Ein Pastor verzichtet: "Gott liebt mich als schwulen Menschen und nicht, obwohl ich einer bin!“

Ein Pastor verzichtet: "Gott liebt mich als schwulen Menschen und nicht, obwohl ich einer bin!“
Zaun mit Kreuz
© Kerstin Söderblom
M. gab seinen Beruf als Pfarrer auf, weil er schwul ist.
M. war reformierter Pfarrer in Ungarn, und er ist schwul. Beides zugleich durfte er nicht sein. Also hat er seinen Beruf als Pfarrer aufgegeben. In diesem Interview erzählt er seine Geschichte.

Mónika Szekeres hat ein Interview mit einem ehemaligen schwulen Pfarrer der Reformierten Kirche in Ungarn geführt. Das Interview wurde von Amy Kósa ins Englische übersetzt. Von beiden habe ich die Erlaubnis, das Interview ins Deutsche zu übersetzen und hier zu veröffentlichen.

M.: „Obwohl ich in jedem Aspekt meines Lebens offen lebe, habe ich mich entschlossen, meinen vollständigen Namen nicht preiszugeben “, sagt mein Gegenüber. „Ich bin zu diesem Schluss gekommen, weil es in Ungarn immer noch eine Schande ist, schwul zu sein. Und obwohl ich mich weder für meine Vergangenheit noch für meine Gegenwart schäme, möchte ich meine Familie und meine Lieben nicht gefährden. Wer mich nicht kennt, wird meine Geschichte trotzdem verstehen und wer mich kennt, wird es wissen."

Mónika Szekeres: M. war früher ein reformierter Pfarrer, und er ist schwul. Mich hat es aber auch interessiert, warum er Stadtparks so liebt, warum er jeden Tag meditiert und wie er sich in so kurzer Zeit Deutsch beigebracht hat.

Ich hatte beschlossen, meine Begierden zu begraben.

M.: „Ich bin in einer konservativen Familie aufgewachsen, was einen großen Einfluss auf meine Kindheit hatte“, fängt M an. „Also beispielsweise zu sagen, dass schwul sein okay ist und nichts falsch daran ist, war keine Option. Und das stimmte voll und ganz mit all den Botschaften überein, die ich sonst noch so gehört hatte. Die am wenigsten üble war: Homosexualität ist lächerlich. Oder eine Schande. Die schlimmste war: Homosexualität ist eine Bedrohung für die gesamte Gesellschaft. 
Ich war fünfzehn Jahre alt, als mir zum ersten Mal klar wurde, dass ich schwul bin. Ich hatte mich als Kind in einen Klassenkameraden verliebt. Als Jugendlicher konnte ich das dann in Worte fassen – zunächst natürlich nur für mich.“

Mónika Szekeres: M. denkt, dass er hat Glück gehabt hat. Denn eine Freundin von ihm war von Anfang an für ihn da. Zu dieser Zeit war sie die einzige, mit der er ehrlich sein konnte. Er sieht diese Freundschaft immer noch als etwas an, das ihm das Gefühl gab, vollkommen sicher zu sein, als ob sie über seiner geistigen Gesundheit gewacht hätte.

M.: „Natürlich hatte ich meine Zweifel und Ängste und versuchte meine Nachforschungen anzustellen. Das Buch, das ich gefunden hatte, besagte, dass eine homosexuelle Person diese Gefühle für mindestens sechs Monate ohne Unterbrechung haben müsste. Ich weiß nicht, wie glaubwürdig diese Definition heute sein würde, aber wenn ich bedenke, dass ich diese Gefühle bereits seit achtzehn Jahren ohne Unterbrechung erlebt habe, kann ich mit Sicherheit sagen, dass sie zu mir passen. 
Ungefähr zur gleichen Zeit erlebte ich einen weiteren lebensverändernden Moment: Ich konvertierte (zur Reformierten Kirche in Ungarn, K.S.). Spiritualität, Gemeinschaft, Gebet und die Bibel waren mir sehr wichtig. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es überhaupt ein Problem wäre, schwul zu sein. Ich muss jedoch hinzufügen, dass ich damals nichts über den offiziellen Standpunkt der Kirchen wusste. Ein Jahr später wusste ich es: In den Augen der Kirche ist Schwulsein eine Sünde, ein Problem oder zumindest eine Krankheit, die dich für Sünde anfällig macht. Diese Einschätzung war nicht persönlich. Sie richtete sich nicht gegen mich, aber sie war sehr präsent, vor allem, weil es mit dem übereinstimmte, was ich als Kind sonst gehört hatte. Schwulsein ist beschämend und widerlich."

