Steh auf und geh! Die Heilung am Teich Bethesda queer gelesen

Steh auf und geh! Die Heilung am Teich Bethesda queer gelesen
© Kerstin Söderblom
Die Heilung am Teich Bethesda (Johannes 5) war im Oktober 2019 vorgegebener Predigttext. Ich habe mir den Text angeschaut, zwischen die Zeilen gehört und ihn que(e)r gelesen.

38 Jahre war er nun schon alt. 38 Jahre Leben. 38 Jahre Doppelleben. Wie konnte es bloß soweit kommen? Kai hatte es bisher nicht geschafft, reinen Tisch zu machen. Endlich mal sagen, wie es wirklich war.

Bisher war der Gewinn, nichts zu sagen größer als die Befreiung endlich den Mund auf zu tun. Aber Kai war darüber krank geworden. Krank an seiner Seele, krank in seiner Selbstachtung. Krank, weil sein Doppelleben krank war. Er verachtete sich zutiefst, weil er sich selbst und seine Lieben verraten hatte. Trotzdem. Er traute sich nicht, die Wahrheit zu sagen. 

Er war so aufgewachsen: Schwul sein war pervers, sündig, eklig, krank. Das durfte auf keinen Fall sein. Und wer so fühlte, der war es nicht wert, Teil der Gesellschaft zu sein. So hatte er es auf dem Schulhof gehört, so hatte er es in seiner kirchlichen Jugendgruppe gehört, so hatte er es von seinen Eltern gehört. Aber er war doch gar nicht eklig, pervers, krank. So war er nicht. Und wenn er es nicht sagte und lebte, würde es doch auch niemand merken, oder? Und von da an versuchte er alles, um seine wahren Gefühle zu verstecken. Er wurde hart, trug eine Maske und wurde krank an Körper und Seele. Und er blieb es. Der Gewinn nichts zu sagen und sich nicht zu zeigen, war größer als die Erleichterung, endlich alles rauszulassen.

Und ein kranker Mann saß seit 38 Jahren am Teich Bethesda. Einem Ort, an dem Kranke geheilt werden können. Er konnte selbst nicht aufstehen und nicht gehen. 38 Jahre war er alt, aber er sah schon aus wie sechzig. Dreckig war er und seine Kleider waren nur noch Fetzen. Seine Haut war trocken und runzlig, er hatte unendlich viele Falten im Gesicht und sah furchtbar aus. Er stank zum Himmel und wollte da weg. Aber bisher hatte er es auch mit Hilfe von anderen nicht geschafft, als erster im Teich zu sein, wenn sich das Wasser bewegte, um dann im Teich unterzutauchen. Das musste er aber, um geheilt zu werden. So hieß es. Immer war er zu spät. Immer war jemand anders schneller. Immer kam etwas dazwischen. So wurde er schwächer und schwächer. Nach 38 Jahren saß er immer noch da, ekelte sich vor sich selbst und wartete. Eines Tages kam Jesus zu ihm und fragte ihn:

„Mensch, willst du gesund werden?“

Als Antwort wiederholte der seine Leidensgeschichte. Er wollte es erklären. Er wollte berichten, warum er krank war und dafür nichts konnte, warum er es noch nicht geschafft hatte, als erster an den Teich zu kommen, warum er immer noch dasaß. Er wollte, dass der Fremde ihn verstand. Der Fremde hörte ihm zu. Dann sagte er:

 „Steh auf, nimm deine Matte und geh!“

Erst verstand der Mann nicht. Aber Jesus sah ihn auffordernd an, ohne mit der Wimper zu zucken. Da versuchte er es. Seine Gelenke knackten, seine Beine knickten ein. Aber er blieb dran. Erstaunt stellte er fest, dass er tatsächlich aufstehen konnte. Ganz allein. Er hatte Angst, dass er gleich wieder umfallen würde. ER schwankte und sah sich unsicher um. Er stank, und in seinen dreckigen Lumpen sah er schrecklich aus. Er schämte sich und schnaufte furchtbar. Er war es ja nicht gewohnt zu stehen. Aber es hatte geklappt. Trotz allem. Es konnte eigentlich gar nicht sein. Aber er stand. Er konnte nach 38 Jahren tatsächlich auf eigenen Beinen stehen und gehen. Ein Wunder war geschehen. Er hatte es geschafft. 

