Angriffigkeit und Bedeutungsjournalismus

Angriffigkeit und Bedeutungsjournalismus
Ein ambivalentes DEFA-Remake der Gegenwarts-UFA. Ansonsten will Bertelsmann sich ein bisschen selbst kannibalisieren. Wie mühsam die Rekonstruktion von Blogtexten sein kann. Sowie mindestens drei Lehren, die aus Erfahrungen im Flugzeugabsturzjournalismus gezogen werden könnten.

Man wird es nicht auf Anhieb im Geldbeutel bemerken, aber dieser Mittwoch ist ein historischer Tag. Einem Beschluss von vor über einem Jahr gemäß beträgt die monatliche Rundfunkgebühr, die eigentlich nicht mehr Rundfunkgebühr (und erst recht nicht GEZ-Gebühr) heißt, seit diesem April 48 Cent weniger, als sie noch im März betrug (rundfunkbeitrag.de).

Tagesaktuelles Medienecho: Das heutige Ereignis bleibt vielleicht gar nicht historisch, "2017 könnte der Beitrag sogar noch einmal sinken", 2020 aber wird er, "wenn sich am Rundfunk nichts grundlegend ändert, ganz einfach wieder kräftig weiter steigen", prophezeit Claudia Tieschky auf der SZ-Medienseite, nicht ohne an die milliardenschwere Altersvorsorge der Rundfunkanstalten zu erinnern. "Das erste Ziel ist die Beitragsstabilität", zitiert indes die FAZ-Medienseite die medienpolitisch interessierteste Ministerpräsidentin Malu Dreyer.

Und "einen der Väter des Rundfunkbeitrags", als handele sich doch um ein mediales Wirtschaftswunder, zitiert ebenfalls via DPA der Tagesspiegel mit der warnenden Info, dass das Geld nicht "auf den Bäumen wachsen" würde. Wie dieses Bild in Hermann Eichers Kopf geriet? Der SWR-Justiziar liest halt seine FAZ.

[+++] Darauf gleich ein Blick ins Abendprogramm von ARD und ZDF. Im teuren Fernsehgenre Fußball haben sie, untypisch am Mittwoch, nichts zu bieten. Aber ein Fernsehereignis, für das die ARD wiederum Beiträge ins selten werdende Werbegenre Zeitungsanzeige investierte: Dieses "Nackt unter Wölfen" ist ebenfalls historisch brisant.

Rasch ein Blick zurück: Die DEFA, also das DDR-Filmstudio, zu dem die vor noch nicht ganz 100 Jahren, während der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs gegründete Ufa nach dem Zweiten Weltkrieg wurde (in dem sie ihre im Ersten noch nicht so erfolgreich erledigte Gründungsaufgabe, Filmpropaganda zu betreiben, dann umfänglich erfüllte), hatte den gleichnamigen Roman von Bruno Apitz in den 1960er Jahren verfilmt.

Das Buch war in der DDR ungefähr so weit verbreitet, wie es in der BRD und anschließend im vereinten Deutschland verpönt war. "Als geradezu sinnbildlich für das Vergessen des Schriftstellers erscheint der Umstand, dass die 1985 enthüllte Gedenktafel an seinem Leipziger Geburtshaus ... entfernt wurde, obwohl die Ehrenbürgerschaft der Stadt bis heute besteht", hieß es in der Ankündigung einer neuen Apitz-Biografie, die neue Ambivalenzen publik machte (dass Apitz "etliche Umarbeitungen seines Textes hinnehmen musste, bevor das Manuskript in Druck gehen durfte", sich aber wohl auch "von der Staatssicherheit anwerben ließ").

Wer nun hinter dem Remake bzw. der "filmischen Neuinterpretation" von "Nackt unter Wölfen" steckt, ergänzt die beträchtlichen Ambivalenzen der Sichtweisen auf den "fast vergessenen kommunistischen Widerstand im KZ", die Kerstin Decker im Sonn-Tagesspiegel umkreiste. Es ist die Gegenwarts-UFA, also das UMUV-Team rund um Nico Hofmann, "dessen Name für perfide Gegenaufklärungswerke wie 'Dresden' und 'Unsere Mütter, unsere Väter' steht" (wie Altpapier-Autor René Martens in der TAZ formuliert).

