"Wir dürfen nicht auf Kosten anderer leben"

Hände greifen nach Keksen in Form einer Weltkarte auf einem Backblech.
Foto: Getty Images/David Malan
"Wir dürfen nicht auf Kosten anderer leben"
Die EKD-Studie mit dem Titel "… damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen" wirbt für eine breite gesellschaftliche Diskussion über neue Leitbilder für eine nachhaltige und global gerechte Entwicklung. Sie fragt, unter welchen Bedingungen "gutes Leben" für alle Menschen unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen möglich ist. Thilo Hoppe, entwicklungspolitischer Sprecher von "Brot für die Welt", spricht über die Fehler der Entwicklungsarbeit in der Vergangenheit und über notwendige Lösungen der Zukunft.

Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung hat heute einen Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung herausgebracht mit dem Bibelzitat "… damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen" (Joh 10,10). Warum gerade dieses Bibelzitat?

Thilo Hoppe: Wir haben lange über das Bibelzitat in der Übersetzung von Martin Luther diskutiert. "Volle Genüge" klingt ein bisschen altertümlich, ist aber nach zwei Seiten hin interpretierbar. In unserer Studie wird eine "Ethik des genug" entfaltet, die anregt, darüber nachzudenken, was man für ein gutes Leben wirklich braucht. Betrachtet man die ungleiche Verteilung zwischen den Ärmsten und den Reichsten auf der Welt, erkennt man, dass die einen jetzt mehr Nahrung, Wasser und Bildung brauchen, damit es genug ist und die anderen hingegen sich mit weniger beschränken müssten, um dies zu ermöglichen.

Was sind für Sie die Kernaussagen der Studie?

Thilo Hoppe
Thilo Hoppe

Thilo Hoppe ist seit 2004 Mitglied der Kammer für nachhaltige Entwicklung bei der EKD, seit 2010 hat er deren Vorsitz inne. Der Diakon ist zudem Entwicklungspolitischer Beauftragter des evangelischen Hilfswerks "Brot für die Welt". Von 2002 bis 2013 war Hoppe als Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Mitglied des Deutschen Bundestags.

Hoppe: Die Studie beschreibt das frühere Entwicklungsverständnis und wie es sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Erst sprach man von Entwicklungshilfe, dann von  Entwicklungszusammenarbeit. Stets meinte man aber die entwickelten und  unterentwickelten Länder. Die zentrale Annahme war das Prinzip: die Entwickelten helfen den Unterentwickelten auf den gleichen Stand zu kommen. Heute wissen wir, dass das alte Verständnis nicht mehr funktioniert. Hätten alle Länder den Ressourcenverbrauch der Bundesrepublik oder der USA, würde die Welt das nicht verkraften. Unsere Studie zeigt, dass wir ein neues Leitbild brauchen, das eine menschenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung weltweit und auch bei uns in Deutschland in den Blick nimmt, damit alle Menschen künftig in Würde und Sicherheit leben können, damit Gottes Schöpfung bewahrt wird und die natürlichen Ressourcen für nachfolgende Generationen erhalten werden. Dafür müssen wir uns alle gemeinsam auf Augenhöhe auf den Weg machen.

Welche Fehler wurden in der Entwicklungsarbeit in der Vergangenheit gemacht?

Hoppe: Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit waren oft nicht uneigennützig. Während des Kalten Krieges dienten sie aus politischen Erwägungen dazu, Länder  ins westliche oder ins östliche Lager einzugliedern. Auch gab es das Interesse, Absatzmärkte zu schaffen, um die Außenwirtschaftsförderung zu stärken. Auch die Annahme, zuerst Menschen aus tiefster Armut zu befreien und sich erst danach um den Umweltschutz kümmern zu können, war nicht richtig. Heute gehen durch extreme Wetterereignisse wertvolle Anbauflächen verloren. Das hat eine noch größere Armut zur Folge. Eigentlich wissen wir bereits seit der "Club of Rome" 1972 die Studie "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlicht hat, dass Armutsbekämpfung und Umweltpolitik zusammengedacht werden müssen. Manchmal dauert es eben sehr lange bis aus den Erkenntnissen einzelner Wissenschaftler allgemeiner Konsens wird. In manchen Ländern braucht es Wachstum zur Armutsbekämpfung, andernorts müssen sich teilweise einzelne Bereiche gesundschrumpfen und der  Ressourcenverbrauch muss gesenkt werden. Umweltschutz ist aber nicht per se wichtiger. Nichts wäre gewonnen, Naturparks einzurichten und die dort lebenden Menschen zu vertreiben. Alles geht wirklich nur im Miteinander. Deshalb fordern wir eine sozialökologische Transformation.

