Zachäus und die Scham

Zachäus und die Scham
Baum
©Kerstin Söderblom
Jesus ging direkt zu dem Baum, in dem Zachäus saß, schaute auf und sagte klar und deutlich, dass er noch am selben Tag in sein Haus kommen wollte.
Eine Geschichte in der Bibel, in der Gefühle von Scham besonders deutlich werden, ist die Geschichte vom Zöllner Zachäus (Lukas 19,1-10). Auch für queere Menschen ist Scham ein bekanntes Thema.

Zachäus wurde von den Menschen aus seiner Stadt Jericho nicht respektiert. Denn er war Zöllner bzw. Steuereintreiber. Ihm wurde nachgesagt, dass er aus seinem Beruf Vorteile zog und betrügerisch handelte. Als Jesus eines Tages nach Jericho kam, kletterte Zachäus auf einen Maulbeerbaum am Wegesrand und versteckte sich dort. Im Bibeltext heißt es, dass er klein von Gestalt war. Vom Baum aus konnte er besser sehen. Für ihn war aber fast noch wichtiger: Er konnte so weder von den Bewohner*innen der Stadt noch von Jesus gesehen werden. Zachäus wusste, dass die Leute ihn nicht mochten. Wegen seines Berufs schämte er sich. und sein Selbstwertgefühl war minimal. Er versteckte sich lieber und lebte ganz offensichtlich allein und ohne Wertschätzung oder Anerkennung.

Viele Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter* Personen (LSBTI*) kennen dieses Gefühl. Anders als Zachäus haben sie per se keinen zweifelhaften Beruf oder auch nichts Verwerfliches getan. Dennoch schämen sich viele. Manchen ist es unangenehm, dass sie lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* sind. Denn sexuelle Vielfalt und nicht-binäre Geschlechtsidentitäten sind gesellschaftlich und kirchlich immer noch umstritten oder schambesetzt. In zahlreichen religiösen Kreisen sind sie noch lange nicht anerkannt. Andere haben immer noch Angst zu zeigen, wen sie lieben oder mit welcher Geschlechtsidentität sie sich wohlfühlen. Sie kämpfen mit Scham und Minderwertigkeitsgefühlen. Genau wie Zachäus.

Sie erfahren jeden Tag, dass auf sie herabgeschaut wird, dass man sich über sie lustig macht oder sie sogar attackiert und ausgrenzt. Oft haben sie Mühe, sich selbst zu akzeptieren. Tief verinnerlichte Homo- oder Trans*phobie sind lweit verbreitete Herausforderungen und gerade für LSBT* Personen aus stark religiösen Familien ein enormes Problem. Familien, Schulklassen, Peergroup oder berufliches Umfeld vermitteln vielen selbst im 21. Jahrhundert noch zu oft, dass sie irgendwie komisch oder pervers sind und nicht wirklich dazu gehören. Einige religiöse Gruppierungen nennen sie sündig oder verdammen sie sogar.

Als Jesus vorbeikam, ging er direkt zu dem Mailbeerbaum hin, in dem Zachäus saß, schaute auf und sagte klar und deutlich:

"Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren!" (Lukas 19,5b)

Jesus wollte noch am selben Tag in sein Haus kommen. Was für eine Ansage! Die Menschen in der Menge reagierten verärgert darauf. Wieso wollte Jesus denn ausgerechnet ins Haus von Zachäus gehen? Der war doch ein Sünder und Betrüger, ein Halsabschneider und ein schlechter Mensch!  Ein Ärgernis für sie.

Zachäus reagierte dagegen erstaunt und mit Freude auf die Einladung von Jesus. Mit neuem Schwung sprang er vom Baum herunter und rannte nach Hause. Er wollte alles für den Besuch von Jesus vorbereiten. Auffällig ist, dass Jesus von da an bis zum Ende der Geschichte nichts mehr sagte. Das einzige, was Jesus  zum Schluss sprach:

"Heute ist diesem Haus (von Zachäus) Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams (Lukas 19,9)."