Mónika Szekeres: M. hatte das Gefühl, dass Religion und Schwulsein nicht zusammenpassen würden. Aber er konnte sich keinem der beiden Bereiche entziehen. Daher war er gezwungen eine Wahl zu treffen, fast noch als Kind. 

M.: „Ich war Gott so ergeben und fühlte, dass meine Berufung so stark war, dass ich mich im Alter von siebzehn Jahren entschied, Pfarrer zu werden, und dass mein Schwulsein mein Kreuz sein würde. Ich sollte das ertragen und meine Wünsche und Begierden begraben." 

Mónika Szekeres: Aber seine Anziehung zu Jungen hat M. persönlich nie für unnatürlich gehalten.

M.: „Das war für mich natürlich. Dasselbe mit Mädchen zu tun, war das, was ich mir nicht vorstellen konnte, obwohl ich damals noch keine Erfahrungen mit heterosexuellen Beziehungen oder mit irgendwelchen Beziehungen gemacht hatte. Viele ermutigten mich, mit einem Mädchen auszugehen, um mich von meinen schwulen Gefühlen zu befreien. Tatsächlich hatte ich mit zwanzig Jahren zum ersten Mal in meinem Leben eine Freundin. Ich liebte und respektierte sie als Person. Aber sobald wir uns verabredeten, fühlten sich unsere Treffen gezwungen und stressig an. Ich fühlte mich unter Druck gesetzt, mit ihr zusammen sein zu müssen. Diese Beziehung dauerte nur ein paar Monate und zeigte mir, dass ich nicht auf dem richtigen Weg war.

Meine Mutter ist begeistert, mein Vater akzeptiert es

Mónika Szekeres: Mit achtzehn Jahren wurde M. ins Seminar der Reformierten Theologie aufgenommen. 

M: „Während meiner Zeit im Theologiestudium war ich ein militanter Fundamentalist, der sich zum Ziel gesetzt hatte, meinen liberalen Kollegen das Gegenteil zu beweisen.Ich habe behauptet, Homosexualität sei eine Sünde, egal was sie sagten", erinnert er sich und fügt sofort hinzu: 
„Heute weiß ich, dass das alles eine Projektion meines inneren Kampfs war. Aber damals hatte ich diesen Glauben völlig verinnerlicht. Ich sagte, dass dies die einzige Wahrheit sei, für die ich eintreten müsste. Infolgedessen reiste ich für ein Jahr nach Oxford, um Apologetik zu studieren. Später, nachdem ich vor meiner Familie mein Coming-Out hatte, kommentierte mein Vater: 'Wer studiert Apologetik? Jemand mit einem schwachen Glauben.' Nun, das traf wohl genauso zu. Dennoch halte ich diese Zeit im Nachhinein nicht für eine Zeit der Heuchelei. Ich lebte in einer ehrlichen Beziehung zu Gott. Die einzige Heuchelei von mir war, dass ich von einer neutralen Position aus über Homosexualität sprach, als hätte ich keine persönliche Erfahrung damit gemacht."

Coming-Out

M.: „Es war nicht so, dass ich alle in ein Zimmer gerufen und ihnen gesagt habe, dass ich schwul bin. Ich sprach mit jeweils einem Familienmitglied, manchmal im Abstand von mehreren Jahren. Meine Geschwister reagierten wohlwollend. Meine Eltern waren zuerst verärgert, aber jetzt haben sie sich beide damit abgefunden. Meine Mutter ist mittlerweile sehr enthusiastisch und beinahe eine Aktivistin für Schwulenrechte geworden. Es war für sie ein langer Weg. Mein Vater ist gerade dabei, meinen Partner willkommen zu heißen und ihn zu akzeptieren. 
In meiner Großfamilie gehen sie unterschiedlich damit um. Es gibt nur eine Person, die mich als schwul akzeptiert, aber meinen Partner und meine Beziehung nicht akzeptiert und trotzdem denkt, dass sie sich respektvoll verhält. Die meisten denken wahrscheinlich, dass es völlig in Ordnung ist, schwul zu sein, aber nicht darüber sprechen oder es zeigen zu dürfen. Das ist genauso, wie die Lehren der Kirche es vermitteln. Aber es ist für mich unmöglich, nur einen bestimmten Aspekt meines Lebens zu akzeptieren. Das wäre die gleiche Art von Abspaltung gewesen, die ich als Pastor machen musste.“