"Momentan ist die Landwirtschaft Teil des Problems, dabei könnte sie ein Teil der Lösung sein."

Welchen Kurswechsel braucht die Entwicklungspolitik?

Hoppe:  Die Strategie in vielen Entwicklungsländern und auch in manchen Ländern die Entwicklungshilfe alten Stils leisten, ist die Annahme, Entwicklungsländer bräuchten für ihre Industrialisierung billigere Energie, etwa aus Kohle oder Erdöl. Es wäre aber fatal, wenn die Entwicklungsländer alle Irrwege, die wir gegangen sind, wiederholen würden. Warum sollte man eine Industrialisierung dieser Länder nicht konsequent mit erneuerbaren Energien durchsetzen? Teilweise geschieht das schon. Aber es  gibt  auch immer noch Fördermaßnahmen für den Bau von Kohlekraftwerken, auch solche, die von Deutschland finanziert werden. Erschreckend ist zudem die Tatsache, dass die Landwirtschaft mehr klimaschädliche Gase produziert als das ganze Verkehrswesen, also alle Autos und Flugzeuge zusammen. Momentan ist die Landwirtschaft Teil des Problems, dabei könnte sie ein Teil der Lösung sein. Würde sie ökologischer betrieben, könnte sie sogar zur Co2-Senkung beitragen. Anstatt den Entwicklungsländern die "segensreichen" Errungenschaften und damit die Umweltprobleme unserer industrialisierten Landwirtschaft zu bringen, sollten Kleinbauern aus ihrer Armut mit agrarökologischen Methoden herausgeholt werden, die eben nicht zu Umweltschäden führen. Hilfswerke wie "Brot für die Welt" und "Misereor" gehen diesen Weg bereits in vielen Projekten und Fördermaßnahmen.

Welche Rolle spielen die Kirche und der Glaube, damit die Welt für alle lebenswerter wird?

Hoppe: Kirche und Glaube können eine wichtige Aufgabe übernehmen. Eine wichtige These unserer Studie ist, dass man den Schalter umlegen muss - hin zu einer nachhaltigen Entwicklung, hin zu einer großen sozialökologische Transformation. Dies ist ohne eine spirituelle und mentale Transformation, ohne Veränderung der Grundeinstellungen nicht möglich. Wir brechen in der Studie mit dem Irrglauben, dass man die Umwelt- und Entwicklungsprobleme nur mit neuer Umwelttechnologie, etwa kraftstoffsparenden Autos, in den Griff kriegen könne. Der Ressourcenverbrauch und der Konsum der reicheren zehn bis 20 Prozent der Menschen ist zu hoch, als dass sich das mit neuer Umwelttechnologie  kompensieren ließe. Wir werden um Verzicht nicht herum kommen. Wer meint, um glücklich zu leben, müsse man jeden Tag Fleisch essen oder jedes Jahr eine Fernreise mit dem Flugzeug machen, lebt auf Kosten anderer und auf Kosten der Natur. Weltweit ist dieser Lebensstil auf Dauer nicht durchzusetzen, auch nicht mit neuen Technologien. Verzicht ist nicht attraktiv, aber in einigen Bereichen notwendig. Es soll ja nicht gleich auf alles verzichtet werden. Eine Verhaltensänderung ist dann möglich, wenn Menschen bewusst wird, was sie wirklich brauchen, um glücklich zu sein. Wir müssen die Debatte führen, was wir wirklich zu einem guten Leben brauchen. Martin Luther sagte: "Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott" Ist es Mammon oder der befreiende Gott, von dem Jesus Christus uns erzählte? Da ist die frohe Botschaft eine große Quelle, aus der man  schöpfen kann.

"Wieviel Umweltverbrauch steht mir eigentlich zu?"

1,4 Milliarden Menschen leben in extremer Armut. Das Vermögen der drei reichsten Menschen der Welt ist größer als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder. Wie lässt sich dieses Ungleichverhältnis ins Gleichgewicht bringen?

