"Mehr über Lösungen reden, weniger über die AfD"

Thomas de Maizière
© epd-bild/Tim Wegner
Der CDU-Politiker und ehemalige Kirchentagspräsident Thomas de Maizière
Thomas de Maizière
"Mehr über Lösungen reden, weniger über die AfD"
Die demokratischen Parteien dürften sich nicht nur an der AfD abarbeiten, sagt Thomas de Maizière. Der CDU-Politiker und ehemalige Kirchentagspräsident macht sich trotzdem Gedanken über die konkreten Folgen, die ein AfD-Wahlerfolg in Thüringen, Sachsen und Brandenburg hätte.

Sie werden am 21. Januar 70 Jahre alt. Fühlen Sie sich als Rentner?

Thomas de Maizière: Ich bin im Rentenalter und habe mit einigen Ehren- und Nebenämtern insgesamt einen unregelmäßigen Acht-Stunden-Tag. Damit bin ich so aktiv wie wahrscheinlich viele andere Rentner auch.

Anders gefragt: Die gesellschaftliche und politische Stimmung ist derzeit besonders gereizt, spürbar etwa bei den Protesten der Bauern. Fühlen Sie sich gebraucht?

de Maizière: Nein, operativ müssen das jetzt andere machen. Ich möchte allerdings auch die derzeitige Stimmung nicht überbewerten. Wir haben aktuell eine Auseinandersetzung um Haushaltsfragen und Subventionen. Das ist schlecht gelaufen, auch für die Regierung. Das ist aber nichts extrem Ungewöhnliches. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht bei jeder harten politischen Auseinandersetzung gleich die Gesellschaft bedroht sehen. Nur Fortissimo bekommt der Musik auch nicht.

Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist es also nicht schlecht bestellt?

de Maizière: Doch, aber nicht wegen der Bauernproteste. Ich glaube nicht, dass wir eine gespaltene Gesellschaft sind. Wir sind eher eine zersplitterte Gesellschaft, in der verschiedene Strömungen nebeneinander her arbeiten. Ich würde mir sogar wünschen, wir hätten eine große inhaltliche Debatte - meinetwegen über die Schuldenbremse oder darüber, ob der Staat alle großen Risiken finanziell abfangen kann. Stattdessen haben wir zersplitterte Diskussionen mit übertriebenem Sprachgebrauch, Empörungswellen, mit Hass und Hetze.

Wer soll solche Debatten organisieren in einer pluralen Gesellschaft, in der Mediennutzung inzwischen sehr divers ist?

de Maizière: Das ist tatsächlich schwieriger als früher. Selbst wenn der Bundeskanzler eine große Rede hielte, bekäme er trotzdem nur anderthalb Minuten in der "Tagesschau" und eine Titelseite einer Zeitung, die kaum noch einer liest. Debattenkultur ist aber nicht nur eine Aufgabe der Politik, sondern der Gesellschaft insgesamt. Auf die Regierung zu schimpfen, ist bequem.

"Man geht einem Streit in der Sache aus dem Weg. Das hilft nur denen, die daran nicht interessiert sind"

Wir könnten aber auch über die nicht-politischen Anteile diskutieren: Informieren wir uns genug - in Zeiten, wo man sich besser informieren kann als jemals zuvor in der Geschichte? Oder bekräftigen wir nur gegenseitig unsere Meinungen? Arbeiten wir genug? Sind wir ehrgeizig genug? Wie geht nicht nur die Bildungspolitik, sondern wie gehen Eltern mit den PISA-Ergebnissen um? Es gibt viele Dinge, wo wir selbst etwas tun können.

Die Proteste der Landwirte haben aber durchaus polarisiert. Einige sagen, es sei ungerecht, dass sie mit Blockaden ihre Ziele weitgehend erreicht haben, während die "Letzte Generation" kaum Gehör findet. Ist das ein zulässiger Vergleich?

de Maizière: Vieles ist vergleichbar, anderes nicht: Wir reden bei den Landwirten über angemeldete Demonstrationen, bei den Klima-Klebern nicht. Beides sind unterm Strich extensive Demonstrationen. Eine Demokratie kann das aber aushalten.

Die Proteste der Landwirte wurden in einigen Orten von rechten Kräften unterwandert. Berichte darüber gab es vor allem aus Sachsen. Wie erleben Sie das?

de Maizière: Nach allem, was ich vor Ort höre, ist die Aufregung darüber größer als der Sachverhalt. Ich beobachte insgesamt einen Mechanismus, den wir vermeiden sollten: Man geht einem Streit in der Sache aus dem Weg, indem man über die Methode, den Sprachgebrauch, die Attitüde und die Fremdnutzung diskutiert. Das hilft nur denen, die an Sachthemen nicht interessiert sind.

"Nicht einmal ihre Wählerinnen und Wähler trauen der AfD Lösungen zu"

Sehen Sie Sachsen da besonders an den Pranger gestellt?

de Maizière: In der Tat werden seit dem Beginn von Pegida diese Themen stellvertretend immer am Beispiel von Sachsen diskutiert. Die Sachsen sind ein bisschen wie die Franzosen: schnell auf der Straße, schneller politisch empört. Was ich sehr gut fand: Insbesondere viele junge Landwirte haben hier gesagt: Wir wollen diese Instrumentalisierung nicht, sondern wir wollen selbst mit unseren Anliegen gehört werden.