Ich bin verliebt und was ich fühle, ist wunderschön

Mónika Szekeres: In seinen Studienjahren studierte er mit Inbrunst die alten Sprachen und wurde als besonders begabter Prediger angesehen. Als ordinierter Pfarrer arbeite er in einer Stadt in der Ungarischen Tiefebene. Er ist immer noch dankbar für die wundervollen sechs Jahre, die er dort verbracht hat.

M.: „Es war in der Tat wunderbar. Ich fand eine Gemeinde im Umfeld einer Kleinstadt in meiner Kirche. Ich war Jugendpfarrer, und ich liebte meinen Job. An der Oberfläche schien also alles in Ordnung zu sein. Aber im Inneren hatte ich das Gefühl: So kann es nicht weitergehen! Dies ist ein Satz, den ich sehr oft in mein Tagebuch geschrieben habe. Ich fürchtete, dass sie herausfinden würden, wer ich tatsächlich war. Entsetzliche Fantasien terrorisierten mich, dass sie mich mit Feuern und Schwertern verjagen würden und dass ich mich danach umbringen würde. Ich fühlte mich als wäre ich ein Sünder. Aber ich hatte doch gar nichts gegen das Kirchengesetz getan. Ich lebte zölibatär und ohne geheime Beziehungen. 
Der nächste Wendepunkt meines inneren Kampfes kam, als meine Strategie, mich ganz innerlich einzufrieren, scheiterte: Ich verliebte mich. Aber ich habe es nicht gezeigt. Ich hatte nicht den Mut, es fühlte sich nicht richtig an. Es dauerte zwei Jahre, und ich durchlebte den Schmerz einer unerwiderten Liebe. Aber diese Liebe hat mich verwandelt. Ich wusste, dass das, was ich fühlte, nicht sündig, sondern schön war. Dass ich mein Leben für diesen Mann geben könnte."

Mónika Szekeres: Nachdem M. durch die Zeiten der Angst und der einseitigen Liebe gereift war, öffnete sich für ihn eine neue Tür: Die Tür der Achtsamkeit, die in jeder Religion vorhanden ist, nicht nur im Christentum. 

M.: „Es ist ein Konzept, das Lebenserfahrung vor die reine Lehre stellt. Das Grundprinzip der Achtsamkeit ist es, dass alles, was existiert, existieren darf. In der Praxis ist es eine Art Meditation. Und eine halbe Stunde oder eine Stunde pro Tag zu meditieren, hat mich sehr verändert. Als ich anfing, die Welt so zu akzeptieren, wie sie war, fing auch ich an mich so zu akzeptieren, wie ich war. Mir ist klar geworden, dass Gott mich als schwulen Menschen liebt und nicht, obwohl ich einer bin."

Abschied

Mónika Szekeres: Achtsamkeit, Akzeptanz, Liebe ... Als M. diesen Punkt seiner Geschichte erreicht, wird meine Brust weiter, und meine Handflächen sind weniger verschwitzt. Es mag unglaublich klingen, aber ich hatte mir die ganze Zeit Sorgen um ihn gemacht, obwohl er mir gegenübersaß: gesund, lächelnd und sichtlich im Gleichgewicht mit sich selbst und der Welt. Aber…

