Angst, dass wir nicht genug davon haben, Angst, dass wir nie genug ansparen können, um den Ruhestand ohne Sorgen und Mühen zu genießen, Angst, dass unsere Ersparnisse durch eine einzige Krise dahin sein könnten. Aber Geld ist auch ein Thema, das Scham auslöst: Scham darüber, arm zu sein; Scham darüber, reich zu sein; Scham darüber, wie wenig wir für gute Zwecke spenden; Scham darüber, wie viel wir für Kaffee ausgeben; Scham über die hohen Schulden, die wir haben. Je mehr Angst und Scham wir mit einer Sache verbinden, desto leichter sind wir zu manipulieren ..."

Der essayistische Predigtstil der evangelisch-lutherischen Pastorin ist gut zu lesen: verständlich und mitten aus dem Leben geschrieben – immer mit einer Prise Humor, wie man es von Nadia Bolz-Weber, die einst als Comedian auftrat, kennt. Allein ein paar Begriffe (z. B. "Gemeindetranse" oder "Geisteskrankheit") sind unsensibel formuliert, was möglicherweise aber an der deutschen Übersetzung liegt – das wäre zu prüfen.

Anders, aber nicht besonders

Das Buch ist für alle, die mit einer rigiden kirchlichen Sexualmoral aufwachsen mussten oder noch immer damit kämpfen. Für Menschen, die in ihren Kirchen gegen homo- und transfeindliche Überzeugungen ankämpfen oder die sich als nicht monogam Lebende oder sonstwie "anders" L(i)ebende in ihren Kirchen nicht willkommen fühlen. Bolz-Weber erklärt dazu klipp und klar: "Für Gott ist jeder anders, aber niemand ist besonders. Du bist niemand Besonderes, weil du straight bist. Oder schwul. Oder ein Mann. Oder cisgender. Oder trans. Oder asexuell. Oder verheiratet. Oder ein Sexprotz. Oder eine Jungfrau. Wir alle haben denselben Gott, der in uns dasselbe Ebenbild angelegt und uns unvollkommenen Menschen so überwältigende Dinge anvertraut hat wie Sexualität, Kreativität und die Fähigkeit, als Individuen zu lieben und geliebt zu werden, wie wir sind. Die Kirche mag ein Karussellbewässerungssystem aufstellen für all diejenigen in dem kleinen Kreis, aber Gott versorgt mit Regen. Wir haben diesen Regen nicht verdient und wir können ihn nicht steuern. Wir entscheiden nicht, wo es regnet oder wie viel. Dieser Scheiß ist umsonst."

"Unverschämt schamlos" (Orginaltitel: Shameless) ist wohl das bisher intimste Buch von Bestseller-Autorin Nadia Bolz-Weber, denn sie lässt die Leser_innen an ihren ganz persönlichen Emotionen und Erfahrungen teilhaben. Vielleicht gibt es für erfahrene, kritische queere Christ_innen nicht unbedingt viele neue Erkenntnisse in Nadia Bolz-Webers aktuellem Werk. Aber die kreativen wie klugen Rückkopplungen der politisch-aktivistischen Themen mit den passenden Bibelstellen sind anregend für die eigene Predigtarbeit oder die eigene Glaubenspraxis. Es ist ein philosophisches wie radikales Werk, eine zugleich charmant-schnoddrige und anklagende wie liebevolle Lektüre.

Sie lädt alle, die nie so ganz hineinpassen (wollen) in die Kategorien und Kästchen, ein, sich mit dem christlichen Glauben (wieder) wohlzufühlen. Und für die Zweifelnden: Nach der Lektüre weiß man wieder oder einmal mehr, warum man Christ_in und gerne Mitglied einer Kirche ist und wie man diese zeitgemäß, inklusiv und interessant gestalten kann.

Nadia Bolz-Weber: Unverschämt schamlos. Mein Plädoyer für eine sexuelle Reformation. Aus dem Amerikanischen von Christian Rendel, Brendow 2019, 16 Euro

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(1) evangelisch.de berichtete bereits zur Veröffentlichung der Originalfassung.

(2) Das Gesetz zwingt jede Person die Toilette des Geschlechts zu benutzen, das im Führerschein eingetragen ist.

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