Menschen tanzen und feiern vor einem Musikzelt ausgelassen das 650. Jubiläum der Stadt Solingen. Sekunden später machen sich beim "Fest der Vielfalt" Panik und Entsetzen breit: Ein Mann sticht mit einem Messer gezielt auf Besucher ein. Eine Frau und zwei Männer sterben, zehn Menschen werden teils schwer verletzt. Mutmaßlicher Täter ist ein Islamist. Das terroristische Verbrechen vom 23. August 2024 versetzt Solingen in einen Schockzustand, stürzt Menschen in Trauer und hat weitreichende politische Folgen.
Issa al H., der als Asylbewerber aus Syrien nach Deutschland kam, muss sich seit Mai vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf für den Anschlag verantworten (AZ: III-5 St 2/25). Die Bundesanwaltschaft wirft dem heute 27-Jährigen dreifachen Mord und zehnfachen versuchten Mord vor. Sie geht von einer terroristischen Motivation aus, al H. sei Mitglied der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS). Am ersten Prozesstag gesteht der Angeklagte die Taten, eine Mitgliedschaft im IS lässt er aber zunächst offen. Das Urteil soll im September gesprochen werden.
Der Angeklagte kam Anfang 2023 nach Deutschland. Weil er über Bulgarien in die EU einreiste, hätte er eigentlich wieder dorthin abgeschoben werden sollen. Ein Versuch scheiterte, weil al H. an dem Tag nicht in seiner Unterkunft angetroffen wurde, weitere Anläufe wurden nicht konsequent verfolgt.
Diese Erkenntnisse führten zu einer hitzigen Diskussion über die deutsche Flüchtlingspolitik, Migration und Asylverfahren. Auf Landesebene stand besonders Integrationsministerin Josefine Paul (Grüne) in der Kritik. Der nordrhein-westfälische Landtag richtete einen Untersuchungsausschuss ein, um strukturelle Defizite bei Rückführungen und Abschiebehaft sowie mögliche Versäumnisse und Fehlverhalten der Landesregierung zu prüfen.
Aufgebrachte Stimmung
Forderungen nach einem grundlegenden Aufnahmestopp von Menschen aus Syrien und Afghanistan sowie nach Abweisungen an den deutschen Grenzen wurden laut. Sozial- und Migrantenorganisationen kritisierten die aufgebrachte Stimmung. Migranten würden unter Generalverdacht gestellt, kritisierte etwa die Diakonie.
Mit einem schnell verabschiedeten Maßnahmenpaket wollte die NRW-Landesregierung für mehr Sicherheit und Prävention sowie eine rigidere Steuerung der Migration sorgen. Zu den Elementen gehören unter anderem mehr Befugnisse für Polizei und Verfassungsschutz, schärfere Abschieberegeln, die Beschleunigung von Asylverfahren und eine weitere Abschiebehaftanstalt.
Auch die damalige Ampel-Koalition im Bund einigte sich auf ein "Sicherheitspaket" mit Verschärfungen des Aufenthalts- und Waffenrechts, einer Ausweitung von Messerverboten und mehr Befugnissen für Sicherheitsbehörden. Einige Pläne kamen nicht durch den Bundesrat, weil sie der Union nicht weit genug gingen.
Umstrittene Verschärfungen des Asylrechts
Zu den Verschärfungen im Asylrecht gehört die Entscheidung, dass Asylbewerber mit einigen Ausnahmen keine staatlichen Leistungen mehr bekommen, wenn nach der Dublin-Regel ein anderes europäisches Land für sie zuständig ist und die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist. Die neue Bundesregierung aus Union und SPD stieß weitere, umstrittene Verschärfungen an, etwa die Aussetzung des Familiennachzugs und Zurückweisungen auch von Asylsuchenden an deutschen Grenzen.
Die Stadt Solingen suchte derweil den Weg zurück in die Normalität. Sie habe zunächst zur Ruhe kommen müssen, um das Geschehene zu verarbeiten, sagt Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD): "Wir gedenken und erinnern uns, wir kümmern uns um die Verletzten an Seele und Leib. Aber wir lassen uns die Art, wie wir leben, nicht nehmen."
Politologe: "Anschlag war migrationspolitische Zäsur"
Der Bonner Politikwissenschaftler Volker Kronenberg ordnet den Anschlag von Solingen in eine Reihe mit Taten in anderen Städten wie Mannheim, Magdeburg oder Aschaffenburg ein. "Diese Ereignisse haben das gesellschaftliche Klima signifikant verändert, auch wenn die Hintergründe jeweils unterschiedlich waren", sagte er dem Evangelischen Pressedienst. Davon profitiert habe die AfD bei der Bundestagswahl im Februar. "In dieser politisch-psychologischen Gemengelage haben aber Umfragen auch gezeigt, dass viele Menschen finden, Humanität und Asyl gehörten zu unserer politischen Kultur", so der Politologe der Uni Bonn.
Kronenberg: "Gerade dieser Anschlag in Solingen - eine Stadt, die bereits durch die Erinnerung an den rassistischen Brandanschlag 1993 geprägt ist - wurde parteiübergreifend als Zäsur wahrgenommen". In der Folge habe sich die schwarz-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen auf ein Maßnahmenpaket geeinigt, das vorher nicht denkbar gewesen sei.
An dem Solinger Anschlag hätten sich noch einmal die massiven Defizite in der Zusammenarbeit von Behörden herauskristallisiert. Zudem habe das Ereignis die Dysfunktionalität des Zusammenspiels von nationalen und europäischen Regelungen hervorgehoben.
Umfragen zeigten, dass die Reaktion der Landesregierung von großen Teilen der Bevölkerung positiv aufgenommen worden sei, erklärte der akademische Direktor des Bonner Instituts für Politikwissenschaft. "Vor dem Hintergrund der darauf erfolgten Bundestagswahl im Februar habe ich den Eindruck, dass Politik auf Landesebene da offenbar im Sinne der Menschen praktisch-verantwortungsbewusst und konsensorientiert agiert hat." Das werde auch daran deutlich, dass die AfD in NRW, auch im strukturschwachen Ruhrgebiet, weniger von der Migrationsdebatte profitiert habe als in anderen Teilen Deutschlands.