M.: „Ich habe nur einmal gelogen. Ich unterrichtete Religion in der High School und erwähnte Homosexualität. Ich hatte in dem Thema Routine, obwohl ich nicht mehr so feindlich eingestellt war wie in meinen Jahren am Theologischen Seminar. Und dann fragte mich eines der Mädchen im Teenageralter: ‚Wieso, bist du schwul?‘ Ich war überrascht, dass ich nach so vielen Jahren immer noch nicht auf diese Frage vorbereitet war. Ich stotterte und wurde rot und sagte schließlich nein. Zu Hause war ich völlig verzweifelt und dachte, dass ich erledigt war, dass dies der Moment sein würde, in dem sie mich rausschmeißen würden. Aber ein paar Stunden später tauchte ein völlig anderes Gefühl in mir auf: Na und? Selbst wenn sie mich verjagen, wird Gott immer noch an meiner Seite sein! Und plötzlich war nichts mehr von meiner früheren Verzweiflung übrig. Außerdem war ich sogar froh, dass ich nicht mehr so gut lügen konnte. Ich war auf einer Reise in Richtung mehr Ehrlichkeit.“

Mónika Szekeres: Denn ganz gleich, ob es sich um eine menschenfreundliche Kleinstadt oder um die gemeinschaftsbildende Kraft der Kirche oder um den geliebten Beruf handelte, ier war gefangen in einer isolierten Lebensweise.

M.: „Ich dachte, dass meine Kirche mich nur liebte, weil sie keine Ahnung hatte, dass ich schwul bin. Und dieser Gedanke wurde immer unerträglicher. Um diese Zeit erlitt ich einen schweren Unfall und die Tatsache, dass ich überlebt habe, war ein Wunder. Wenig später nahm ich mit gebrochenem Schlüsselbein und einem Arm in der Schlinge an Exerzitien teil. Während dieser Zeit schwiegen wir eine Woche lang, um Achtsamkeit zu üben und zu meditieren, um uns mit Gott und uns selbst zu verbinden. Als mein spiritueller Begleiter meine Verletzungen sah, sagte er, dass der Unfall ein Zeichen dafür sei, dass ich nicht auf dem richtigen Weg war. Diese Aussage saß. Sie berührte meine Gefühlslage. Und so beschloss ich endlich, der Welt zu sagen, wer ich bin und dass ich keine Angst mehr haben wollte, auch nicht vor der Frage: ‚Und warum hast du noch keine Frau?'"

Mónika Szekeres: Die ersten Leute, denen er seine Pläne erzählte, waren seine Pfarrerskollegen. Sie haben seine Entscheidung liebevoll akzeptiert und gemeinsam die relevanten Kirchengesetze nachgeschlagen. Homosexualität ist danach keine Sünde, solange der Einzelne sie nicht praktiziert oder verbreitet - obwohl gesetzlich unklar ist, was letzteres bedeutet. Eine Weile hofften sie, dass M. als zölibatärer Pfarrer bei ihnen bleiben könnte, ohne dass er weiterhin seine Orientierung verbergen müsste. Aber es wurde schnell klar, dass das nicht ging. 

M.: „Ich musste mich entscheiden, ob ich weiter in diesem inneren Spagat bleiben oder offen außerhalb der Kirche leben wollte. Ich kämpfte noch ein paar Monate, konnte aber den Erdrutsch nicht aufhalten: Ich fing an, mich nacheinander vor Mitgliedern meiner Gemeinde als schwul zu outen. Ich hatte meine Entscheidung getroffen: Ja, ich gehe in der Hoffnung auf ein aufrichtigeres Leben.
Als wir uns verabschiedeten, versicherten mir 95 Prozent meiner Gemeinde ihre Liebe und Unterstützung. Sie fanden es schmerzhaft, dass ich gehen musste. Aber ich weiß auch, dass diese Zahl anders gewesen wäre, wenn ich geblieben wäre. Es war auch interessant zu erfahren, wie viele andere Emotionen durch mein Coming-Out zutage getreten sind. Denn danach fragten sich viele Menschen: ‚Was wäre, wenn ich auch offen über meine Unterschiede und Unvollkommenheiten reden würde?‘ Für einige war der bloße Gedanke daran hoffnungsvoll. Andere gerieten dagegen in Panik."

