Mit Hilfe von Interviews mit evangelischen Pfarrer:innen aus Ost- und Westdeutschland untersucht Florence Häneke erstmals die komplexen Zusammenhänge von queeren Identitäten und dem evangelischen Pfarramt.
Damit trägt sie einen zentralen Schlüsselfaktor in die Diskussionen um die Anschlussfähigkeit der Kirchen in eine plurale Gesellschaft ein. Es ist die kontroverse Frage nach dem Umgang mit sexueller Orientierung und diverser Geschlechtsidentität für ein zukunftsfähiges Amtsverständnis.
Häneke hat zwölf Pfarrpersonen im Zeitraum von 2015 bis 2018 interviewt. Die Pfarrpersonen sind in der Zeit teilweise erst ganz kurz oder schon sehr lange im Pfarramt. Einige arbeiten im Gemeindepfarramt, andere in so genannten Funktionspfarrämtern wie der Krankenhausseelsorge. Die Pfarrpersonen kommen aus Ost- und Westdeutschland, gehören unterschiedlichen Generationen an und haben ganz verschiedene Erfahrungen mit ihrer queeren Identität in der Kirche gemacht.
Trotz aller Unterschiede gibt es auch Gemeinsamkeiten. Beispielsweise wird das eigene Coming-out in der kirchlichen Öffentlichkeit und der Umgang mit dem Spagat zwischen der privaten und kirchenöffentlichen Welt aus unterschiedlichen Gründen als konflikthaft und schwierig erlebt.
Häneke hat narrative teil-biografische Interviews zum Thema queere und pastorale Identität geführt. Die Interviews sind alleine und in kollektiven Verfahren codiert und mit Hilfe der „Grounded Theory“ kategorisiert worden. Häneke hat auf der Grundlage der Auswertung der Interviews die inhaltlichen Kategorien „Coming-out“, „Motivation zur Berufsergreifung“ und „Sexualität“ erstellt, aus denen sich die beiden Kernkategorien „Anerkennung“ und „Zwei Welten“ (zwischen Queersein und Pfarramt) für die weitere Bearbeitung herauskristallisiert haben.
Bevor Häneke die empirische Studie und ihre Ergebnisse vorstellt, führt sie in die relevanten Themen der professionstheoretischen und pastoraltheologischen Forschungslandschaft ein. Ebenso diskutiert sie zentrale Positionen rund um den Spagat zwischen Amt und Person der Pfarrpersonen. Da geht es beispielsweise um Rollenvielfalt, Erwartungen an Pfarrpersonen im Vergleich zu eigenen Erwartungen und um die öffentliche Wahrnehmung des Lebens im Pfarrhaus.
Dies sind alles Themen, die auch ohne das Thema Queersein kontrovers und vielfältig betrachtet werden. Die Dimension der queeren Identitäten erhöht die Komplexität und Vielschichtigkeit in der Diskussion.
Das Thema der Studie erfordert es, dass Häneke sich mit Ansätzen queerer Theologien auseinandersetzt. Außerdem ordnet sie die jahrzehntelangen Debatten um die Stellung queerer Personen in den evangelischen Kirchen in Deutschland insgesamt historisch und theologisch ein.
Das Herzstück der Arbeit ist die empirische Studie. Zunächst führt Häneke ein in die Methodologie der „Grounded Theorie". Anschließend erläutert sie ihre Entscheidung für narrative teil-biografische Interviews und wie sie diese mit Hilfe von thematischen Kategorien auswertet. Häneke betont, dass es sich bei dieser Untersuchung nicht um eine repräsentative Studie handelt. Gleichwohl erhebt sie mit Recht den Anspruch, dass anhand von intensiv ausgewerteten und kontextuell eingeordneten biografischen Einzelbeispielen in Auseinandersetzung mit der Literatur über die Personen hinaus führende Erkenntnisse generiert werden können.
