"Flagge zeigen!" - lange nicht mehr war diese Aufforderung so kontrovers diskutiert wie in diesem Jahr. Spätestens seit Julia Klöckners Verbot, zu den Pride-Wochen die Regenbogenfahne am Deutschen Bundestag zu hissen, tobt die Diskussion auf verschiedenen Kanälen, welches "Bekenntnis" mit der Regenbogenflagge verbunden ist: Ist sie letztlich Ausdruck einer den Menschenrechten und der Vielfalt verpflichteten Gesellschaft oder ist sie ein politisches Bekenntnis zu einer bestimmten Diversitäts- oder Queer-Politik?
Die Bundestagspräsidentin versteht die Regenbogenflagge im zweiten Sinn und sieht sie daher im Widerspruch zu der Neutralitätspflicht des Bundestages. Es ist nicht ohne Ironie, dass fast zeitgleich das Berliner Verfassungsgericht zu einem gegenteiligen Schluss gekommen ist: Im Streit um die Progressive Pride Flag - also die erweiterte Regenbogenflagge, die auch Trans- und Intersexualität darstellt - urteilte die Kammer um Rautgundis Schneiderit, dass die Flagge weder das elterliche Erziehungsrecht verletzt noch das Recht der Schülerin, von einer bestimmten weltanschaulichen oder politischen Position verschont zu bleiben. Richtig sei, dass Schule offen sein müsse „für die Vielfalt der Anschauungen und Erziehungsfragen“. Das bedeute aber nicht, dass Schule wertneutral sein müsse. Gerade in einer Schule wie der betroffenen in Treptow-Köpenick, in der unter Schüler:innen wie Lehrer:innen Transpersonen zu finden sind, sei die Erziehung zu Toleranz und Akzeptanz ein wichtiges Bildungsziel. Genau dafür - und nicht für Indoktrination - stehe die Progressive Pride Flag (zitiert nach Tagesspiegel vom 25.6.2025).
Julia Klöckner steht auf dem Standpunkt, dass die schwarz-rot-goldene Deutschlandflagge das einzige dem Bundestag angemessene Zeichen von Freiheit, Toleranz und Menschenwürde sei. Historisch gesehen mag sie damit recht haben, denn die schwarz-rot-goldene Flagge entstand ja tatsächlich im Kontext der revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts (siehe Wiki-Artikel). Das schützt sie allerdings nicht davor, heute von antidemokratischen und queerfeindlichen Gruppen missbraucht zu werden. Auch beim Münchner Pride war eine kleine Gruppe junger Männer zu sehen, die mit der Deutschlandflagge und dem Spruch "LGBTQ ist undeutsch" unterwegs war. Die Polizei hat sie schnell abgedrängt...
Antidemokratische und antifreiheitliche Gruppen zeigen gerne und laut Flagge - ihre Demonstrationen haben für manche etwas Schauerliches, Martialisches. Das ist gewollt, das Auftreten soll Andersdenkende abschrecken. Victor Orbán und seine Fides-Partei haben in Ungarn solche Aufmärsche seit Langem im Repertoire. Wenn das Abschreckungspotenzial nicht mehr reicht, dann schränkt der ungarische Regierungschef Meinungsfreiheit und Freiheitsrechte durch Gesetzgebung ein, wie mit dem Verbot der Werbung für queere Lebensformen. Rund 200.000 Menschen haben dagegen am Sonntag in Budapest Flagge gezeigt - mich haben die Bilder sehr beeindruckt, in denen immer wieder eine riesige Regenbogenflagge über die Teilnehmenden des Demonstrationszuges hinweggewandert ist. Was Julia Klöckner so nicht sehen will - hier war es offensichtlich: die Regenbogenflagge als Ausdruck für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft, in der Vielfalt und Toleranz gelebt werden!
In der Fetisch-Community ist es ein lang geübter Brauch, Flagge zu zeigen und Flaggen unter den Clubs verschiedener Städte zu tauschen - vor dem Wagen des Münchner Löwenclubs kam es daher zu einem beeindruckenden Aufmarsch der Flaggen während der Aufstellung zum Pride-Umzug. Quer durch München waren diese Flaggen - und natürlich viele Regenbogenfahnen! - sichtbar und öffentlich. Und ganz selbstverständlich hat die Regenbogenflagge übrigens von den Trambahnen, dem Rathaus und auch vom Bayerischen Landtag gegrüßt. Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) betonte auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung, dass die Regenbogenflagge für "sehr demokratische Werte" stehe, nämlich Vielfalt, Toleranz und Offenheit (zum Artikel).
"Zur Freiheit hat uns Christus befreit", erinnert der Apostel Paulus die Christ:innen in Galatien (Gal 5,1). Bei Paulus ist dies nie zügellose Freiheit, sondern Freiheit in Respekt und Achtung vor den Anderen. Es ist höchste Zeit, für diese Freiheit nicht nur am Pride-Wochenende Flagge zu zeigen!