Liebe Leser:innen des Blogs,
ich möchte Sie heute einladen, über Ihre Schulzeit nachzudenken. Wie war die Schule für Sie? Sind Sie gerne in die Schule gegangen? Oder hatten Sie Angst? Hatten Sie verständnisvolle Lehrer:innen und Freund:innen? Oder fühlten Sie sich einsam?
Vielleicht versuchen Sie im nächsten Schritt, sich in die Situation von queeren Kindern und Jugendlichen einzufühlen. Denn für queere Kids ist die Schule oft kein sicherer Ort. Sie erleben dort Gewalt und Mobbing. Dies macht unter anderem das jüngst erschienene Buch "Queer Kids" deutlich. Darin erzählen 15 queere Kinder und Jugendliche aus ihrem Leben und über ihren Schulalltag. Das Buch wurde kurz auf evangelisch.de vorgestellt. Ich habe es im Urlaub gelesen. Ich möchte das Buch in diesem Blog ausführlich besprechen. Denn die Berichte zeigen, wie schwer es queere Kinder und Jugendliche oft haben.
So erzählt Corsin (17 Jahre alt, schwul), dass für ihn die Oberstufe "der absolute Albtraum" gewesen ist. Auf dem Pausenplatz seien Wörter wie "du Schwuler!", "du Schwuchtel" und "No Homo!" zu hören gewesen. Im Gang haben andere Kinder mit dem Finger eine Geste gemacht, wie wenn sie Corsin in den Arsch bohren würden. Die Lehrer:innen haben beim Mobbing weggeschaut. "Sie dachten vermutlich, das sei ja nur so ein Pubertätsding, das müsse man nicht ernst nehmen. Ich habe den Eindruck, dass sie bei rassistischen Witzen sofort intervenieren", erzählt Corsin. Aber wenn jemand "schwul" als Schimpfwort benutze, schauen die Lehrer:innen weg.
Von depressiven Zuständen und Panikattacken
Schlimm war die Schulzeit auch für Sam (18 Jahre alt, non-binär). "Anfangs habe ich noch versucht, bei einer Lehrperson oder einem Schulsozialarbeiter Hilfe zu holen. Aber ich machte die Erfahrung: Wenn ich mir Hilfe hole, wird alles noch schlimmer. Also hörte ich auf, Hilfe zu holen." Sam erzählt von depressiven Zustände und Panikattacken. Bei einer Gruppenarbeit habe niemand mit Sam in einer Gruppe sein wollen. "Ich saß in der Ecke, hyperventilierte und weinte. Die Lehrperson hat nicht reagiert. Sie sagte nur, ich solle das Klassenzimmer verlassen, ich störe den Unterricht."
Auch Lou (16 Jahre alt, trans, er/ihm) erzählt in dem Buch, dass für ihn die Schulzeit eine Qual gewesen sei. Er habe zwar immer gute Noten geschrieben, "darum sagten alle immer, es sei doch alles super. Aber die Kinder mit den besten Noten sind oft die mit den größten Struggles", berichtet Lou. Schließlich habe er es psychisch nicht mehr ausgehalten und musste in eine Klinik.
Auch Aurelia (19 Jahre alt, lesbisch) wurde in der Schule allein gelassen. Sie erzählt in dem Buch, dass sie immer auf ihren Rucksack aufpassen musste, "damit sie ihn mir nicht wegnehmen und er irgendwo rumfliegt. Während der Pause blieb ich oft allein im Schulzimmer, weil draußen keine Lehrer waren, die hätten aufpassen können." Aurelia kritisiert, dass die Lehrer:innen weggesehen haben. "Wenn sie gewollt hätten, hätten sie es vermutlich schon wahrgenommen." Schließlich habe sie alles der Mutter erzählt. Diese habe sich in der Schule beschwert. Danach sei das Mobbing noch schlimmer geworden. Es habe dann geheißen: "Aurelia petzt, und sie kann sich nicht selber schützen. Es war ein Teufelskreis", erzählt die lesbische Frau. Auch sie war psychisch in einer schwierigen Lage und musste in die Jugendpsychiatrie eingewiesen worden. Dort habe sie realisiert, dass "nicht ich der Fehler war, sondern das Mobbing", berichtet Aurelia.