Einige Erkenntnisse:
Bei allen Unterschieden erzählen die Befragten einhellig, dass ein öffentliches queeres Coming-out im kirchlichen Kontext aus unterschiedlichen Gründen herausfordernd und schmerzhaft ist. Daran geknüpft sind Fragen von Sichtbarkeit, Nähe und Distanz und das Ausbalancieren der verschiedenen Welten, in denen queere Pfarrpersonen zwischen Privatheit und beruflicher Öffentlichkeit unterwegs sind. Auch die Kämpfe um Anerkennung, Authentizität und Handlungsfähigkeit ("Agency") im beruflichen Alltag wird von allen als anstrengend und prägend beschrieben. Häneke diskutiert diese Begriffe, indem sie geeignete theoretische Ansätze (vor allem von Axel Honneth und Carolin Emcke) und ausgewählte Interviewpassagen miteinander ins Gespräch bringt (S. 207 -271).
Allen Befragten gemeinsam ist der Wunsch, in ihrem beruflichen Umfeld geschützte Räume zu öffnen und zu gestalten, in denen sie selbst und andere marginalisierte Personen willkommen sind und in denen sie anerkannt werden, so wie sie sind. Wichtig ist ihnen auch, dass queere Identitäten unter Gottes Segen gestellt sind und dass dies auch von anderen so erlebt werden kann. Dafür werden individuell und kontextuell bedingt verschiedene Strategien zwischen Nähe und Distanz, Offenheit und Doppelleben, Konfrontation und Zurückhaltung ausprobiert und gelebt, um die verschiedenen Welten zusammenzuhalten.
Die für befragten relevanten (kirchlichen) Umwelten werden zumeist als hetero- und cis-normativ geschildert. Entsprechend wird auch die individuelle Navigation durch diese Felder eher als Kampf wahrgenommen und nicht als entspanntes Ausprobieren. In unterschiedlichere Weise ringen alle Befragten um die eigene Deutungshoheit über ihr Leben und um eine kohärente Darstellung, auch wenn die Lebenswege fragmentiert sind und mit Brüchen, Verletzungen und konflikthafter Entscheidungen versehen sind. Einige beziehen auch explizit gesellschafts- und kirchenpolitische Dimensionen von Queerfeindlichkeit ein, um eigene Handlungen zu kontextualisieren.
Bei beruflichen und persönlichen Krisen und Konflikten wird bei allen Befragten die jeweils individuelle Spiritualität und Gottesbeziehung erkennbar. Gerade die Gottesbeziehung wird als stärkender Faktor erlebt im Gegensatz zu kirchlichen Strukturen. In den Interviews zeigt sich dies in verschiedenen erlebten Episoden von Getragensein und Anerkennung (S. 217) in der Gottesbeziehung, während alles andere als konflikthaft erlebt wird. Entsprechend werden Lebenskrisen zumeist nicht als Glaubenskrisen erlebt, sehr wohl aber als Institutionskrisen.
Die unterstützenden Gottesbilder stärken bei den Befragten ihr Gefühl von Handlungsfähigkeit und die Selbstwahrnehmung als kritische und widerstandsfähige Subjekte. Aber auch die rechtliche Gleichstellung von queeren Pfarrpersonen durch die Ordination und durch neuere Pfarrdienstgesetze (in einigen Landeskirchen) sind wichtig für die Befragten.
In den autobiografischen Erzählungen erkennt Häneke einen deutlichen Zusammenhang zwischen Authentizität, Identifizierung und Handlungsfähigkeit (S. 232). Wenn Anerkennung im Umfeld erlebt wird, erweitert das Handlungsspielräume und das Gefühl beruflich handlungsfähig zu sein. Umgekehrt wird fehlende Anerkennung zum Problem, weil damit auch die eigene Authentizität und Gestaltungsfreiheit als eingeschränkt erlebt wird.
Die erlebte Anerkennung im Gottesglauben identifiziert Häneke als tragende und teilweise auch als subversive Kraft, die im Sinne der eigenen pastoralen und queeren Überzeugungen genutzt wird, statt nur vorgegebenen Normen zu folgen. Sie ermöglicht kreative Zwischenräume, in denen alltäglich mit Herausforderungen zwischen den verschiedenen Welten umgegangen wird.