Hoppe: Das geht nur mit Umverteilungsmaßnahmen. Vom 25. bis 27. September 2015  findet in New York die Sondergipfelkonferenz der Vereinten Nationen statt, auf der neue Entwicklungsziele beschlossen werden. Es werden mehr als 150 Staats- und Regierungschefs erwartet, um die Agenda für nachhaltige Entwicklung zu verabschieden. Der Gipfel soll den Startschuss für die Umsetzung der 17 Sustainable Development Goals (SDGs) und ihrer 169 Unterziele geben. Wir finden es erstaunlich, dass man sich auf das Ziel, die Ungleichheit zwischen den Ländern und in den Ländern zu verringern, einigen konnte. National  ist das durch progressive Steuersysteme oder eine entsprechende Sozialgesetzgebung möglich. International müssten auf Ebene der Vereinten Nationen die Finanzmärkte reguliert und im Handelsrecht Ausgleichs- und Schutzmaßnahmen ermöglicht  werden. Ein Unterziel ist, dass die unteren 40 Prozent sowohl in jedem Land als auch auf die Länder bezogen in den nächsten 15 Jahren mehr zulegen sollen als die oberen 60 Prozent. Das zielt auf eine Umverteilung von oben nach unten, wenn auch im kleinen Maßstab. Die Wirklichkeit heute sieht anders aus: Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Deshalb kommt es nun darauf an, dass die neuen globalen Ziele ernstgenommen und umgesetzt werden und es tatsächlich zu einer Trendumkehr kommt.

Was kann jeder einzelne von uns in Deutschland tun, damit sich die  Lebensbedingungen aller Menschen verbessern?

Hoppe: Einerseits ist die Bundesregierung in Zusammenarbeit gefordert, in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern, den Kirchen und der gesamten Zivilgesellschaft einen Umsetzungsplan für die 17 neuen globalen Ziele in und durch Deutschland zu erarbeiten. Die Bevölkerung kann das mit kritischem Einkaufs- und Konsumverhalten unterstützen, indem sie darauf achtet, wo die Produkte herkommen und zu welchen Bedingungen sie angebaut beziehungsweise produziert werden. Im  ökologischen Bereich gibt es das Bio-Siegel, im Gerechtigkeitsbereich das Fair-Trade-Siegel. Im Internet kann jeder seinen persönlichen ökologischen Fußabdruck ermitteln. Man kann mehr Radfahren und weniger das Auto benutzen oder fliegen. Jeder muss sich die Frage stellen: Wieviel Umweltverbrauch steht mir eigentlich zu, wenn ich davon ausgehe, dass alle Menschen dieser Welt die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten? Errechnet wurde, dass es das Klima gerade noch verkraften würde, wenn jeder Mensch durchschnittlich zwei Tonnen Co2 pro Jahr produziert würde. Tatsache aber ist, dass die Deutschen durchschnittlich elf Tonnen und die Afrikaner eine Tonne Co2 pro Kopf und Jahr verursachen.

Wo sehen Sie die größte Herausforderung für die Zukunft?

Hoppe: UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon wird in seiner Eröffnungsrede erneut betonen, dass wir die erste Generation sind, die in der Lage wäre, den Hunger vollständig aus der Welt zu schaffen. Und wir sind die letzte Generation, die noch die Möglichkeit hat den Klimawandel auf ein Maß zu begrenzen, das noch beherrschbar ist. Der größte Zeitdruck herrscht beim Thema Klimawandel. Wenn wir in den nächsten 15 Jahren nicht eine Trendumkehr bewirken, haben wir wahrscheinlich keine zweite Chance mehr. Wenn die Erderwärmung auf drei bis vier Grad steigt und momentan sind wir auf diesem Pfad, dann kann das unumkehrbare Prozesse auslösen, die sich auch später mit Null-Emissionen nicht mehr aufhalten lassen. Genauso dramatisch sind die Hungerzahlen: 800 Millionen Menschen hungern weltweit und über zwei Milliarden Menschen sind armutsbedingt mangelernährt, so dass es zu gesundheitliche Schäden führt. Wenn wir die Armutsprobleme nicht lösen, wird sich auch das Flüchtlings- und Migrationsproblem weiter verstärken.