Jesus sah Zachäus an und sprach ihn an. Das reichte aus, um Zachäus völlig zu verwandeln. Zachäus versteckte sich nicht mehr, sondern sprang vom Baum herunter und freute sich. Jesus veränderte sein Leben. Auch weil er sagte, dass er selbstverständlich dazu gehörte. Und das alles, obwohl Zachäus unbeliebt war und er sich selbst als unwürdig ansah. Jesus rehabilitierte ihn vor allen Leuten, indem er ihn als „Sohn Abrahams“ bezeichnete. Zachäus war auch ein Bürger Israels und Nachfahre Abrahams. Was man dazu wissen muss und was die Menschen damals wussten: Abraham war der Urahne Israels und Empfänger von Gottes Segen und seinen Verheißungen.

Die Einwohner*innen von Jericho mochten das nicht. Sie empörten sich darüber. Sie tuschelten hinter seinem Rücken. Aber sie kritisierten Jesus nicht laut. Sie hielten ihn auch nicht davon ab zu Zachäus zu gehen. Und Jesus ließ sich nicht abhalten. Er machte seinerseits klar: Egal, was Zachäus gemacht oder nicht gemacht hatte. Zachäus hatte sich nie außerhalb des Bundes von Gott mit seinem Volkes Israel befunden. Zachäus hatte einen unpopulären Beruf, und er war nicht beliebt. Aber er gehörte dazu, wie alle anderen auch. Daher sollte er sich nicht länger schämen.

Es wäre eine spannende Frage, was passieren würde, wenn Jesus heute in die Wohngemeinschaft von einigen LSBTI* Leuten zu Besuch kommen würde. Ich stelle mir das so vor: Die Leute drumherum wären empört. Wieso geht der Jesus denn ausgerechnet zu diesen perversen Mannweibern, Schwuchteln und Transen? Was will er denn da? Die haben es doch gar nicht verdient. Er könnte doch stattdessen zu uns kommen!

In der queeren Wohngemeinschaft wäre dagegen Hochbetrieb: Sie würden aufräumen, Musik anmachen, etwas leckeres zu Essen kochen und einige Flaschen Wein und Bier kalt stellen. Sie wären aufgeregt. Denn der Besuch von so einer bedeutsamen Persönlichkeit würde ihnen deutlich zeigen: Wir fühlen uns zwar manchmal minderwertig und beschämt, weil viele uns für pervers oder sogar für krank halten. Aber wir sind genauso viel wert wie alle anderen auch. Dieser Jesus sieht uns an, wie wir sind und akzeptiert uns. Jesus besucht uns, will mit uns essen und reden. Wow! Wie cool ist das denn?! Wir sind vor Jesus weder zweiklassig noch krank oder pervers. Das muss gefeiert werden!

Trotz aller Widrigkeiten rehabilitierte Jesus den Zachäus und stellte klar, dass auch er ein Sohn Abrahams war. Die Mahlgemeinschaft Jesu mit Zachäus gab ihm die Chance, sich gesehen zu fühlen. Er spürte Wertschätzung. Einfach, weil Jesus da war. Es half ihm, seine Scham hinter sich zu lassen und sein Leben zu verändern, innerlich vor sich selbt und äußerlich vor und mit den anderen. Zachäus wurde von Jesus gesehen und anerkannt. Das war für ihn eine ganz neue und damit lebensverändernde Erfahrung. Er versprach daraufhin, Geschädigten Geld zu spenden und für finanzielle Übervorteilungen aufzukommen.

Erfahrungen von Respekt und Anerkennung können auch für queere Menschen lebensverändernd und befreiend sein. Natürlich dauert es je nach Lebensgeschichte viel länger, Scham und Verunsicherung hinter sich zu lassen. Und es dauert nochmal länger, im Laufe der Zeit Stolz auf das eigene Leben und Selbstakzeptanz einzuüben. Für manche ist es eine lebenslange Herausforderungen. Andere brauchen dafür therapeutische Begleitung. 

Was aber sicher ist: Wenn Menschen gesehen, ernst genommen und anerkannt werden, dann hilft es fürs eigene Leben und stärkt das Selbstwertgefühl. Jesus bezeichnete es als Heil für das Haus von Zachäus. Und er hatte recht: Gesehen und akzeptiert werden, ist heilsam. Klar, es gibt es keine Garantie und auch keinen Zaubertrank dafür. Aber es hilft, Scham und Unsicherheit abzubauen und stärkt Körper, Geist und Seele.

 

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