Ich selbst bin nicht kirchlich sozialisiert. Daher habe ich G*tt völlig frei von christlich konservativen Deutungshoheiten erlebt und mich in diesem Beziehungsraum immer gut aufgehoben gefühlt. Zugleich war ich von Menschen umgeben, die politisch links orientiert waren und eine gesunde Skepsis gegenüber der Institution Kirche hatten. In meiner Jugend war ich Teil einer Gemeinde, die sich als einer der ersten für Kirchenasyl stark gemacht hat und damals noch nicht von der Kirchenleitung unterstützt wurde.
Queer und gläubig sein war nie ein Widerspruch für mich.
Mein kritischer Blick auf die kirchliche Organisation ist geblieben. Und auch mein Glaube daran, dass G*tt insbesondere denen Raum gibt, die aus der erwarteten Norm fallen. Queer und gläubig sein war nie ein Widerspruch für mich. Um mich herum allerdings wurden diese Aspekte meiner Identität und Lebensform immer getrennt verhandelt.
In der queeren Community ist der kirchliche Raum negativ belegt und mit Diskriminierung verbunden. Und im kirchlichen Kontext sind queere Perspektiven ungewohnt oder suspekt. Ich verstehe wie diese jeweiligen Vorurteile entstehen, aber theologisch und emotional ist es mir ein Rätsel, wie die christliche Botschaft auch in der Evangelischen Kirche zu so einer konservativen und angepassten Tradition verkommen konnte. Für mich war Jesus immer ein Widerstandskämpfer und natürlich antifaschistisch. Was sonst um Himmels willen? All die Worte und Handlungen Jesu haben das System des römischen Reiches auf den Kopf gestellt. Jesus hat sich insbesondere den religiösen Narrativen entgegengestellt, die Menschen im Namen irgendeiner Gottheit diskriminiert und ausgeschlossen haben.
Tash Hilterscheid ist Pfarrperson für Queersensible Bildungsarbeit in der Nordkirche. Ein wesentliches Thema dieser Arbeit ist die Sensibilisierung kirchlicher Akteur*innen für geschlechtliche Vielfalt. Bei Instagram ist Tash auch unter @und_alles_dazwischen.de zu finden. Hier teilt Tash persönliche Erfahrungen als nichtbinäre Person.
Was ist von diesem kämpferischen Widerstand übrig geblieben??Und wie kann es sein, dass fundamentalisch christliche Narrative wieder so laut werden und mit ihnen der postulierte Graben zwischen Queerness und christlichem Glauben Zuspruch findet?! Was soll das für ein G*tt sein, der die Lebendigkeit und Vielfalt der eigenen Schöpfung verachtet? Mich schmerzt das sehr! Ich kenne diesen Graben und ich weiß, was er mit Menschen macht, die tiefgläubig sind und zugleich nicht in das biblizistisch begründete Menschenbild der rechtskonservativen Christ*innen passen. Und ich bin mir sicher, dass jeder dieser Narrative G*ttes Namen missbraucht. Denn mein Glaube an G*tt und meine Queerness ist für mich eins!
Jesus hat Normen hinterfragt.
Den Begriff „queer“ ist ein Gegenentwurf zum heteronormativen System, das nicht nur bestimmte geschlechtliche und sexuelle Stereotypen absolut setzt, sondern auch generell Normen aufrecht erhält, die Menschen unter Druck setzen und das Gefühl geben, nicht gut genug zu sein. Denn das oberste Gebot ist es, der Norm zu entsprechen. Dabei ist diese Norm eine fiktive Schablone, in die das Leben in seiner Vielfalt nicht hineinpasst. Menschen, die nicht weiß, gesund an Körper und Seele, heterosexuell und cisgeschlechtlich sind, passen nicht in die Schablone. Sie werden als „die Anderen“ abgewertet und ihnen wird aufgebürdet, sich gefälligst anzupassen.
Genau diese Schablone, diese Normen hat Jesus hinterfragt. Er hat Menschen begeistert und aus ihren Schablonen herausgelockt. Seine Vertrauten haben allesamt ihre Systeme verlassen. Sie sind umhergezogen und haben die Menschen, die nicht ins System gepasst haben, in ihrem Sein bestärkt. Und sie haben sie gefragt, was sie brauchen. „Was willst du, das ich dir tue?“ ist der Satz, mit dem Jesus den Menschen begegnet ist. Die Heilungsgeschichten sind allesamt Erzählungen von Menschen, die am Rand gestanden haben. Gesellschaftlich und oft auch seelisch. Jesus hat sie in ihrem Recht auf Selbstbestimmung bestärkt! Er hat ihre Kraft, ihre Fähigkeiten und ihren Glanz erkannt. Für ihn waren das nicht „die Anderen“, sondern ein Teil des Ganzen.
Mein Glaube und meine Queerness sind wie ein Prisma, in dem das Licht gebrochen wird.
Für mich sind sowohl der christliche Glaube, als auch meine Queerness ein Korrektiv zur scheinbaren Wirklichkeit. Ein kritisches Gegenüber zu vorhandenen Normen und Systemen, die Menschen einordnen, statt sie ernst zu nehmen. Mein Glaube und meine Queerness sind wie ein Prisma, in dem das Licht gebrochen wird. Und indem sich das Licht bricht entstehen neue Perspektiven. Das Vorhandene wird hinterfragt und neue Möglichkeiten und Visionen entstehen.
Es gibt diesen Zustand, dieses "Passing", in dem wir das sind, was G*tt in uns sieht.
Der amerikanische Soziologe Henry Rubin schreibt: Trans Menschen sind im Besitz eines "verkörperten Wissens, das sich dem Verständnis von Krankheit und Gesundheit, Abwesenheit und Anwesenheit, real und unwirklich widersetzt. Dieses Unwissen/Wissen ist die Beteuerung des Ichs, das sich verpflichtet, aktiv in der Welt zu bleiben und an einem Lebensprojekt zu arbeiten."
Und genau hier kommen für mich meine Queerness und mein Glaube zusammen. Wir haben noch nicht das Leben, das G*tt uns zutraut. Aber es gibt diesen Zustand, dieses "Passing", in dem wir das sind, was G*tt in uns sieht. Manchmal ist es ein langer Prozess. Und er ist auch mit Schmerzen verbunden, weil wie Vertrautes hinter uns lassen müssen. Und weil wir nicht immer mit Beifall rechnen können. Aber ich bin mir sicher, dass es sich lohnt an diesem "Lebensprojekt", wie Henry Rubin es nennt, festzuhalten!
Lasst uns einander dabei unterstützen!