Ungläubig nahm er seine Matte und erzählte allen, die es hören wollten, von seinem Erlebnis. Er war unsicher, was er eigentlich sagen sollte. Es war alles so überwältigend. Wie hatte der Fremde das nur geschafft? Und wie hatte er das bloß geschafft? Er wusste ja gar nicht, wie Leben ohne Sitzen gehen kann. Er war doch krank gewesen und jetzt das. Und Angst hatte er auch, wie es weiter gehen sollte. Weil nun alles so anders war. Aber er war auch glücklich und dankbar, dass er sich bewegen konnte. 

Kai meditierte seit einer Weile einmal die Woche abends in einer Kirchengemeinde unweit seines Arbeitsplatzes. Atemübungen, schweigend sitzen, ein Gebetwort mit in die Stille nehmen. Zum Schluss jeder Sitzung ein Segenswort der Pfarrerin. Es tat ihm gut. Er wurde ruhiger. Er versuchte seine Gebete von früher wieder zu finden. Aber das gelang ihm nicht. Es bleib das Schweigen. Einatmen, ausatmen. Während einer Meditationssitzung hörte er im Schweigen eine Stimme in sich:

„Kai, willst du gesund werden?“

„Ja schon“, sagte er zu sich selbst.

Und er sprach weiter zu sich:

„Aber meine Angst ist einfach zu groß. Was wird meine Frau sagen? Und was werden meine Eltern sagen, wenn sie erfahren, dass ich Männer liebe. Ich kenne ihre ablehnende Meinung zu Homosexualität. Und wie wird mein Arbeitgeber reagieren, wenn sie rauskriegen, dass ich schwul bin? Sie werden mich doch hochkant rausschmeißen. Sie werden mich meiden und sich über mich lustig machen. Sie werden über mich herziehen: ‚Haha…, der ist ´ne Tunte, er liebt Männer, eine verdammte Schwuchtel ist er.‘“

Innere Stimme:

„Kai, willst du gesund werden?“

Sein innerer Dialog ging weiter:

„Ja schon, aber ich traue mich nicht. Meine Frau weiß von nichts. Schwulen Sex habe ich bisher nur im Geheimen gehabt. Keine festen Beziehungen, kein Wort darüber. Ich lebe ein Doppelleben, und das macht mich ganz krank. Ich habe ein Magengeschwür. Mein Doppelleben ist mir auf den Magen geschlagen. Und ich habe einen Pfeifton in den Ohren. Als ob meine Ohren meine Lügen nicht mehr hören wollen. Ich schlafe schlecht, fühle mich matt, und antriebslos. Ich habe mit Depressionen zu kämpfen. Aber ich gehe nicht zum Therapeuten, und ich gehe auch nicht zum Arzt. Ich weiß ja, woher es kommt. Wenn ich reinen Tisch machen würde bei meiner Frau, meinen Eltern, meinen Freunden und meinen Kollegen, dann ... ja was dann? Aber ich traue mich einfach nicht. Ich fühle mich krank. Aber so krank wie ich bin, geht´s mir immer noch besser, als wenn ich ehrlich wäre. Dann wäre mein ganzes Leben zerstört.“

Innere Stimme:

„Kai, steh auf und mach endlich den Mund auf!
Geh und bring dein Leben in Ordnung. Steh auf und werde gesund!“

Kai war verblüfft und verstört. So eine klare Ansage hatte er noch nie gehört. Nach der Meditationssitzung war er ganz aufgewühlt. Er zog sich seine Jacke an und ging auf die Straße. Dort ging er ziellos umher. Stundenlang war er so unterwegs. Dann fasste er einen Entschluss. Seit langem wartete er schon auf diesen Moment. Und dann tat er es. Er sagte es seiner Frau, telefonierte mit seinem besten Freund und danach mit seinen Eltern. Er besuchte alle, die ihm wichtig waren und sagte ihnen, was es zu sagen gab. Er fing dabei an zu weinen, ihm fehlten die Worte, er stotterte, und dann war es endlich draußen. 