Nicht nur Sachsen wählt in diesem Jahr einen neuen Landtag, auch Thüringen und Brandenburg. Die AfD erzielt hohe Werte in Umfragen. Wie blicken Sie auf die Wahlen?

de Maizière: Ich sehe sie mit Sorge. Das gilt insbesondere für Thüringen, weil es dort keinen starken Ministerpräsidenten der Volksparteien CDU und SPD wie in Sachsen und Brandenburg gibt und die Linke zudem Probleme hat, auch durch die neue Partei von Sahra Wagenknecht. Wenn man jetzt aber einen angstbesetzten Wahlkampf führt, ist der Nutznießer die AfD. Immer dann, wenn nur über die AfD diskutiert wird, hilft es ihr.

Was wäre stattdessen richtig?

de Maizière: Man muss sich natürlich klar und eindeutig abgrenzen. Im Übrigen sollte man aber darüber streiten, welches die besten Lösungen für die Zukunft von Sachsen, Brandenburg oder Thüringen sind. Je mehr das passiert, desto schlechter ist das für die AfD. Sie hat nämlich keine realistischen Lösungsansätze. Nicht einmal ihre Wählerinnen und Wähler trauen der AfD Lösungen zu. Sie lebt von der Ablehnung der anderen Parteien. Sie saugt Wut und Frust auf.

"Es könnte ein Problem für die Handlungsfähigkeit der Politik geben"

Heißt das, Sie würden auch vom Versuch eines AfD-Verbots abraten, weil man dann auch wieder vor allem über die AfD redet?

de Maizière: Ja, auch weil ein Verbotsverfahren lange dauert. Und das Schlimmste wäre, wenn die AfD das Verfahren wie damals die NPD auch noch gewinnen würde. Die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts sind hoch.

Sie waren Bundes- und Landesminister in verschiedenen Ressorts. Angenommen, die AfD käme in Regierungsverantwortung: Was droht konkret?

de Maizière: Das sehe ich nicht, weil keine der anderen Parteien bereit ist, mit der AfD zu regieren oder sie zu tolerieren. Schwierig genug finde ich schon die Frage, ob ein AfD-Vertreter Landtagspräsident wird, wenn die AfD die stärkste Partei werden sollte. Das ist ein Dilemma, weil die Vorstellung schlimm ist, es aber auch um jahrzehntealte parlamentarische Rechte geht.

Es zeichnet sich auch ab, dass in einigen Ländern keine Zwei-Drittel-Mehrheiten gegen die AfD mehr möglich sein werden. Die braucht man zum Beispiel für Richterwahlen in Sachsen oder andere Personalentscheidungen. In wichtigen Fragen könnte es dann ein Problem für die Handlungsfähigkeit der Politik geben.

"Das Argument ,Die Regierung ist schlecht' ist nicht besonders originell"

Wie viel Schuld trägt nach Ihrer Einschätzung die Ampel-Koalition an der Beliebtheit der AfD?

de Maizière: Das Wort Schuld finde ich hier unpassend. Es geht um Verantwortung und Ursachen. Wenn eine Regierung nicht erfüllbare Erwartungen weckt, die sie dann nicht einlösen kann, entsteht ein Problem. Die Ampel-Regierung hat nach 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierung versprochen, es wird alles neu und besser. Und das ist nicht der Fall. Allerdings muss man dazu sagen: Die Krisenbündelung, für die die Ampel nichts kann, macht eine besondere Wucht der Probleme aus.

Macht es Ihre Partei in der Opposition besser?

de Maizière: Zu erwarten, dass eine Partei, die 16 Jahre regiert hat, innerhalb von zwei Jahren personell neu und programmatisch tipptopp aufgestellt ist, wäre zu viel verlangt. Das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Union wird besser, gut ist sie aber noch nicht. 70 Prozent der Bürger sind laut aktuellen Umfragen nicht zufrieden mit der Regierung. Da ist das Argument der Opposition "Die Regierung ist schlecht" nicht besonders originell. Auch sie sollte konkreter sagen, wie sie es realistisch besser machen würde.

Sie waren zuletzt Kirchentagspräsident und engagieren sich dort weiter. Der Kirchentag lehnt Gespräche mit AfD-Vertretern auf Podien ab, betont aber, mit potenziellen Wählerinnen und Wählern ins Gespräch kommen zu wollen. Gelingt das?

de Maizière: Es gelingt zunehmend weniger. Wir sind zwar immer noch die größte zivilgesellschaftliche Zusammenkunft, aber es kommen natürlich eher diejenigen, die uns gegenüber positiv gestimmt sind. Massenveranstaltungen sind wahrscheinlich auch nicht der Ort dafür. Das gelingt eher, wenn man wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) von Dorf zu Dorf zieht. Und da muss man sagen: Kirchen sind trotz aller Probleme noch immer eine der größten dezentral organisierten Vertriebsorganisationen in unserem Land, sichtbar bis in jede Ecke unseres Landes. Das könnten und müssen sie mehr nutzen.