Gestern war Erntedank. Es ist ein schönes Fest. Alles kommt vor den Altar. Brot und Getreide, Blumen und Honig, Gemüse und Obst. Festlich liegt es da, vor Gott. Es ist wichtig, sich zu erinnern, wie gut wir es haben. Auch wenn man nicht an Gott glaubt.
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
So dichtete Rainer Maria Rilke in seinem Herbsttag-Gedicht. Ja, der Sommer war sehr groß. Doch längst ziehen die Schatten ihre Kreise. Der Wind bläst überall. Er weht über die Furcht und die Freude, über die Wut und die Freiheit, über das Unglück und das Glück. Über alles, was zum Leben gehört. Ob politisch oder privat.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Das ist die andere Seite des traurig-schönen Herbstgedichts. Bei uns und anderswo.
Bei uns: Viele Menschen haben kein Zuhause. Die wenigsten können eines bauen. Viele haben keine Wohnung. Zu viele leben auf der Straße. Zu viele haben zu wenig Geld. Weil der Staat nicht willens ist, sozial Schwache angemessen zu versorgen und lieber Leistungen kürzt. Andere wandern unruhig umher. Weil sie diffamiert, eingeschüchtert und an den Pranger gestellt werden. Wer politisch davon profitiert, ist offensichtlich.
In der Ukraine, im Gazastreifen: Da sind viele jetzt allein. Sie werden es sehr lange bleiben. Weil sie alles verloren haben. Ihr Haus, ihre Schulen, ihre Krankenhäuser. Schlimmer noch: Familienangehörige. Freundinnen. Freunde. Ihr Leben.
Gestern war Erntedank. Doch wofür sollen wir danken? Wir säen Schulden und ernten Armut. Wir säen Gerüchte und ernten Vernichtung. Wie säen Angst und ernten Antisemitismus. Wir säen Zwietracht und ernten Rechtsextremismus. Wir säen Hass und ernten Krieg. Wir säen Waffen, in einem Fall zu Recht, im anderen nicht, und ernten den Tod. Nichts davon gehört vor den Altar. Und schon gar nicht vor Gott.
Ich wünsche mir, dass dort etwas anderes liegt, neben all den guten Gaben, die wir tatsächlich ernten können. Etwas, das uns alle betrifft. Die Politik, die internationale Gemeinschaft und jede:n von uns. Als Erinnerung und als Mahnung.
Demut statt Hochmut. Toleranz statt Ignoranz. Haltung statt Gleichgültigkeit. Respekt statt Missgunst. Achtung statt Missachtung. Wahrheit statt Lüge. Mut statt Feigheit. Hilfe statt Im-Stich-Lassen. Menschlichkeit statt Krieg. Frieden statt Waffen.
Niemand sollte allein sein, alle verdienen ein Haus. Ein Haus, in dem sie leben können. Sich darauf zu besinnen, ist vielleicht der Sinn von Erntedank in diesem Jahr. Darauf kommt es an.
Nicht nur jetzt. Sondern immer.