Liebe Leser:innen dieses Blogs,
ich möchte Ihren heute meine Gedanken über zivilen Ungehorsam mitteilen. Unter zivilem Ungehorsam wird ein gewaltfreier Protest auf Basis einer Gewissensentscheidung verstanden, wobei auch Nachteile wie Strafen riskiert werden. Ich zeige Ihnen am Beispiel der verbotenen Budapester Pride, warum es manchmal wichtig sein kann, eigene Ängste zu überwinden und gegen Gesetze zu verstoßen. Ich war im Vorfeld hin- und hergerissen, ob ich nach Budapest fahren soll. Denn das ungarische Parlament hat die Veranstaltung per Gesetz verboten. Es war bis zuletzt unklar, ob und wie hart die Polizei durchgreifen wird.
Ich habe mich dann doch entschieden, die queere Community in Ungarn zu unterstützen und an der verbotenen Versammlung teilzunehmen. Damit habe ich (nach ungarischem Recht) zum ersten Mal eine Straftat begangen. Ich bin stolz darauf. Die verbotene Budapester Pride war ein großer Erfolg. Die Veranstalter:innen haben 35.000 Teilnehmer:innen erwartet. Gekommen sind aber 200.000 Menschen. Das Ereignis geht damit in die Geschichtsbücher ein. Noch nie haben in Ungarn seit dem Zusammenbruch des Kommunismus so viele Menschen an einer Demonstration teilgenommen. Es war aus gesellschaftspolitischer Sicht auch der wichtigste Pride in der EU in diesem Jahr.
Ich habe an diesem Tag viel über zivilen Ungehorsam gelernt. Kurz vor der Demonstration hat der ungarische Justizminister die wichtigsten EU-Botschaften angeschrieben und ausländische Staatsbürger:innen ausdrücklich vor einer Teilnahme gewarnt. Einen Tag vor der Veranstaltung drohte der rechtspopulistische Premierminister Viktor Orban im Fernsehen allen Menschen, die teilnehmen werden, "mit rechtlichen Konsequenzen". In sozialen Medien kursierten Aufrufe von rechtsgerichteten und rechtsextremen Kreisen, dass die Polizei die Demonstration mit Wasserwerfern und Tränengas auflösen soll.
Solidarität ist wichtig
Angesichts der Drohungen habe ich mich entschieden, nicht alleine, sondern mit einer Gruppe nach Budapest zu reisen. Denn bei zivilem Ungehorsam braucht es Solidarität. Falls etwas passiert, können sich die Menschen in der Gruppe gegenseitig unterstützen. Ich bin im Rahmen einer Delegation der Menschenrechtsorganisation Amnesty International nach Ungarn gefahren. Wir waren rund 200 Menschen aus 17 Ländern. Um klar erkennbar zu sein, trugen wir alle ein gelbes T-Shirt mit dem Amnesty-Logo. Wir hatten in der Gruppe auch ein eigenes Buddy-System aufgebaut, um sich gegenseitig abzusichern. Es war abgesprochen, dass bei einem Notfall keine Person allein gelassen wird. Wir hatten auch eine Notfallnummer, falls jemand im Gedränge verloren geht. Damit habe ich mich während der Pride stets sicher gefühlt.
Gute Vorbereitung
Bei zivilem Ungehorsam ist eine gute Vorbereitung notwendig. Wir von Amnesty hatten vor der Pride eine interne Sicherheitsbesprechung. Dort sind wir detailliert alle Szenarien durchgegangen: Was machen wir, wenn die Polizei die Parade gewaltsam auflöst? Wie gehen wir vor, wenn die Polizei eine Person aus der Gruppe auswählt und in Gewahrsam nimmt? Wie reagieren wir, wenn wir von rechtsextremen Gegendemonstrant:innen angegriffen werden? Ich habe bei dieser Besprechung einiges über den Umgang mit der Polizei kennengelernt. So ist es wichtig, nie Polizist:innen zu berühren, denn das könnte als Widerstand ausgelegt werden. Auch mussten wir immer den Reisepass bei uns haben, um bei einer Kontrolle der Polizei sofort identifiziert werden zu können. Das verringert das Risiko, auf eine Polizeistation gebracht zu werden. Auch die Organisator:innen der Budapester Pride veröffentlichten im Vorfeld der Demo im Internet detaillierte Sicherheitstipps. Hier ging es ebenfalls um den Umgang mit der Polizei und mit rechtsextremen Gegendemonstrant:innen. Alle Teilnehmer:innen der Pride waren aufgerufen, diese Hinweise zur eigenen Sicherheit genau durchzulesen.
