Mein Vater Stefánie

Mein Vater Stefánie
Sigrid Estrada
Susan Faludi
Susan Faludi erzählt in ihrem jüngsten Werk die Geschichte ihres Vaters, der zu Stefánie wurde, und verknüpft sie mit der ereignisreichen Geschichte Ungarns. Dabei stellt sie sich die Frage, was Identität ist.

25 Jahre lang hat Susan Faludi kaum Kontakt zu ihrem Vater Steven (geboren als István), der nach einem gewalttätigen Scheidungsszenario mit polizeilichem Näherungsverbot in seine Heimat Ungarn zurückgekehrt ist. Faludi, die mit ihrerMutter in US-Amerika geblieben war, erinnert sich an eine Kindheit voller Gewalt,Furcht und Verlassenheit, als sie eine E-Mail von ihm, nein: ihr erhält.Der Vater hat sich geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen. „Stefánie ist jetzt Realität“, schreibt sie nüchtern und erzählt von ihrer „Verwandlung“, wie sie es selbst nennt. Sie habe sich vom Machismo ihres früheren Ichs verabschiedet. Die mitgeschickten Fotos zeigen sie – die früher als Retuscheur und hinter der Kamera gearbeitet hatte – in „damenhaftem“ Gewand mit Rüschenbluse vor der Wiener Hofburg und anderen kaiserlich-königlichen Kulissen – Symbole der von Stefánie so verehrten Monarchie.

Männlichkeit und „Frauenkonventionen“

Susan reist auf die Einladung Stefánies hin die nächsten zehn Jahre wiederholt nach Ungarn, wo die Wurzeln der Faludis – eigentlich Friedmanns – liegen: eine jüdisch-magyarische Familie, die einst Reichtum und dann schlimmste Verfolgung und Enteignung erlebt hat. In Ungarn findet Susan eine verletzte, aber stolze Kultur vor, die an Chauvinismus kaum zu überbieten ist. Die Fragilität der überstilisierten Männlichkeit lebt Stefánie analog in der Rolle als Frau weiter: Frausein ist für sie untrennbar an Unterwürfigkeit und „Weichheit“ geknüpft.

Hingegen lehnt Susan, deren Antrieb Journalistin zu werden, der feministische Kampf und ihre eigene Unabhängigkeit waren, „Frauenkonventionen“ ab: „Ich schwor den Normen der Weiblichkeit ab, nicht, um mich von meinem Geschlecht zu distanzieren, sondern um es zu proklamieren.“ Stefánie wiederum erwartet nun eine Art „weibliche Verbündung“ mit ihrer Tochter. Sie findet, unter Frauen lasse man die Türen nachts offenstehen und bewege sich in der Wohnung ganz selbstverständlich nackt. Susan widerstrebt dies. „Es ist nicht ‚normal’, dass Frauen nackt herumlaufen“,entgegnet sie. Dem schmerzhaften Aspekt dieser Eltern-Tochter-Beziehung mischen sich immer wieder liebevoll schrille und schrullige Momente bei, die dazu einladen, den Menschen Stefánie in seinen vielen Facetten zu sehen und nicht voreilig zu verurteilen.

Identität und Geschichte(n)

Neben der Beziehung zwischen Stefánie und Susan erzählt Faludi über weitere starke Verbindungen, etwa die ihres Vaters mit Ilonka, einer frommen Katholikin, die Stefánie auch nach der geschlechtsangleichenden Operation treu bleibt, obwohl sie Schwierigkeiten hat, damit umzugehen. Die Geschichte des „Fans aller Retusche“ bettet sich ein in den Mythos vom goldenen Zeitalter der Habsburger Monarchie, dem Stefánie so nachhängt. Sie glorifiziert eine Ära, in der Feudalismus, Nationalismus und Antisemitismus herrschten und Jüd_innen in Ungarn sich entscheiden mussten, ob sie „jüdisch“ oder „ungarisch“ sind. Das heutige postkommunistische Ungarn, in das Stefánie gezogen ist und das weiterhin in einer Identitätskrise steckt, hat diese Geschichte noch lange nicht verarbeitet.

Eloquent, ehrlich und mit beeindruckender Detailgenauigkeit beschreibt Faludi diese außergewöhnliche Beziehung, die ebenso anstrengend wie berührend ist und auch mit viel Komik einhergeht. Die Erinnerung an die Schoah, die Geschichte der Habsburger Monarchie sowie der historische wie gegenwärtige Machismo in der Politik Ungarns verweben sich mit der (Familien-)Biografie Susans und Stefánies. Daran entzündet und erklärt sich gleichwohl die Frage nach Identität: Faludi nähert sich diesem heute vielfach problematisierten Konstrukt entlang ihrer und der Lebensgeschichte ihres Vaters. Vielleicht ist Identität nicht etwas, das wir entscheiden, sondern etwas, das unserer Lebensgeschichte innewohnt und gleichwohl gnadenlos von uns eingefordert wird.

Für „Die Perlenohrringe meines Vaters“, das im Original den prägnanten Titel „In the Darkroom“ trägt und bereits 2014 erschienen ist, erhielt Pulitzer-Preis-Trägerin Susan Faludi den Kirkus Prize.

 

Susan Faludi: Die Perlenohrringe meines Vaters. Geschichte einer Neuerfindung,
aus dem amerikanischen Englisch von Judith Elze und Anne Emmert, dtv 2018.

Der Text erschien zuerst (in kürzerer Fassung) in an.schläge III/2019.

 

weitere Blogs

Kirchenjahr-evangelisch bietet jetzt zu jedem Sonntag die passende Bach-Kantate per Link. Was wohl Johann Sebastian Bach dazu sagen würde, dass seine Musik Jahrhunderte nach seinem Tod jederzeit auf Abruf im World Wide Web klingen kann?
Ein Mann musste in München vom Kirchturm gerettet werden
...oder wie man mit dem Licht beginnt.