Leander Kress: Auf einem Bein rasant unterwegs

Leander legt sich in die Kurve
Foto: CJD/Eduard Gossner, Animation: Lena Christin Ohm
Je schneller Leander ist, desto sicherer schafft er es durch die Kurven.
Leander Kress: Auf einem Bein rasant unterwegs
Leander ist ihn gegangen: Den Weg vom Jungen, dem wegen einer Krebserkrankung das rechte Bein amputiert wurde, zu einem jungen Mann, der als „Einbeiner“ im Weltcup Ski fährt. Und als Botschafter der Deutschen Krebshilfe engagiert sich der Schüler für die Krebsprävention und macht anderen Kindern mit einem ähnlichen Schicksal Mut. Denn für ihn zählen nicht nur Worte, sondern auch Taten.

Konzentriert wartet Leander Kress auf das Startsignal. Ein letztes Mal Schultern durchdrücken und den Sitz der Ski-Ausrüstung überprüfen. Dann volle Konzentration. Vor ihm den Hang hinab erstreckt sich die in der Sonne weiß glitzernde Skipiste, gespickt mit roten und blauen Toren. Die gilt es gleich mit Höchstgeschwindigkeit zu umfahren. Das Startsignal ertönt. Kraftvoll stößt Leander sich ab und nimmt Geschwindigkeit auf. Der Fahrtwind peitscht ihm ins Gesicht. Geschmeidig legt sich der 18-Jährige mal rechts und mal links in die Kurve. Fast sieht es so aus, als würde er jeden Augenblick ausrutschen und fallen, so schräg liegt er. Doch Leander behält die volle Kontrolle. Keine 45 Sekunden später ist sein Riesentorlauf bei den CJD Winterspielen auch schon wieder vorbei.

"Vor dem Rennen bin ich nie entspannt, da geht mir schon jedes Mal die Düse. Da kriege ich Herzklopfen und spüre das Adrenalin in meinem ganzen Körper. Eigentlich mag ich das Gefühl vorm Start gar nicht", gesteht Leander, der seit September 2018 Schüler am CJD Winterelitesport-Internat in Berchtesgaden ist, nach seinem Lauf. "Aber ich liebe das Gefühl, wenn ich im Ziel ankomme und das Publikum klatscht oder wenn ich anhand meiner Zeit sehe, dass ich wieder etwas besser geworden bin." Das Publikum der CJD Winterspiele im Zieleinlauf staunt nicht schlecht, als es realisiert, wer da in einer so guten Zeit den Hang heruntergerast ist. Denn Leander Kress fährt nur auf einem Ski.

Hier am Götschen trainiert Leander regelmäßig, seit er auf das CJD-Internat in Berchtesgaden geht.

 "Als ich sieben war, wurde in meinem rechten Oberschenkel Krebs entdeckt", erzählt Leander freimütig. Die Diagnose: Ein Ewing-Sarkom. Dieser bösartige Tumor ist die zweithäufigste Art von Knochenkrebs im Kindesalter. Leanders Vater, Joachim Kress, erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sich das Leben seines Sohnes schlagartig geändert hat: "Es war nicht so, als hätte sich die Diagnosefindung über lange Zeit hingezogen. Wir haben sie innerhalb eines halben Tages gekriegt. Wir haben es bloß nicht glauben wollen." Schon an diesem Nachmittag schlagen die Ärzte der Familie die Therapieformen vor – darunter die Amputation von Leanders rechtem Bein. Joachim Kress und seine Frau Gabi Hausmann-Kress haben in dieser schwierigen Zeit sehr zu kämpfen. "Es hat vier, fünf Monate gedauert, bis wir es akzeptiert haben", erzählt Leanders Vater.

Leanders Vater Joachim Kress über die neugewonnene Selbstständigkeit seines Sohnes.

Die Krankheit und die Amputation schweißen die Familie enger zusammen. Leander muss mit sieben Jahren quasi nochmal neu laufen lernen. "Als Kind habe ich das eigentlich gut angenommen und habe halt gemacht, was gemacht werden musste", sagt der 18-Jährige rückblickend. Seine Mutter kann das bestätigen: Leander sei schon immer ein selbstbewusstes, starkes Kind gewesen und genau so sei er auch durch die Krankheit hindurch geblieben. "Leander wusste immer, wo er steht – ob mit beiden Beinen oder mit einem", sagt Gabi Hausmann-Kress. Und auch Leander selbst meint: "Meine Eltern hatten da mehr zu kämpfen als ich, für die war die Entscheidung auch sehr schwer, das Bein amputieren zu lassen."

Durch Zufall entdeckt Joachim Kress im Internet ein Reha-Angebot des Uniklinikums Münster für Kinder, die den Krebs besiegt haben und unter ihren neuen Lebensbedingungen Skifahren lernen können. Mit acht Jahren steht Leander dort zum ersten Mal auf einem Ski und hat nicht nur unheimlich viel Spaß dabei, sondern auch Talent.