"Für einen Hofmann-Film ist 'Nackt unter Wölfen' nicht schlecht, was aber auch heißt, dass er weit davon entfernt ist, sehenswert zu sein", lautet das enorm ambivalente TAZ-Fazit.

Nico Hofmann stehe "für eine Kunst, den medial abgestumpften Zuschauer aus der Verstandesreserve zu locken und die Sinnlichkeit eines Stoffes körperlich erfahrbar zu machen", findet dagegen der durch TV-Events freilich recht leicht zu lockende Spiegel-Veteran Nikolaus von Festenberg im Tagesspiegel. Torsten Wahl stellt für die Berliner Zeitung einen instruktiven Vergleich mit Frank Beyers DEFA-Film an. Die FAZ-Besprechung im Sound vergangener Jahrzehnte ("Kadelbach und Kolditz", Regisseur und Drehbuchautor, "gelingt mit ihrem aufwendig inszenierten Film ein wichtiges Stück Aufklärung") steht noch nicht frei online. Tilmann P. Gangloffs nebenan tut's natürlich.

Und weil das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen der 2010er Jahre ist, was es halt ist, performte Nico Hofmann gestern nacht auch gleich bei Sandra Maischberger in einer Talkshow von "einiger Sprengkraft" (faz.net, siehe auch welt.de) ...

[+++] Noch'n Blick zurück: Während der Markenname Ufa am Originalstandort Babelsberg in der DDR für ein paar Jahrzehnte verschwand, wurde er im Westen weitergeführt, ging insolvent und landete in den 1960ern bei Bertelsmann. Dem immer noch größten europäischen Medienkonzern bzw. "Medien- und Dienstleistungskonzern", wie EPD inzwischen schreibt, gehört er immer noch.

Bertelsmann hat gerade wieder neue Geschäftszahlen präsentiert (sehenswerte Bildergalerie). Dazu führte der Chefredakteur des inzwischen zu einem Tick mehr als einem Viertel von Bertelsmann besessenen Spiegel Online ein Interview mit dem aktuellen Bertelsmann-Chef. Anfangs, wenn Florian Harms (und ein Kollege) den "schmalen roten Streifen" an der "Fitness-Armbanduhr" beschreiben, die der gedeckt gekleidete Rabe während des Interviews in einer "Sitzgruppe aus weinrotem Leder" als Farbtupfer um hatte, scheint der Artikel auf dem Weg zu einer raffinierten Persiflage zu sein. Aber dann ist's doch nur ein von der Presseabteilung abgesegnete Strategie-Auskunft.

Rabe spricht von "unseren wertvollen RTL-Formaten"; das Zeug zu einem Klassiker der Medienbetriebswirtschaftslehre könnte sein Satz "Natürlich sind wir bereit, uns, falls erforderlich, auch ein Stück weit selbst zu kannibalisieren" haben. Etwas ungewöhnlich ist, wie vergleichsweise offen Rabe über Fehler seiner Vorgänger spricht ("Das Unternehmen hat auch zu lange auf strukturell rückläufige Geschäfte gesetzt. Zum Beispiel hat Bertelsmann noch 2003 und 2004 massiv in Tiefdruckkapazitäten investiert"). Schade eigentlich, dass Harms nicht nach dem Vorvorgänger fragte, der zeitweise echt ein Händchen fürs damals junge Digitalgeschäft besessen hatte und tagesaktuell auch wieder durch die Schlagzeilen rauscht ...

Wie Bertelsmann "mit Alibaba zusammenarbeiten" will, also in China, beleuchtet Christian Meier in Springers Welt. Frische Nettigkeiten über Gruner + Jahr, was es "beim traditionellen Get-Together" zu essen gab und von wem, weiß Georg Altrogge (meedia.de) zu berichten.

