November: Allerheiligen und Allerseelen. Die Lebenden besuchen ihre Toten. Mit Blumen, Kränzen, Weihrauch, Tränen. Wir trauern um die, die wir verloren haben. Familienmitglieder, Freundinnen, Freunde, Bekannte. Da weint auch Gott – mit uns.
Es ist, wie Erich Kästner es beschrieb:
Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor ...
Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.
Die Wälder weinten. Und die Farben starben.
Nun sind die Tage grau wie nie zuvor.
Und der November trägt den Trauerflor.
November: Totensonntag. Kerzen werden in den Kirchen angezündet. Für die Toten aus dem letzten Jahr. Dazu ein Todestag. Ein Mord aus Sippenhaft; ein Mord und Hass. Da ist nichts gut. Da wird nichts gut. Da ist kein Gott.
Es stimmt, was Kästner schrieb:
Was man besaß, weiß man, wenn man's verlor.
Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.
Es regnet, Freunde. Und der Rest ist Schweigen.
Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.
Und der November trägt den Trauerflor.
Wer hat den Monat bloß erfunden?
Und noch etwas ist im November: Volkstrauertag, der längst die Welt erfasst und ein Welttrauertag geworden ist. Der Bundespräsident spricht das Totengedenken in Berlin: „Unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.“
Wer kann das schon leisten? Die Politik ist überfordert, die nationale genauso wie die internationale Gemeinschaft. Ich denke an die Lage im Nahen Osten, an den Krieg gegen die Ukraine, an Myanmar, an die vielen Konflikte in Afrika. Wenn aber die Politik schon an ihre Grenzen stößt, was können wir dann tun, Menschen wie du und ich? Wir können Kriege nicht verhindern. Doch wir können uns wehren. Im Inneren. Gegen Hass und Lügen. Gegen Antisemitismus und Rassismus. Gegen Gleichgültigkeit und Feigheit. Auch wenn das manchmal nicht so einfach ist.
Mir hilft die Rede, die Marcel Reif bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Januar 2024 hielt. Er sagte: „Wenn Sie es mir erlauben und wenn Sie mögen – gerade heute aus diesem Anlass und gerade hier in diesem höchsten deutschen Hause –, dann lass' ich Ihnen den kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz, den mein Vater, Leon Reif, gesagt hat, hier: ‚Sej a Mensch!‘ – ‚Sei ein Mensch!‘“
Ein Mensch zu sein heißt, menschlich zu sein. Wenn uns das gelingt, sind wir dem Frieden ein bisschen nähergekommen. Dann wird vielleicht auch Gott nicht länger weinen. Dann wird er womöglich sogar lächeln. Und dem Trauerflor-November trotzen.