Karl Lotz über seine Zeit als Leanders Trainer und seine Einschätzung zu dessen Talent.

Recht schnell entwickelt sich Leander so weit, dass er Teil der gerade frisch aufgebauten paralympischen Trainingsgruppe von Karl Lotz wird, die sich mehrmals im Jahr zum Training trifft. Lotz sitzt selbst seit einem Autounfall im Rollstuhl, wurde im Monoski Weltmeister und hat bei den Paralympics Medaillen geholt. Obwohl er Leander nicht mehr direkt trainiert, hat er noch heute viel Kontakt zur Familie Kress und erinnert sich gern an die Anfangszeit der Trainingsgruppe. "Wir hatten das große Glück, dass wir noch zwei Jungs mit einem ähnlichen Handicap wie Leander dabei hatten und da hat man gesehen, wie die sich gegenseitig pushen, wie sie Spaß haben und wie sie sich unglaublich entwickelt haben", sagt Lotz.

Leander Kress erklärt, wie das Skifahren als "Einbeiner" funktioniert und wann er zuletzt beim Skifahren übermütig geworden ist.

Dabei ging es ihm und den anderen Co-Trainern nie nur darum, die Jungen und Mädchen für den Para-Sport fit zu machen. Die regelmäßigen Trainingstreffen hätten auch eine soziale und psychologische Komponente gehabt – sowohl für die Kinder als auch für die Eltern. "Erstmal sind die Familien in so einer Situation traumatisiert und haben Angst um die Perspektiven und Möglichkeiten ihres Kindes", schildert Karl Lotz seine Erfahrungen. "Wenn sie dann aber sehen, dass es voran geht und dass ihre Kinder durch den Sport neues Selbstbewusstsein fassen, dann hilft es der gesamten Familie, Zuversicht zurückzugewinnen." Außerdem sei es für manche Familien auch hilfreich gewesen zu sehen, dass es andere in einer ähnlichen Situation gibt. Eltern, für die die Situation noch neu war, konnten sich Tipps von den "Erfahreneren" geben lassen und bekamen so das Gefühl, nicht allein zu sein. Und in den Trainern gab es Vorbilder für die Kinder für ein erfolgreiches, selbstständiges und erfülltes Leben mit Behinderung.

Für die Kinder und Jugendlichen habe der Sport eine neue Spielwiese geschaffen, auf der sie sich austoben, die Grenzen ausloten und sich miteinander messen konnten. Denn mit Handicap sei man im Sportverein häufig das schwächste Glied in der Kette, in der Trainingsgruppe, in der alle mit unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen dabei gewesen seien, sei das Handicap am Ende erst relativ und danach egal geworden. "Der Sport ist ein tolles Medium, das Menschen zusammenbringt und sie gemeinsam schöne Erlebnisse haben lässt", sagt Karl Lotz.

Das sieht Leander genauso. Für ihn ist das Skifahren auf einem Bein statt mit einer Prothese ein grandioses Erlebnis: "Das Kurven auf der Kante macht mir unheimlich viel Spaß. Schnell zu fahren, aber immer die Kontrolle über den Ski zu haben und jederzeit zu wissen, jetzt mache ich die Kurve und der Ski macht das, was ich will." Angesichts des hohen Verletzungsrisikos schwanken Leanders Eltern beim Anblick ihres Sohnes, wie er mit hoher Geschwindigkeit den Hang herunterbrettert, zwischen Stolz und Besorgnis. "Es ist schon eine Augenweide, zu sehen, wie er als Einbeiner den Hang herunterfährt. Das kann nicht jeder", sagt Joachim Kress. "Aber die Angst, dass ihm was zustoßen könnte, fährt immer mit", ergänzt Gabi Kress-Hausmann. Leander nimmt die Sorgen seiner Eltern nicht ganz so ernst. "Manchmal sagen sie mir, dass ich nicht so schnell fahren soll und dass ihnen schon ein bisschen unwohl ist, wenn sie mich so schnell sehen - aber das gehört halt dazu", sagt er und fügt schulterzuckend hinzu: "Wer langsam ist, verliert".

Mittlerweile fährt Leander seit neun Jahren als "Einbeiner" Ski, mit 14 Jahren kam das erste internationale Rennen, im Jahr 2018 wurde er zum wiederholten Male bei den offenen deutschen Meisterschaften des Deutschen Behindertensportverbandes Jugendmeister im Slalom und Vize-Meister im Riesenslalom. Und seit wenigen Wochen tritt er nicht nur im Europacup, sondern dank einer Wildcard auch im Worldcup an. "Es ist schon cool, im Nationalkader mit Paralympics-Siegern wie Anna Schaffelhuber zu trainieren, ab und zu mal Tipps von denen zu ergattern oder mit ihnen Späße zu machen", sagt Leander. Seine großen Ziele sind vordere Platzierungen im Weltcup und eine Medaille bei den Paralympics. Das wäre für den CJD-Schüler, der auch hin und wieder mit seinen nicht-behinderten Schulkollegen Konditionstraining absolviert oder mit ihnen auf der Piste unterwegs ist, die Erfüllung eines Traumes.  