[+++] Harter Schnitt. Das Buch des bisher nur zu einem Bruchteil des verhängten Ausmaßes ausgepeitschten Bloggers Raif Badawi erscheint heute (bei Ullstein). Es ist bloß 64 Seiten stark. Es war aber auch schwer, Badawis Texte zu rekonstruieren.

"Frau Badawi besitzt keine Sammlung der Texte Ihres Mannes. Es ist kein USB-Stick vorhanden, den man einfach anschließt und auswertet. Manche Texte liegen zwar vor, aber in den meisten Fällen mussten sie mühsam rekonstruiert werden, weil die ursprüngliche Website, auf der die Blogeinträge erschienen, längst gesperrt ist. Geholfen haben bei der Suche viele Foren, in denen Ausschnitte aus Texten mittels Copy & Paste eingesetzt wurden. Das alles muss erst mal gefunden und zusammengefügt werden",

erläutert der Herausgeber Constantin Schreiber. Das dwdl.de-Interview ist lesenswert, auch weil Schreiber Empörung darüber, dass "Politiker wie Herr Gabriel verlauten lassen, Badawi sei am besten zu helfen, indem man nicht darüber spricht", äußert.

Texte Badawis sind, unter einer kompetenten Einordnung des saudi-arabischen Wahabismus, auch hier bei evangelisch.de zu lesen.

(Und apropos: "Viele Kommentatoren schreiben ... so einfühlsam über die saudischen 'Albträume', vom Iran 'eingekreist' zu werden, als seien sie gerade vom Briefing in Riads Botschaft gekommen", beklagt Charlotte Wiedemann heute auf der TAZ-Meinungsseite aus anderem aktuellen Anlass).

 

[+++] Viele Kommentatoren kreisen natürlich auch, mit Recht, um den Flugzeugabsturz in der vergangenen Woche und seine Folgen.

Die "ganz neue Dimension der öffentlichen Medienkritik" bringt der schweizerische Journalistik-Professor Vinzenz Wyss auf u.a. diese Punkte:

"Tatsächlich haben wir es in den sozialen Medien mit einer sehr starken Angriffigkeit zu tun."

Doch ebenfalls

"haben wir tatsächlich in der Blogosphäre sehr seriöse, reflektierte, medienkritische Beiträge und auf der anderen Seite eine Medienbranche, die doch stark unter Druck gekommen ist und sich rechtfertigen muss, und die auch ein bisschen mimosenhaft darauf reagiert",

sagt er in einem auch verschriftlichten (auch schweizerischen) Radio-Interview. Das wäre ein Fazit, das sich vielleicht weithin teilen ließe und ermöglichen könnte, tatsächlich Lehren zu ziehen.

Zum Beispiel, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich verpflichten könnte, künftig sogenannten Experten nicht schlicht als "-experte" vorzustellen, sondern offenzulegen, wie diese mit Verbänden und/ oder Unternehmen verbunden sind. Das könnte es ja sogar im Bonusmaterial im Internet tun, das es sonst immerzu bewirbt. Aktuell ist Marvin Oppong für meedia.de, durchaus gelassen, zwei Beispielen aus der umfänglichen Absturz-Berichterstattung bzw. -sendezeitfüllung nachgegangen.

Zum Beispiel könnte sich lernen lassen,

"Alles was sich Journalist nennt sofort per Smartphone beim Witwenschütteln [zu] filmen."

Diesen Ratschlag des Kommentators Strabo aus der Diskussion unter Stefan Niggemeiers gewohnt angriffigem Blogbeitrag über einen Tweet-Wechsel zwischen einem "Spiegel TV"-Verantwortungsträger und dem gestern auch hier erwähnten Halterner Schüler Mika Baumeister sollten Journalisten jedenfalls im Hinterkopf haben.

Und außerdem könnte sich lernen lassen, dass manchmal

"Satire ... einfach mal die Klappe halten"

sollte, wie Volker Lilienthal wg. dieses (später von den Bild-Zeitungs-Medien auch anderweitig überholten) Postillon-Beitrags twitterte.


