"Es ist nie zu spät" - Über ein spätes Coming-out

"Es ist nie zu spät" - Über ein spätes Coming-out
Foto: Robert Kriz
Dass es zwar schwieriger, aber umso wichtiger ist, auch mit über 50 noch zu beginnen, zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen, erzählt diese Geschichte.

Helmut[1] kenne ich schon seit über vier Jahren. Er ist 53 Jahre alt. Ich lernte ihn am Anfang meiner "Wienzeit" bei einer Fortbildung kennen. Wir wurden Freunde, da uns der gemeinsame Austausch über Gott und die Welt getaugt hat.

An jenem Abend saßen wir im Kaffeehaus, wie fast immer, wenn wir uns treffen. Wir plauderten über dies und das, über die Arbeit und die Familie, Filme und Bücher und zwischenmenschliche Probleme.

Helmut war für mich schon immer irgendwie queer – nicht nur, dass er mir immer so viel Wertschätzung für meine Arbeit, meine Vorträge, Texte zum Thema Queer entgegenbrachte, sondern auch, dass er mir irgendwie „schräg“ vorkam, im positiven Sinne. Vielleicht lag das auch daran, dass er Einiges von einem sog. Nerd hat. Dass er vielleicht auch auf Männer steht – obwohl er mit einer Frau verheiratet ist und drei Kinder hat – kam mir sehr wohl des Öfteren in den Sinn, beschäftigte mich aber nicht näher. Er wird schon was sagen, wenn er mit mir reden will, dachte ich.

Und das tat er. An diesem Nachmittag im Frühjahr im Kaffeehaus. Der Wiener Wind war an dem Tag besonders stark, so dass wir uns entschieden, hinein zu gehen. Helmut trank eine der unzähligen Wiener Kaffespezialitäten mit Gedöns – ich merke mir die Namen nicht, weil ich mich nicht dafür interessiere – und kommentierte meinen Verlängerten Schwarzen, ebenfalls wie immer: "Wie kannst du nur dieses bittere Gesöff pur und schwarz und ohne alles trinken?" Wie immer lachten wir. "Kann ich mit dir über was reden?", fragte er abrupt und nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette (Ja, in Wien ist Rauchen in Cafés teilweise immer noch erlaubt!). "Sicher", sagte ich, "das weißt du doch", und fügte scherzhaft einen Satz dazu, den mir meine Freundinnen aus Studienzeiten angedichtet hatten: "Bei mir ist immer Beichtgelegenheit!" Bam. Genau darum ging es für Helmut. Für ihn fühlte es sich an wie eine Beichte.

"Ich steh' auf Männer", sagte Helmut und atmete dann lange aus. "Also auch, oder nur, ich weiß nicht", sagte er. "Ich liebe oder liebte ja auch meine Frau, aber eben nicht nur." Es war raus. Er hatte es jahrelang für sich behalten. Er hatte sich einfach nicht getraut. Es war anders, als wenn ein Siebzehn- oder Dreiundzwanzigjähriger sagt: Ich bin schwul oder ich bin queer. Helmut ist ein "gestandener" Mann, dessen sexuelle Orientierung/Liebensweise scheinbar für alle klar war durch sein Leben mit Frau und Kindern. Er war fest verankert in Job und Familie.

Ein Outing als Homo- oder Bisexuelle_r – das ist doch heute und hier kein Thema mehr? Doch! Einmal mehr, wenn die betreffende Person ihr bisheriges Leben über als "stinknormaler Hetero" gelebt hat und das Outing eher später passiert. Was wird die_der (Ehe-)Partner_in sagen und wie wird er_sie sich fühlen, wen verletzte ich vielleicht mit meinem Outing, wie werden Freund_innen und Bekannte reagieren, werden sich die Nachbar_innen das Maul über mich zerreißen, die Kolleg_innen?

Helmuts erste Sorge galt seiner Frau. Mit ihr hatte er bereits einen Tag zuvor gesprochen. "Eigentlich sind wir über die vielen gemeinsamen Ehejahre eher so etwas wie gute Freunde geworden", hatte mir Helmut schon einmal über deren Beziehung erzählt. "Ich glaube, das ist bei vielen Paaren so. Die Liebesbeziehung verblasst hinter Kindererziehung, gemeinsamem Haushalt und Joballtag. Wir fanden das aber nie schlimm, sondern haben festgestellt, dass unsere Beziehung andere Werte beinhaltet. Freundschaft statt Verliebtsein. Liebevolle Wohngemeinschaft statt ewigen Streitereien."

Vor dem Hintergrund dieses ausgesprochenen und konsensuellen Beziehungsstatus fiel es Helmuts Frau nicht schwer, mit seiner "neuen" sexuellen Identität umzugehen. Klara ist Sozialarbeiterin und arbeitet hauptsächlich mit Jugendlichen. "Du brauchst mir nicht erklären, was Queer ist", hatte sie wohl zu Helmut gesagt. Viel wichtiger war ihr, die Frage an Helmut zu stellen: Was brauchst Du jetzt, was möchtest Du weiter tun, wie geht es mit uns weiter? (Wann) möchtest du es den Kindern sagen?

Helmut lutschte auf seinem Kaffeelöffel herum und dachte laut: "Obwohl ich weiß, wie vielfältig queere Biografien sein können, dachte ich immer: Das muss ich doch eigentlich schon immer gewusst haben. Oder: Sich mit über 50 zu outen – das ist doch lächerlich. Oder: Alle werden denken, ich hab mir und meiner Frau all die Jahre etwas vorgemacht. Das kann ich meiner Familie nicht antun. Ich habe immer gehofft, das geht wieder vorbei."