Kontrast-Effekte

Mónika Szekeres: Zu seinem Abschied von der Kirchengemeinde geschah noch etwas, das M. vorher nicht wusste und was ihn beim Erzählen immer noch zu Tränen rührte: 

M.: „Es war mein dreißigster Geburtstag. Als ich das leere Gemeindehaus betrat, begann Musik zu spielen, meine Lieblingsmusik und meine Gemeindeglieder - Erwachsene, Kinder, Jugendliche - kamen singend aus jeder Ecke des Gebäudes. Sie hatten eine Überraschungsparty für mich organisiert. Und ich weinte, weil sie mir versicherten, dass sie mich liebten, obwohl sie wussten, wer ich eigentlich war.
Ich bin meiner alten Kirche deshalb immer noch dankbar. Aber mein Verhältnis zur gesamten Kirche ist eher ambivalent. Das System neigt dazu, Unterschiede nur mit großen Schwierigkeiten zu tolerieren (und dafür musst du nicht schwul sein). Das werden sie nochmal bereuen. Denn ich weiß, dass da Leute sind, die exzellente Jugendarbeiter in der Kirche wären. Aber niemand will sie wegen ihrer sexuellen Orientierung haben. Oder es gibt zahlreiche schwule Pfarrer, die ein Doppelleben führen, was wie ein riesiges Gewicht auf ihre Schultern liegt.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es furchtbar ist. Sie können nur die Hälfte ihrer Potenziale einsetzen. Wenn sie frei leben könnten, würden sie aufblühen. Ich erinnere mich daran, dass Gemeindeglieder mir nach meinem Coming-Out erzählten, dass ich sogar anders gehen würde.
Natürlich werden viele Menschen sagen, dass die Kirche sich an die biblischen Texte als moralischen Kompass halten müsse. Und das stimmt. Aber was genau sagt denn dieser Kompass? Viele (inklusive theologischer Wissenschaftler) sind sich einig, dass es nicht vordringlich darum geht, ob Schwulsein eine Sünde ist, sondern ob wir Diskriminierung tolerieren wollen.“

Mónika Szekeres: Es ist eine gängige Einschätzung, dass Kirchenmitglieder wegen veralteter Traditionen immer älter und immer weniger werden. Aber einige Kirchen erreichen auch die Jugend. Manche versuchen sie mit positiven Botschaften zu erreichen, andere erreichen sie nur mit negativen. 

M.: „Radikalismus kann auch für Jugendliche mächtig attraktiv sein. Gerade neu bekehrte Menschen sind da sehr gefährdet. Vorgefertigten Antworten können tatsächlich in gewissem Sinne beruhigend wirken. Sie machen deutlich, dass sie auf der guten Seite stehen und es sich lohnt, dafür zu kämpfen - so habe ich früher auch gedacht. Wenn jemand einen so scheinbar eindeutigen moralischen Kompass hat, fühlt er sich automatisch berechtigt zu sagen: Die andere Person ist ein Sünder. Aber ich bin kein Sünder, oder zumindest lebe ich weniger sündig. Auch wenn ich geizig bin oder ich in einer lieblosen Ehe lebe oder mein Kind verlasse, und die Liste geht weiter. So funktioniert Psychologie. Kontrasteffekte werden benötigt. So einfach ist das."

Ich bin frei meine Stimme zu erheben, frei zu schweigen

Mónika Szekeres: Nachdem M. die Kirche verlassen hat, wurde es Sommer in Budapest. Er hatte seinen Beruf, sein Zuhause und seine Gemeinde hinter sich gelassen.

M.: „Es war schwierig. Und es wurde noch schwieriger, weil ich einiges nicht bedacht hatte. Es war wie eine Art Identitätskrise: Bin ich jetzt noch ein Pfarrer oder nicht? Ich hätte nicht gedacht, dass dies jemals für mich wichtig sein könnte oder dass dies jemals eine Frage sein könnte. Aber eben hatte ich noch von der Kanzel gepredigt und alle waren neugierig auf meine Meinung. Und im nächsten Moment kümmerte sich niemand mehr darum, was ich zu sagen hatte.“

Mónika Szekeres: Auf der Suche nach einem Job fand er den Weg zu einem multinationalen Unternehmen, das ihn mit seinen perfekten Englisch- und Deutschkenntnissen einstellte. Denn auch wenn er keine Pfarrerdynastie gegründet hat, hatte das Erbe des Pastorengroßvaters dazu beigetragen, M.s Leben zu prägen. Seine Bibliothek war voll mit deutschen Büchern, was den neugierigen Enkel dazu gebracht hatte, die Sprache zu lernen.