Altpapierkorb

+++ Um "Bedeutungsjournalismus als Entsprechung zu den laufend neu veröffentlichten, aufwändig gestalteten CD- und DVD-Editionen popmusikhistorisch durchgesetzter Stars, die treue Fans erfreuen", ansonsten aber unnötig sind, weil "Musik völlig immateriell ist", ging es im am Freitag hier erwähnten Matthias-Dell-Artikel. Inzwischen ist er gratis online zu haben. Matthias gibt da anhand eines Klaus-Harpprecht-Interviews Hinweise, wo im Journalismus noch Kosten gestrichen werden könnten, "ohne Einbußen an der Qualität des Textes befürchten zu müssen" - nicht im Namen der Schicklers, sondern im Freitag (den freilich ein, was den Freitag betrifft, sehr kostenbewusster Spiegel-Miteigentümer verantwortet). +++

+++ Facebook "speichert ... auch das Surfverhalten von Nicht-Mitgliedern, die das explizit ausgeschlossen haben", also das von jedem (golem.de). +++

+++ "Ein Experiment, das es so noch nicht gab: Eine Live-Show, die in erster Linie auf die Kraft besonders bewegender Bilder setzt ...": Thomas Lückerath von dwdl.de reicht in punkto Begeisterungsfähigkeit Nikolaus von Festenberg ohne Weiteres das Wasser. Aktuell widmet er sie dem Gegenprogramm des ZDF zu "Nackt unter Wölfen", der Johannes B. Kerner-Show "Das große Schlüpfen". +++

+++ Ein "enorm wichtiges Signal in alle Amtsstuben" (Bülend Ürük, kress.de) hat Bild-Zeitungs-Chefreporter Hans-Wilhelm Saure vorm Bundesverwaltungsgericht in Leipzig erstritten. +++ Beim nun bestätigten Auskunftsanspruch ging es "um zwei etwa vierwöchige Modemessen auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Saure wollte damit Zweifeln an der Wirtschaftlichkeit des Mietverhältnisses nachgehen" (SZ-Medienseite). +++

+++ Da das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen der 2010er Jahre ist, was es halt ist, ist nach dem Fernsehevent immer vor dem Fernsehevent. Das nächste folgt spätestens am Karfreitag in Form der Ufa-Verfilmung von Bernhard Grzimeks Leben. Wer das noch mal war, rekapituliert Karoline Meta Beisel auf der SZ-Medienseite. +++ Auf der außerdem der "polyglotte Komiker (sechs Sprachen, darunter auch Deutsch)" Trevor Noah als Jon Stewarts Nachfolger in der "Daily Show" gewürdigt wird. +++

+++ Auf der TAZ-Medienseite: Silke Burmesters Kriegsreportage (Freischreiber-Stoff ...). +++

+++ Vielleicht ein Aprilscherz: dass der Bayerische Rundfunk "an einen 'Tatort' aus Marktl am Inn" denkt: "Man wolle die Regionalisierung stärken, heißt es aus Senderkreisen, und für eine gewisse religiöse Konnotation sorgen" (FAZ-Medienseite). +++ Vielleicht kein Aprilscherz: dass Deniz Yücel, der gestern nicht ganz ohne Untertöne seinen TAZ-Abschied ankündigte, zu Springer wechselt (kress.de). +++

+++ Und "wer hat schon die Zeit, Tag fuer Tag diese Menge an Guelle zu kuratieren?", außer fefe. Zehn Jahre Fefismus werden auch umfänglich gewürdigt, teils fefeministisch, sehr kritisch von Michael Seemann bei mspr0.de ("Fefe ist zu faul zum Recherchieren, hat von nichts ne Ahnung, aber zu allem ne Meinung", und "wenn sich seine reaktionäre Sicht auf die Welt mit seiner aggressiven Ignoranz paart, wird es besonders schlimm"). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

 

 

 

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