Als er es seiner Frau erzählte, herrschte danach erst einmal Stille. Sie war schockiert und fassungslosig. Dann wurde sie wütend und schrie ihn an: 

„Warum hast du mir das nicht früher gesagt? Warum hast du mir Theater vorgespielt? Warum hast du ein Doppelleben gelebt? Mit anderen Sexpartnern und dem vollen Programm? Mir wird übel, wenn ich nur daran denke. Warum hast du kein Vertrauen zu mir gehabt, oder zumindest zu einem Therapeuten? Keine Sorge, dass du schwul bist, ist nicht das Problem. Aber wenn du ehrlich gewesen wärst, dann hättest du vielleicht ganz anders gelebt, mit mir oder ohne mich, keine Ahnung. Auf jeden Fall hättest du dir und der Welt die Wahrheit sagen müssen. Du hast eine Lüge gelebt und mich da mit reingezogen!“

Kai konnte darauf nichts erwidern, nichts erklären, nichts sagen. Er hörte sich den Wutanfall seiner Frau an und nickte. Er konnte sie verstehen. Sie hatte recht. Er war leer im Kopf und hatte keine Worte. Trotzdem konnte er auch verstehen, warum er so lange gebraucht hatte, den Mund aufzumachen. Nur erklären konnte er es nicht.

Jetzt war er also aufgestanden. Er hatte sich seine bequeme Doppelleben-Matte weggezogen und sich den Boden unter den Füßen gleich mit. Es war schrecklich, schmerzhaft, und er schämte sich. Warum hatte er so lange gewartet und so lange die Unwahrheit gesagt?

Seine Frau war wütend, verletzt und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er war untröstlich und traurig. Aber wenn er ehrlich war, war er trotz allem auch erleichtert. Endlich war es draußen. Endlich hatte er das gesagt, wovor er sich Jahre lang gefürchtet hatte. Es war schwer gewesen, und er hatte seiner Frau und seinen Eltern weh getan. Aber irgendwo in seinem Inneren wusste er auch, dass es der richtige Schritt war. Ja, er hätte es schon viel früher machen müssen. Er hätte vielleicht gar nicht heiraten dürfen. Aber er liebte auch seine Frau. Das Leben war eben nicht nur schwarz oder weiß. Es war alles viel komplizierter und verworrener. Und er hatte gehofft, dass seine Bewegungslosigkeit und Antriebslosigkeit irgendwann vorbei gingen. Er hatte gewartet und gewartet. Und dabei war er krank geworden.

Und nun war es heraus. Sein Leben lag in Scherben. Aber tief in seinem Inneren wusste er auch, dass er nun wieder in den Spiegel schauen und sich ansehen konnte. Mit Wunden und Narben, mit Falten, zerzausten Haaren und Bartstoppeln. Nur so hatte er eine Chance, dass in ihm irgendwann etwas heilen könnte. Dass vielleicht sein Magengeschwür nachlassen würde, dass seine Ohren und seine Seele zur Ruhe kommen könnten. Er wusste auch, dass er dafür professionelle Hilfe brauchte. Darum würde er sich kümmern.

Ob er sich mit seiner Frau je wieder versöhnen würde, wusste er nicht. Aber er hatte etwas verstanden: Nur wenn er ehrlich zu sich selbst ist, kann er es vielleicht irgendwann schaffen, sich mit sich selbst und anderen zu versöhnen und ein Leben in Würde zu führen.


 

weitere Blogs

Eine Ordensschwester im Kongo wurde wieder freigelassen – weil der Bandenchef keinen Ärger wollte.
Ein spätes, unerwartetes Ostererlebnis der besonderen Art
Nach 15.000 Kilometern und fünf Monaten ist Leonies Reise vorbei. Was bleibt? In ihrem letzten Blogbeitrag schaut sie auf ihre Erfahrungen zurück.