Queer-Sein als Grund für Hass
Auch Max (15 Jahre alt, trans und bigender) hat in der Schule Mobbing erlebt. Besonders schlimm war es, als die anderen Kinder merkten, dass Max queer ist. "Jetzt hatten sie einen Grund, mich zu hassen." Die Lehrer:innen taten nichts. Sie sagten nur zu Max: "Sei einfach freundlich zu den anderen." Max kontaktierte dann die Sozialarbeiterin der Schule. Diese habe in der Klasse viel über Respekt gesprochen, erzählt Max in dem Buch. Trotzdem sei das Mobbing weitergegangen. "In dieser Zeit waren meine Online-Kontakte meine besten Freunde. In einer Chat-Gruppe auf Discort, einem Online-Messenger, habe ich queere Jugendliche aus anderen Ländern kennengelernt." In der Schule begann Max, unauffälligere Kleidung zu tragen. "Ich dachte, wenn ich normaler aussehe, hört das Mobbing vielleicht auf. Das war nicht der Fall." Max würde gerne auf die queere Identität stolz sein. "Aber ehrlich gesagt, habe ich vor allem Angst, so zu sein. Ich habe gelernt, meine Identität mit Angst zu verbinden."
Auch Lara (15 Jahre alt, trans) hatte es nicht leicht. Denn die Kinder in der Schule machten über sie dumme Kommentare. "Es passierte in der Pause, im Gang, auf dem Schulweg. Eigentlich die ganze Zeit. Von den Lehrpersonen hat es niemand mitbekommen", erzählt Lara in dem Buch. "Was die Erwachsenen gegen das Mobbing hätten tun können? Keine Ahnung. Ich würde sagen, da kann man eigentlich nicht viel machen. Wenn die Leute mobben wollen, dann mobben sie - aus unterschiedlichen Grünen", meint Lara. Später sei sie nicht nur verbal angegriffen, sondern auch gestossen worden. Als die Mutter das Mobbing mitbekam, sei sie mit Lara zum Schuldirektor gegangen. Doch der Direktor meinte zu Lara: "Wenn du die Namen der Jugendlichen nicht nennen kannst, die dich mobben, können wir nichts machen. Aber es ist ja nicht so schlimm, wenn du ab und zu einmal einen Tag fehlst." Lara blieb dann oft zu Hause. Das Mobbing hinterließ tiefe Spuren. Weil es Lara psychisch immer schlechter ging, wurde sie in eine Tagesklinik aufgenommen.
Vielfalt muss von klein auf gelehrt werden
Solche Erzählungen machen mich betroffen und traurig. Ich bin traurig, dass queere Jugendliche solche Erfahrungen machen. Verärgert bin ich, dass Lehrer:innen nicht angemessen reagiert haben. Ich empfehle allen queeren Kindern und Jugendlichen: Bitte holt Euch rasch Hilfe und kontaktiert queere Organisationen und Jugendgruppen in der Nähe, damit ihr nicht alleine seid. Dort bekommt ihr auch professionelle Hilfe. Den Lehrer:innen empfehle ich, sich über Queer-Sein zu informieren und von Mobbing-Betroffenen zu helfen.
Auch ich wurde in der Schule gemobbt. Ich bin überzeugt, dass wir mehr Achtsamkeit und Mitgefühl in den Schulen brauchen. Denn Wissensvermittlung alleine ist zu wenig. Diversität soll in den Schulen auf der Prioritätenliste ganz oben stehen. Denn es muss unser Ziel sein, Vielfalt als Chance zu sehen, damit Inklusion, Chancengleichheit und ein respektvolles Zusammenleben gefördert werden kann. Ähnliches gilt für die Kirchen, kirchliche Einrichtungen und kirchliche Kinder- und Jugendgruppen. Akzeptanz und Vielfalt müssen schon von klein auf gelehrt und unterstützt werden.
Buchempfehlung: Christina Caprez: Queer Kids - 15 Porträts. Limmat Verlag, Zürich.