M.: „Mich in der Firma einzustellen, war wunderbar. Aber aus einem ganz anderen Grund. Während meines Bewerbungsgesprächs war Gay-Pride-Monat, und als ich zum Vorstellungsgespräch kam, trat ich durch ein mit Regenbogenfarben geschmücktes Tor ein. Ich habe das als gutes Omen angesehen. Und das Beste kam erst noch. Im Herbst habe ich meinen Partner getroffen. Es war Liebe auf den ersten Blick, meine erste erwiderte Liebe. Damals suchte ich nach einer schwulen christlichen Gemeinde. Dort haben wir uns vor fast drei Jahren kennengelernt haben. Seitdem sind wir zusammen. Das Leben ist nie einfach, auch nicht meins. Und auch in meiner Beziehung gibt es schmerzhafte Momente wie in jeder Beziehung da draußen. Aber zumindest sind das jetzt Herausforderungen, mit denen jeder umgehen muss.“

Mónika Szekeres: Wir führten dieses Gespräch am Ende des Pride-Monats, an dessen Ereignissen M. als Aktivist teilgenommen hatte. Er hatte sich auch freiwillig bei einer Veranstaltung gemeldet, die von einer rechtsextremen Gruppe gestört wurde.

M.: „Rückblickend wurde mir klar, dass ich überhaupt keine Angst hatte. Nicht einmal als die Eindringlinge anfingen uns zu filmen. Warum hätte ich Angst haben sollen? Das hat für mich eine symbolische Kraft: Es bedeutet, dass ich völlig frei bin. Es steht mir frei, anderen mitzuteilen, wer ich bin. Und ich kann schweigen, muss es aber nicht. Das bedeutet natürlich nicht, dass mein Leben von nun an von Zuckerwatte umgeben ist. Mein Partner und ich haben darüber nachgedacht, unsere Partnerschaft registrieren zu lassen. Wir denken aber auch darüber nach, dies nicht in Ungarn zu tun. Es ist nicht das, was wir wollen. Es ist nicht das, was wir planen. Aber wir haben darüber nachgedacht, umzuziehen. Es ist eine Schande, dass wir in einem Land leben, in dem die bereits bestehende Ausgrenzung durch politische Kräfte noch verstärkt wird, in dem die Menschen Angst haben, dass ihre sexuelle Orientierung an ihren Arbeitsplätzen öffentlich wird, oder dass sie sich einfach Sorgen machen, weil ihr Land kein sicheres Land für sie ist. Es ist ein Ort, an dem führende Politiker sagen dürfen, dass wir Staatsbürger zweiter Klasse sind.“

Mónika Szekeres: Trotzdem sind seine Tage erfüllt. Er liebt seine Arbeit als Trainer, er lebt offen an seinem Arbeitsplatz, und seine Kollegen akzeptieren ihn so, wie er ist. Er übt sich täglich in Achtsamkeit und ist Mitglied von Mozaik, einer Gruppe von christlichen LSBT*. Er ist immer noch gläubig, und er hat seine Träume nicht aufgegeben, wie die Welt aussehen sollte.

M.: „Heute weiß ich, dass das, was mir beigebracht wurde und was ich anderen beigebracht habe, nur eine Interpretation der Bibel ist. Es gibt auch andere biblische Interpretationen, die auch LSBT*-Personen akzeptieren. Tatsächlich vertreten die meisten westlich reformierten Kirchen solche Ansichten. Und was die Rechte von Homosexuellen angeht, glaube ich nicht, dass wir etwas Besonderes brauchen. Es gibt die Menschenrechte. Wenn wir diese respektieren, brauchen wir nichts anderes. Mein Traum ist es, in einem Land zu leben, in dem es keine Schwulenbars, Lesbenwanderungen oder LSBT*-Kirchen gibt. Wozu? Es würde einfach nur Bars, Wanderungen und Kirchen geben.“

 

Weitere Informationen:

Der Englische Artikel zum Nachlesen (übersetzt von Amy Kósa):
A Pastors Opts out: "God loves me as gay person, not in spite of being one".

Der Ungarische Originaltext von Mónika Szekeres zum Nachlesen

Homosexualität in Ungarn

Die christliche LSBT Gruppe "Mosaik" in Ungarn gehört zum Europäischen Form christlicher LSBT Gruppen.


 

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