Der Historiker und diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Karl Schlögel, rief am Sonntag bei der Preisverleihung in der Paulskirche in Frankfurt am Main dazu auf, von den Erfahrungen der Menschen in der Ukraine zu lernen. Die Ukrainer hätten gelernt, dass sich Aggressoren nur mit Worten nicht aufhalten ließen, und dass es nur den Appetit der Aggressoren steigere, wenn man ihnen entgegenkäme, sagte der Historiker: "Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat." Europa sei heute nicht nur mit einem imperialen Russland konfrontiert, sondern auch mit einem unberechenbaren Amerika "in einer Situation, in der alles offen ist".
Deutschland habe erstaunlich lange gebraucht, um zu verstehen, womit man es mit dem Russland unter Präsident Wladimir Putin zu tun habe. "Es gibt in Deutschland viele Russland-Versteher, aber zu wenige, die von Russland etwas verstehen", sagte er. Er gab zu, dass auch er sich nicht habe vorstellen können, "dass Russland zurückfallen könnte in Zeiten, die in vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen". Doch spätestens mit der Annexion der Krim 2014 habe Putin das "Tor zu einer neuen Vorkriegszeit aufgestoßen".
Die russische Kriegsführung nannte Schlögel einen "Urbizid": Städte würden zum Terrain, wo mit Drohnen und Raketen Jagd auf Menschen gemacht werde. Dem Volltreffer auf ein Wohnhaus folge der Volltreffer auf die Rettungskräfte. "Wenn man ein Land nicht erobern kann, muss man es zerstören", charakterisierte der Preisträger das russische Vorgehen.
Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja lobte, der Historiker wolle in seiner Arbeit nie die menschliche Dimension aus den Augen verlieren. In ihrer Laudatio erinnerte sie daran, dass Schlögel sich kurz nach dem russischen Vollangriff auf die Ukraine 2022 dafür um Verzeihung gebeten habe, dass er diesen Krieg nicht habe kommen sehen. Auf eine solche Bitte um Entschuldigung von Politikern und Politikerinnen, die Putin auch nach der Krim-Annexion weiter hofiert hätten, warte sie bis heute, sagte Petrowskaja.
Der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef (SPD) sagte, Schlögel gehe anders vor als die meisten Historiker. Er lese Geschichte aus Städten, spreche mit Menschen, reise zu Schauplätzen. Er sei auch bereit, seine Standpunkte zu ändern, wenn sie sich als unzutreffend erwiesen hätten. Der Friedenspreis wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert. Die Auszeichnung wird traditionell am letzten Tag der Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche verliehen. Im vergangenen Jahr wurde die amerikanisch-polnische Journalistin und Historikerin Anne Applebaum ausgezeichnet.