Es braucht Eisbrecher:innen
Die Polizei war am Tag der Parade in der Budapester Innenstadt stark präsent. An wichtigen Plätzen und Straßen standen Polizeiautos und Polizist:innen. Viele Menschen in Budapest warteten daher zuhause ab und kamen erst zur Demonstration, nachdem sie gesehen hatten, dass die Polizei nichts unternimmt. Der Beginn der Parade verlief teilweise chaotisch. Der Treffpunkt war eine bekannte Straße in der Budapester Innenstadt. Die Polizei hatte die Straße nicht gesperrt, sondern die Autos und Busse fuhren zunächst ganz normal weiter. Es brauchte daher Eisbrecher:innen. So stellten sich mutige Menschen in großen Gruppen mit Regenbogenfahnen und Transparenten auf die Straße und blockierten den Verkehr, was ein klarer Akt zivilen Ungehorsams ist. Zum Glück schritt die Polizei nicht ein. Das führte in Budapest zu einem Durchbruch. Als Journalist:innen in sozialen Medien berichteten, dass alles friedlich sei und von der Polizei keine Gefahr ausgehe, strömten im Laufe des Nachmittags zehntausende Menschen aus der ganzen Stadt herbei.
Der Zustrom war so groß, dass der Verkehr in der Innenstadt teilweise zusammengebrochen ist. Zahlreiche U-Bahn-Stationen mussten wegen Überfüllung gesperrt werden. Auch das Handynetz funktionierte wegen Überlastung nicht. Unter den 200.000 Menschen waren nicht nur Queers, sondern auch viele Personen, die ihre Solidarität zum Ausdruck bringen wollten. Zu sehen waren Menschen aus allen Altersgruppen und Gesellschaftsschichten. Auch Familien mit Kindern und Jugendliche waren dabei. Schließlich ging es bei der Budapester Pride nicht nur um queere Anliegen, sondern um die Sicherstellung der Demonstrations- und Meinungsfreiheit in einem EU-Land.
Flexibel sein
Niemand hatte im Vorfeld mit einem so großen Andrang gerechnet. Auch wir von der Amnesty-Gruppe waren überwältigt. Soweit das Auge reichte, waren nur Menschenmassen zu sehen. Der Zeitplan konnte nicht eingehalten werden. Denn die Demonstration kam wegen der vielen Menschen nur langsam voran. Zum Glück hatten wir angesichts der sommerlichen Hitze genug Trinkwasser dabei. Die Organisator:innen reagierten auf unliebsame Vorfälle flexibel. Weil eine Gruppe von Rechtsextremisten die Freiheitsbrücke blockierte, musste kurzfristig die Route geändert werden. Wir gelangten über die Elisabethbrücke auf den anderen Teil von Budapest. Dadurch hat sich alles noch mehr verzögert. Die Stimmung blieb friedlich und fröhlich. Trotz der dicht gedrängten Menschenmassen kam keine Panik auf. Die Leute riefen auf Ungarisch immer wieder den Pride-Slogan: "Wir sind hier zuhause." Damit betonte die queere Community in Budapest, dass queere Menschen Teil der ungarischen Gesellschaft sind und sich nicht verdrängen lassen.
Ich werde die überwältigenden Eindrücke aus Budapest lange in Erinnerung behalten. Ich bin der Polizei dankbar, dass sie nicht eingeschritten ist. Ein Wermutstropfen ist das Verhalten der christlichen Kirchen in Ungarn. Sie haben sich nicht zum Verbot der Parade geäußert. An der Pride nahmen keine christlichen Gruppen teil. Die einzigen Menschen, die an diesem Tag christliche Symbole verwendet haben, waren rechtsextreme Gegendemonstranten. Es ist schade, dass auch die evangelischen Kirchen in Ungarn bei der größten Demonstration seit dem Zusammenbruch des Kommunismus gefehlt haben.