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Leanders Eltern konnten über Jahre beobachten, wie ihr Sohn aus einem schweren Schicksalsschlag das Beste gemacht hat. "Er hat an Selbstbewusstsein dazu gewonnen", so Joachim Kress. "Vor vier Wochen hat er es sogar so ausgedrückt: ‘Zum Glück hab ich nur ein Bein, darum bin ich so weit gekommen im Sport. Denn im Nicht-Behindertenbereich gibt's schon sehr, sehr viel mehr Konkurrenz‘."

Auch wenn es vielleicht zahlenmäßig im Parasport-Bereich weniger Konkurrenz gibt, so war der Weg zum erfolgreichen Para-Sportler trotzdem kein leichter. Das gibt Leander offen und ehrlich zu. "Am Anfang ist es echt hart und total anstrengend, auf einem Bein Ski zu fahren", gesteht er und erzählt, dass der Rennschuh extrem hart und dementsprechend schmerzhaft unbequem sei. "Vor allem, wenn man mit dem ganzen Gewicht auf einem Bein, auf dem einen Schuh steht. Das tut mir manchmal sehr weh." Nach einem halben Tag sei man eigentlich platt.

Leanders Mutter, Gabriele Hausmann-Kress, über ihre Erwartungen an die Inklusionsbemühungen der Schule und Verbände.

"Manchmal ist es echt sehr hart und dann zweifele ich auch an mir selbst", gibt Leander ehrlich zu. Aufgeben kommt für ihn aber nicht in Frage, er beißt die Zähne zusammen und trainiert weiter – denn irgendwann, so sagt er selbst, lohnt es sich. "Dann ist plötzlich wieder der Moment da, wenn man durch den Lauf fährt, dass es doch wieder so viel Spaß macht", erzählt Leander strahlend und plötzlich fallen ihm noch mehr Augenblicke ein, in denen sich das alles für ihn gelohnt hat. "Oder wenn man im Training sieht, wie man sich verbessert hat und dann will man irgendwie gar nicht damit aufhören." Der 18-Jährige liebt es, wenn er früh morgens an der frisch präparierten Piste steht und das Bergpanorama im Sonnenaufgang betrachtet. Das sei für ihn das beste Training, das er sich vorstellen könne.

Außerdem gibt ihm auch der Zuspruch fremder Menschen die Motivation, weiterzumachen – egal, wie hart und anstrengend das Training ist. "Wenn ich auf der Skipiste unterwegs bin, sprechen mich schon mindestens so zwei, drei Leute an und sagen, dass das einfach richtig cool ist, was ich so mache", erzählt Leander. Das Lob freut ihn – vor allem, weil es sich von den teils neugierigen, teils mitleidigen Blicken abhebt, mit denen er sonst manchmal angeschaut wird, wenn die Leute anhand seines Ganges bemerken, dass da etwas "nicht stimmt". "Im Sommer gehe ich zum Beispiel lieber mit kurzer Hose raus, damit man es wirklich sofort sieht. Ich mag‘s nämlich nicht, wenn die Leute so lange hinschauen, bis sie realisieren, was wirklich bei mir ist", sagt er. Offen und ehrlich auch in der Öffentlichkeit mit seiner Behinderung umzugehen, ist für Leander wichtig. "Wenn Kinder meine Prothese sehen und Fragen haben, dann würde ich mich freuen, wenn sie mit ihren Eltern zu mir kommen würden", erzählt er, "meistens sagen die Eltern aber eher ‘Nee, geh da nicht hin‘ oder ‘Schau weg‘". Das findet Leander enttäuschend. Der 18-Jährige hätte es lieber, dass man offen damit umgeht, weil Behinderungen "einfach zum Leben dazugehören".

Für Leander ist das Projekt "Bewegung gegen Krebs" der Deutschen Krebshilfe eine Herzensangelegenheit.

Und das alles sind bei ihm keine Lippenbekenntnisse, denn Leander lässt seinen Worten auch immer Taten folgen. So hat er zum Beispiel schon Skikurse für Kinder gegeben, die wie er auf nur einem Bein durchs Leben gehen. Und weil ihm der Sport nach der Krebserkrankung so viel gegeben hat, ist er Botschafter für die Deutsche Krebshilfe geworden. Für deren Projekt "Bewegung gegen Krebs" (in Kooperation mit dem Deutschen Olympischen Sportbund und der Kölner Sporthochschule) hat er sich zusammen mit dem Paralympics-Gewinner Alexander Spitz (dem ebenfalls wegen einer Knochenkrebserkrankung das rechte Bein amputiert wurde) für ein Plakat mit Spendenaufruf fotografieren lassen – mit seiner Prothese für alle sichtbar.

Dieser Artikel erschien erstmals am 4. April 2019 auf evangelisch.de.