In letzter Zeit wird in meiner Bubble auf Veranstaltungen viel über „Queer Joy“, queere Freude, gesprochen. Einige betonen sie, um deutlich zu machen, dass queere Personen nicht nur Opfer von Hasskriminalität und Diskriminierung sind, sondern dass sie auch fröhliche Lebenskünstler:innen sind und ihr Leben trotz allen Anfechtungen genießen und Spaß haben.
Andere verweisen auf die reiche und diverse queere Veranstaltungskultur von Partys über politische CSD-Paraden bis hin zu Drag Shows, queere Spoken-Word-Veranstaltungen, Filme, Tanzshows, Lesungen, queerfreundliche Gottesdienste und vieles mehr. Queere Perspektiven sind nicht nur divers, provokant und kritisch, sondern auch humorvoll, klug und lebensfroh.
Für mich persönlich gehören „Queer Joy“ und „Queer Grief", queere Trauer, untrennbar zusammen. Denn lebensoffen und fröhlich zu sein, bedeutet für mich gleichzeitig auch, sensibel zu sein für Unrecht und tiefe Trauer spüren zu können: Trauer um Menschen aus queeren Communitys, die im öffentlichen Raum angepöbelt oder beleidigt werden oder mit queerfeindlichen Äußerungen und Übergriffen verletzt werden.
Queere Trauer geht unter die Haut und raubt mir die Luft zum Atmen überall dort, wo Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität oder weil sie irgendwie anders sind zusammengeschlagen oder sogar ermordet werden. So wie die Menschen, die sich in der queeren Bar „Pulse“ in Orlando am 12. Juni 2016 sicher gefühlt und mit Freund:innen voller „Queer Joy“ gefeiert haben. Bis ein einzelner Täter 49 Menschen erschossen hat, 53 wurden zum Teil schwer verletzt. Es war ein queerfeindlicher Gewaltakt, der die gesamte queere Community weltweit erschüttert hat.
Am 25. Juni 2022 wurden in einem queeren Nachtclub "London Pub" in Oslo zwei Menschen ermordet und viele andere verletzt. Auch das war eine queerfeindliche Tat an einem Ort, an dem sich queere Menschen eigentlich sicher, fröhlich und zu Hause fühlen. Die Community & Friends hatten gefeiert, bis die Schüsse kamen. Der Schock und die Trauer sitzen bis heute tief. An vielen queerfreundlichen Orten wird seitdem verstärkt mit Sicherheitspersonal gearbeitet, auch auf CSD-Paraden ist Sicherheit angesichts von rechtsradikalen Übergriffen im In- und Ausland ein riesiges Thema. „Queer Joy“ und „Queer Grief“ liegen ganz dicht beieinander.
„Queer Joy“ und „Queer Grief“ sind auch immer dann ganz nah, wenn eine queere Person stirbt. Seit dem Tod von Spoken-Word-Künstler:in Andrea Gibson am 14. Juli 2025 trauere ich um diese bemerkenswerte Person. Gleichzeitig bin ich dankbar für Gibson´s Texte und Spoken-Word-Beiträge, die nicht nur in den USA gehört werden.
Andrea Gibson war eine non-binäre Person, die die letzten zwanzig Jahre professionelle Spoken-Word-Künstler:in war. Gibson wurde 1975 im US-amerikanischen Calais/Maine geboren und wuchs in einem streng baptistischen und religiös konservativen Umfeld auf. Gibson studierte Englisch und war bis 2005 Lehrer:in in einer Montessori Schule und lebte in Boulder/Colorado. Gibson bezeichnete sich zunächst als bisexuell, später als non-binär und gender-queer. Aus dem engen und religiös konservativen Umfeld kämpfte sich Gibson heraus und lebte mit der Dichterin Megan Falley zusammen. Seit 2022 waren sie verlobt und heirateten später.
2021 wurde bei Andrea Eierstockkrebs diagnostiziert. Seitdem bekämpfte Gibson den Krebs, die Krankheit galt aber als nicht heilbar. Gibson hat mit Hilfe von Poetry und Spoken Word-Kunst zu den Themen Krankheit und Hoffnung, Gendernormen und Depression, LGBTIQ und Anderssein, Liebe und Tod geschrieben, gesprochen und performt. Am 14. Juli 2025 starb Gibson an Krebs.
Zu Andrea Gibsons Erinnerung und Würdigung zitiere ich Gibson´s Spoken-Word-Performance mit dem Titel „Orlando“ aus dem Jahr 2018, den Gibson anlässlich des Attentats auf die queere Bar in Orlando geschrieben und performt hat. Der Beitrag kann hier im Original nachgehört werden. Für mich ist es ein gelungenes poetisches Beispiel, wie schmerzhaft dicht „Queer Joy“ und „Queer Grief“ zusammen gehören.
Andrea Gibson: Rest in Peace and Power!
Orlando
Als die ersten Einsatzkräfte nach dem Massaker den Pulse Nachtklub
in Orlando betraten, gingen sie durch das grauenerregende Szenario
aus Körpern und riefen, "Wenn Ihr am Leben seid, hebt Eure Hand."
