In der allerletzten Bank sitzt er. Ganz hinten. Er kommt nur in die Kirche, wenn kein Gottesdienst ist. Das, was er hier sonst erlebt, ist nicht seine Welt. Er kann hier intellektuell oder emotional einfach nicht andocken. Es ist ihm zu viel durcheinander. Er fühlt sich hier nicht sicher. Nicht mehr.
Das, was er sucht, ist eine feste Form, in die er sich hineingießen kann, Worte, die er sich nicht aussuchen muss. Er will nicht ständig emotional genötigt und infrage gestellt werden. Nicht auf diese Weise. Er will nicht angehalten sein, mit seinem Umfeld zu kommunizieren. Er will es nicht bunt und wild, nicht kreativ und immerwiederneu. Er will das alles nicht.
Das, was er hier erlebt, erreicht ihn nicht. Alles hier ist für ihn wie Glatteis. Unsicherheit. Konflikte, die überall wabern, weil er sich falsch verhält.
Er bestaunt die jungen Männer im Alter seines Sohnes, die die neue Zeit so jovial bewältigen und aus Rollenbildern aussteigen. Das hätte er sich nie getraut. Und er hätte auch nicht gewusst, wie er damit anfangen soll. Jetzt ist es auch anders gekommen. Er lebt und glaubt halt traditionell, das ist das, was er kennt und worin er sich wohlfühlt.
Konrad sitzt in der letzten Reihe. Emotional berühren kann ihn die Stille. Die ist immer gleich. Keine Überraschungen. Sein Safe Space. Ein gleichförmiger Raum mit harmonischen Winkeln. Das Licht aus den Fenstern. Der Geruch nach ausgeblasenen Kerzen. Die Bank, die warm wird unter ihm, wenn er dort sitzt. Und dass er hier einfach sein darf, als der, der er ist. Dass er alle Kämpfe einmal draußen lassen kann. Auch die Kämpfe, was er für ein Mann ist. Und wie er mit anderen ist und wie er dasteht und wie er sich ausdrückt. All das. Davon sucht er Frieden. Davon sucht er Abstand.
Gute Freunde könnte er brauchen. Mit denen er reden kann, ohne Angst zu haben, sich zu zeigen. Diesen Ort hat er noch nicht gefunden. In der Kirche hat er ihn verloren. Diese Kirche ist nicht sein Ort, wo er emotional frei sein kann.
Konrad fühlt sich wie ein Zurückgelassener.
Er wünscht sich einen Ort, an dem er seine Meinung mit anderen teilen kann, einfach mit anderen streiten kann, ohne dass es ihm vorkäme oder andere ihm vorwerfen könnten, er würde sich über jemanden stellen. Das will er gar nicht. Auch er als Mann möchte einen geschützten Raum, denn er findet, dass so einer allen Menschen zusteht, auch denen, die so denken wie er. So fühlt er sich abgeschoben und ohne Chance, die anderen einzuholen mit ihrem so anderen Lebensgefühl. Er weiß nicht, wie er wachsen kann und bleiben kann.
Und nein, der Gedanke, dass alte weiße Männer wie er das ja schließlich Jahrhunderte für sich gehabt hätten, führt für ihn nicht weiter. Er lebt doch jetzt. Er kann auch den anderen ihre anderen Räume lassen. Aber im Moment bleibt für ihn kein Raum übrig. Im Moment fühlt er sich falsch. Als wäre ihm seine Sprache abhandengekommen. Als hätte er nicht das Recht, einen Ort zu haben. Konrad erhebt sich langsam und steht etwas verloren in der Kirchenbank. Gerade bleibt das alles für ihn ungelöst.
Nachtrag: Als ostdeutsche queere Frau wünsche ich mir, dass wir alle Teil des Leibes Christi sein können, ohne es uns gegenseitig abzusprechen. Ich wünsche mir das für Frauen und Männer und für Menschen aller Herkunft, für Menschen mit und ohne Behinderung und verschiedener geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung. Ich wünsche es mir auch für alle Konrads. Sonst wäre es nicht der Leib Christi.
#Challenge: diese Woche einmal mehr das Herz weit machen, da, wo es Dir schwer fällt...