Zum Abschluss wirbt Häneke für eine „Pastoraltheologie der Unerwartbarkeit“ (S. 292 ff.). Das heißt für sie zum einen, eine offene Haltung gegenüber verschiedenen professionstheoretischen und pastoraltheologischen Ansätzen zu bewahren und deren Stärken miteinander zu kombinieren.
Eine lesbische Pfarrerin kann beispielsweise ihre queere Identität in verschiedene Bereiche ihrer Arbeit einbringen und dadurch eine ganz spezifische pastorale Expertise erlangen. Gleichzeitig kann eine transgeschlechtliche Pfarrperson aber auch entscheiden, die eigene queere Identität zurückzustellen und stattdessen beispielsweise die eigene Begeisterung über Kirchenmusik in die berufliche Arbeit einzubringen. So kann zwischen beiden Welten ganz unterschiedlich hin und her navigiert werden, ohne die eine Entscheidung über die andere zu stellen.
Zum anderen plädiert Häneke für eine „Pastoraltheologie der Unerwartbarkeit“, die offen bleibt für Unvorhergesehenes, auch im Kontext von verschiedenen Lebensentwürfen. Sie schreibt dazu:
„Derart bleibt das Amt offen für die Fülle des Weges Gottes, die sich auch in der Vielfalt der Geschlechter und Lebensformen zeigen – die das Amt prägen, verändern und bereichern werden. Denn sie treffen auf ebenso heterogene Gemeinden und Menschen, die darauf angewiesen sind, dass sich ihre Lebensrealitäten auch im Pfarramt wiederfinden, da dieses einen wichtigen Ort kirchlicher Anerkennung darstellt.“ (S. 293)
Zusammenfassend ist das Buch trotz aller methodologischen und theologischen Dichte und Komplexität für theologisch und sozialwissenschaftlich geübte Menschen gut zu lesen. Gleichwohl bleibt es ein Fachbuch, das ohne theoretisches Vorwissen vermutlich nicht leicht zu verstehen ist.
Das Forschungsdesign wird schlüssig dargestellt und erklärt und die daraus entwickelten Erkenntnisse werden durch die empirischen Daten gedeckt. Die zitierten Ausschnitte aus den Interviews machen die Ergebnisse nachvollziehbar und veranschaulichen die Studie.
Insgesamt ist die Darstellung der konfliktreichen Beziehung zwischen queerer und pastoraler Identität ein wichtiger Beitrag für eine queersensible zeitgenössische Kirchengeschichtsschreibung und für eine pluralitätssensible Pastoraltheologie.
Insofern ist es auch nur folgerichtig, dass Häneke für ihre Untersuchung den Hannah-Jursch-Preis der EKD erhalten hat.
Ich kann das Buch uneingeschränkt zum Lesen und Lernen empfehlen!
Zum Weiterlesen:
Burja, Katrin/ Roser, Traugott (Hg.), Queer im Pfarrhaus. Gender und Diversität in der evangelischen Kirche, Bielefeld (transcript) 2024
Häneke, Florence, Queer leben im Pfarramt. Über Selbstwahrnehmung und pastorale Identität, Bielefeld (transcript) 2025
Häneke, Florence, „Vertrauen: trotz oder wegen des Amtes? Die Bedeutung des Vertrauensdiskurses in einer Studie zu queerer Identität im Pfarramt“, in: Queer im Pfarrhaus. Gender und Diversität in der Evangelischen Kirche, herausgegeben von Katrin Burja und Traugott Roser, Bielefeld (transcript) 2024, S. 133–146
Häneke, Florence, „Verkündigung und Handlungsfreiheit. Eine empirische Studie zu queerer pastoraler Identität in der Evangelischen Kirche in Deutschland“, in: Praktische Theologie 59 (3) 2024, S. 166–174