Ich war um diese Zeit am Schlafen in einem Hotel im Mittleren Westen,
aber ich stelle mir vor, dass in genau diesem Moment
meine Hand im Schlaf gezuckt hat,
irgendein ohnmächtiger Teil von mir bewusst,
dass ich einen Puls hatte, dass ich am Leben war.
Am nächsten Tag wachte ich zu den Nachrichten auf,
dass ein Sturmgewehr 220 Kugeln durch eine Schwulenbar gefeuert hatte,
bei einer Latino-Nacht, in einem der schlimmsten Massaker in der Geschichte der Vereinigten Staaten --
Ein Massaker an Leuten, die die Tanzfläche nicht verließen,
als sie Schüsse hörten, weil sie dachten,
es wären nur die Beats eines Liedes.
Jeder um mich herum verbrachte den Tag in Trauer
und jede Träne war der im Leichenschauhaus trocknende
Tanzschweiß von jemandem.
Später an diesem Abend trat ich vor einem Publikum auf,
das zwei Stunden lang angestanden hatte,
darauf wartend, durch die Metalldetektoren zu kommen.
Ich konnte meine Hand nicht davon abhalten, mein Herz zu bedecken.
Ich schaute mich immer wieder in dem Klub nach dem kürzesten Weg zu jedem Ausgang um.
Ich wusste, dass die Person, die Sicherheitsdienst machte,
in einem SMS-Krieg war und ihre Augen nicht auf die Tür gerichtet hatte,
Alle paar Sekunden spähte ich zur Empore,
nach dem Aufblitzen von was auch immer danach zielen könnte,
die Körper von den Seelen zu trennen,
der Jungs, die Händchen hielten
oder der Mädchen, deren Haarschnitte so kurz waren
wie mein Geduldsfaden, wenn die Wut ein Dezibel ist,
zu der ich sogar hinkommen kann, wenn ich nicht einfach nur
krank vor Trauer und am Boden zerstört bin,
der Geschichte zuschauend, wie sie keine Geschichte ist,
der Musik zuschauend, wie sie keine Musik ist,
wissend, dass jemand, die die beste Nacht ihres ganzen Lebens hatte, sagte,
"Das ist mein Lieblingslied",
und dann ein Gewehr über eine Toilettenabtrennung gehoben wurde
und das Magazin sich leerte, in die Nieren
eines erwachsenen Mannes, der eine SMS schrieb, "Mama, ich werde sterben",
seine blutigen Handabdrücke an den Wänden,
nach Leuten reichend, die in Fötusstellung starben,
Leute, die vom Blut ihrer Freunde bedeckt waren,
zu hart schluchzend um sich vor ihrem eigenen Tod zu verbergen,
während draußen Leute Bandanas in Schusswunden drückten.
Es ist wahr, was sie über die Schwulen sagen,
dass sie so modebewusst sind, ihre Geister, sie sind nie stillos,
selbst das Leben, es ist wie die Probe zu einer Beerdigung,
die Hälfte von uns bereits tot für unsere Familien bevor wir sterben,
die Hälfte von uns immer noch auf Knien,
beim Versuch, in das Familienfoto zu kriechen.
An diesem Abend auf der Bühne erinnerte ich mich immer wieder daran,
wie ich mit fünfzehn in Disneyland war,
den Kapuzenpulli meiner besten Freundin tragend,
als wäre es der Schulring meines festen Freundes.
Wie viele Jahre hatte es gedauert, bis ich mich traute, einfach nur ihr Gesicht zu berühren,
wie viele Jahre hatte ich damit verbracht, zu beten, dass mein Herz sich totstellen könnte,
bis die Gefahr vorüber war,
bis die Welt sich geändert hatte,
bis die Geschichte Geschichte war,
aber die Geschichte, sie kommt immer wieder
nach dem Hoch, sie schießt immer wieder Körper zusammen,
sie trommelt immer wieder Gründe zusammen,
um Metalldetektoren bei Gedichtlesungen zu haben,
wo die Gedichte nur wie unbeantwortete Rufe sind
zu Leuten, die behaupten ihr Gott -- oder ihre Apathie
sind nicht Willens, die Anklage zu akzeptieren.
Lieber Gott, wie pleite musst du sein,
um nicht den Leuten Zeit zu kaufen, um zur Tür hinauszukommen,
wenn das Lied zur verdammten Hölle wird?
Wenn diese Welt, trunken von Hass,
beschließt, dass Blut Wein ist und ihren Teil trinkt,
am einzigen Ort, den sie jemals für sicher hielten?
Am einzigen Ort, wo sie dachten, sie müssten sich nicht verstecken?
Am einzigen Ort, wo sie erwünscht waren
Weil, weil sie liebten, wen sie liebten,
und wie sie liebten.
Und wie sie liebten,
bis jemand durch ihre Körper ging
und fragte, wer noch am Leben war,
und kaum jemand
die Hand hob.
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