Helmut erzählte mir auch, er habe sich dem Pfarrer seiner Gemeinde anvertraut. Er ist seit einiger Zeit in einer römisch-katholischen Gemeinde engagiert und geht auch hin und wieder zur Messe. "Irgendwie hat mir mein Glaube immer Kraft gegeben, obwohl ich in der katholischen Lehre eigentlich immer nur gehört habe, wie verkehrt ich bin. Die Vorstellung vom Himmelreich auf Erden hat mich dazu veranlasst, in meinen Träumen meinem Begehren nachzugehen, meine wahre Identität zu leben, mit Gottes vollster Zustimmung. Dadurch dass ich diese Momente tagträumte, konnte ich sie mir überhaupt vorstellen. Es war wahr, es war greifbar: Ich lebe und liebe mich selbst. Und alle anderen wissen Bescheid." Der Pfarrer hatte zurückweisend reagiert. Helmut beschmutze und zerstöre seine Familie, wenn er sich als schwul, homo- oder bisexuell oute, hatte der Geistliche gesagt. Und vor Gott würde er in Sünde leben. Eine selten heftige Antwort. Für Helmut war das Thema damit erst einmal erledigt. Erst als ich ihm 2015 erzählte, dass ich für den Blog "Kreuz und Queer" auf evangelisch.de schreibe, fing er wieder an, seine sexuelle Orientierung und seinen Glauben zusammen zu denken. Er las nächtelang Artikel und recherchierte im Internet über christliche LGBT[2]-Gruppen. "Toll, was ihr da macht, und wichtig", hatte er mehrfach anerkennend gesagt.

Ein Coming-out ist nicht gleich ein Coming-out. Ob und wie es mit möglichst wenig Blessuren "gelingt", hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab: Das Alter und die Religion/Konfession können wie bei Helmut Faktoren sein. Auch spielen kulturelle Hintergründe/Traditionen eine wichtige Rolle und die Frage, ob es eine Art Auffangnetz gibt. Das können Freund_innen, Familie, professionelle Berater_innen oder eine gute Vernetzung in der Queer Community sein. Vor einigen Jahren dachte man, Coming-out-Gruppen seien seit der Generation 2.0, wo sich jede_r im Internet findet und informiert, obsolet. Dennoch schätzen viele immer noch und gerade heute die direkte Kontaktmöglichkeit, den menschlichen Austausch über regelmäßige längerfristige oder temporär begrenzte Gruppen. Für ein spätes Coming-out wie bei Helmut gibt es in diesem Bereich allerdings oft keine oder nur wenige Angebote.

Ein Mensch, der sich beispielsweise mit über 50 outet, hat nicht den Vorteil der Jungen: auf queere Parties gehen, den ersten (gleichgeschlechtlichen) Kuss mit den Freund_innen teilen, sich ausprobieren mit Styles, mit Musik, mit Queer-Politik – das alles hat Helmut "verpasst"? Nein, stimmt nicht, sagt Helmut, ich war in dieser Zeit schon glücklich mit meiner Frau zusammen. Er schaute mich grübelnd an: "Katharina, glaubst du, dass Homosexualität angeboren ist? Weil das verwirrt mich immer: Die meisten Schwulen, die ich kenne, haben das schon in ihrer Kindheit gewusst."

Das Gespräch berührt mich, denn es ist anders als viele anderen Gespräche, die ich zuvor zu dem Thema hatte. Es geht tief. Es ist nicht selbstverständlich. Es bricht ein schweres Schweigen. Ich verspüre Glück, weil ich sehe, wie sich in meinem Freund Helmut etwas gelöst hat. Ein Jahre altes, verfilztes Wollknäuel. Gleichzeitig weiß ich irgendwie: Es wird unter Umständen nicht alles leichter für ihn. Zumindest nicht sofort.

In wen wir uns verlieben oder wen wir begehren, kann sich im Laufe unseres Lebens verändern. Manche bleiben ein Leben lang hetero- oder homosexuell. Manche sagen, sie wussten das schon immer, dass sie so oder so empfinden. Andere sind mal mit einer Frau, mal mit einem Mann zusammen (oder mit anderen Geschlechtern). Wahrscheinlich sind Teile der sexuellen Orientierung angeboren und andere haben damit zu tun, auf wen wir in unserem Leben treffen und mit welchen "Begehrensmöglichkeiten" wir umgeben sind. Ich erinnere mich an eine Freundin von mir in der Studienzeit: Sie war mit einem Mann verheiratet und verliebte sich prompt in eine Frau, die schon länger lesbisch lebte. Die beiden wurden ein Paar. Von einer lesbischen Ader hatte diese Freundin bis dato nichts "geahnt".

Helmut fühlt sich jetzt freier, berichtete er mir bei unserem letzten Treffen. Der Sommer in Wien veranlasste uns, gemeinsam auf einer Decke in einer Wiese am Donaukanal Platz zu nehmen. Irgendwie kam er mir ausgelassener vor als sonst – und das lag sicher nicht nur an der Flasche Wein, die wir gemeinsam tranken. "Ich habe plötzlich Energien, von denen ich vorher nichts wusste", lachte er. "Das Unterdrücken und Geheimhalten dessen, was zu meiner Identität gehört, hat mich wohl ganz schön viel Kraft gekostet." Da kam mir die Idee, diesen Text zu schreiben. Helmut fand sie gut. Er möchte gerne anderen Mut zusprechen, anzufangen, sich selbst zu leben – vor allem den "älteren Semestern", wie er sagte. "Es ist nie zu spät. Im Gegenteil – …".

 

[1] Alle Namen sowie genaues Alter und Umstände von der Verfasserin geändert.

[2] Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*

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