Soziologe mahnt zu Balance zwischen Infektionsschutz und sozialem Leben

Abstandsschild in der Kirchenbank
© Zauberbart / Photocase
Ein pandemie-sensibler Normalbetrieb muss das Ziel in unserer Gesellschaft sein, auch was Kirchengemeinden betrifft, meint der Göttinger Soziologe Berthold Vogel. An Abstand in Kirchenbänken haben sich viele Kirchgänger gewöhnt.
Soziologe mahnt zu Balance zwischen Infektionsschutz und sozialem Leben
"Ohne Einrichtungen wie Vereine und Kirchen zerfällt Zusammenhalt"
Der Göttinger Soziologe Berthold Vogel hat im Blick auf die künftige Pandemie-Bekämpfung gefordert, neben der Gesundheit auch das soziale Leben, auch in Kirchengemeinden, zu schützen. "Wir müssen es nach den Monaten der Beschränkungen und Schließungen wagen, die Güter abzuwägen", sagte Vogel dem epd.
07.09.2020
epd
epd-Gespräch: Urs Mundt

"Inzwischen wissen wir, dass nicht jeder Infektionsfall gleich zum totalen Kontrollverlust führt. Wir müssen pragmatische Lösungen finden, damit das gesellschaftliche Leben vor Ort, in der Stadt, auf dem Land, in der Nachbarschaft und in Vereinen wieder stattfinden kann", betonte Vogel. Ein pandemie-sensibler Normalbetrieb müsse das Ziel sein, auch wenn der Weg dahin schwierig sei.

Der Soziologe bezog sich dabei auf Einrichtungen wie Schulen, Kindertagesstätten, Vereine, Gewerkschaften und Kirchengemeinden. Ohne solche Orte zerfiele der gesellschaftliche Zusammenhalt, erläuterte er. Nur dort könnten Menschen auch jenseits von Familie, Arbeit und Freundeskreis Anteil am Leben der Mitbürger nehmen und solidarisch miteinander sein. Andernfalls wirke das Virus wie ein Trennungsbeschleuniger, der die gesellschaftliche Ungleichheit verstärke und Vereinzelung und Vereinsamung befördere. Das gelte es auch mit Blick auf eine bevorstehende Wirtschafts-Rezession und zu erwartende Verteilungskonflikte abzuwenden.

Pandemie zeigt, wie groß Sehnsucht nach persönlicher Begegnung ist

Vogel forscht zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Betrieben, in Haushalten und im Leben auf kommunaler Ebene. Seine Forschungen hätten gezeigt, wie sehr die Kontaktbeschränkungen die Sozialbeziehungen belasten und gemeinsames Handeln erschweren. "Das sagen uns viele Menschen: vom Ortsbürgermeister über die Theaterleiterin bis zu den Betriebsräten der IG-Metall", berichtete er. "Die Pandemie zeigt uns, wie groß unsere Sehnsucht nach persönlicher Begegnung ist. Wir entdecken plötzlich, wie wichtig leibliche Präsenz für ein lebendiges und verbindliches Miteinander ist."

Digitale Kommunikationsformen wie Video-Konferenz oder E-mail seien hierfür kein Ersatz. Vogel nannte ein Beispiel aus seinem Arbeitsalltag: "Zu einer guten Besprechung gehört auch das informelle Gespräch am Rande. Eine gewisse Albernheit und Humor sind manchmal nötig, um den Kopf zu entspannen, die Fantasie anzuregen. Nur so können dann auch wieder ernsthafte Fragen diskutiert werden." Auch jedes noch so beiläufige Gespräch im Treppenhaus oder in der Nachbarschaft trage zur Beziehungspflege bei.