evangelisch.de: Herr Bedford-Strohm, wenn Sie auf den Sommer 2015 zurückblicken: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Angela Merkel den Satz "Wir schaffen das" sagte?
Heinrich Bedford-Strohm: Mein Gefühl war: Danke! Genau das muss eine Regierungschefin sagen, wenn es um eine schwere Aufgabe geht, die es gemeinsam zu schultern gilt. Gerade wenn es um die Bewährung von Humanität geht, ist Zuversicht die wichtigste christliche Tugend.
Sie haben sich damals als Ratsvorsitzender der EKD sehr klar für die Aufnahme Geflüchteter ausgesprochen. Was hat Sie in Ihrer Haltung am stärksten motiviert?
Bedford-Strohm: Die wichtigste Motivation war schlicht die Not der Menschen. Die hatten sich ja nicht aus Abenteuerlust auf den Weg gemacht, sondern weil sie vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen waren und dann der UNO in den Flüchtlingslagern drumherum die Mittel für Nahrungshilfe ausgingen. Daran muss ich manchmal denken, wenn man jetzt den großen Fehler macht, die Mittel für humanitäre Nothilfe zu kürzen, um mehr Geld für den Militäretat zur Verfügung zu haben. Haben wir nichts gelernt?
Wie haben Sie die Rolle der Kirchen in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 erlebt? Sowohl in der Leitung als auch an der Basis?
Bedford-Strohm: Was die Menschen in den Gemeinden da geleistet haben, war stark. Sie haben gespürt, dass es galt, die Liebe Jesu Christi jetzt mit dem eigenen Leben zu bezeugen. Es hat mich berührt, wenn geflüchtete Menschen, die sich haben taufen lassen, mir später als Grund ihrer Entscheidung genau die Liebe genannt haben, die sie erfahren haben. Als Kirchenleitungen haben wir das mit unseren Mitteln zu unterstützen versucht. Dass wir etwa in Bayern durch gute Kommunikation zwischen den kirchenleitenden Organen dafür innerhalb kürzester Zeit Sondermittel von 20 Millionen Euro für die Jahre 2015 und 2016 zur Verfügung stellen konnten, hat mich stolz auf meine Kirche gemacht. Andere Landeskirchen haben es ähnlich gemacht. Alle haben gespürt: jetzt muss Nächstenliebe sich bewähren.
"Es ist deutlich geworden, wie viel Empathie in unserem Land steckt"
Im Rückblick: Was wurde in Deutschland aus Ihrer Sicht gut bewältigt im Umgang mit Geflüchteten; und wo sehen Sie Defizite oder versäumte Chancen?
Bedford-Strohm: Gut bewältigt wurde die kurzfristige Aufnahme. Es war einfach klasse, wie ehrenamtliche Helfer:innen, Bürgermeister, Polizei und alle, die Gebäude zur Verfügung stellten oder anders unterstützen, hier zusammengewirkt haben. Es ist deutlich geworden, wie viel Empathie in unserem Land steckt. Defizite sind deutlich geworden in all den Hindernissen für die Arbeitsaufnahme. Viele Menschen wollten arbeiten, bekamen aber keine Erlaubnis dazu. So mussten sie in de Unterkünften ihre Zeit totschlagen.
Kritiker sprechen von einer gescheiterten Integration oder einer überforderten Gesellschaft. Was entgegnen Sie denen heute, zehn Jahre später?
Bedford-Strohm: Hier gibt es Licht und Schatten. Wenn Menschen Verhaltensweisen an den Tag legen, die die Grundwerte unserer Verfassung, mit dem Schutz der Menschenwürde als ihrem Kern, sabotieren, dann darf das nicht geduldet werden. Das gilt für alle, egal, woher jemand kommt. Schlimm ist aber, wenn Fehlverhalten Einzelner auf eine ganze Gruppe übertragen wird. Das ist leider zunehmend passiert, auch durch Politiker, die es besser wissen müssten. Die Algorithmen im Internet haben die dadurch ausgesendeten Hassbotschaften dann noch verstärkt, so dass die Stimmung gekippt ist. Hass, Empörung und Schwarzweißbotschaften werden in den sozialen Netzwerken eben leider viel häufiger angeklickt als differenzierte Sichtweisen. Dagegen helfen nur Begegnung, echte Kommunikation und Lösungsvorschläge, die auch wirklich funktionieren.
Die politische Debatte um Flucht, Migration und Asyl ist heute polarisiert wie selten zuvor. Wie kann sich die Kirche in diesem Spannungsfeld positionieren?
Bedford-Strohm: Die Kirche muss den Auftrag erfüllen, den Jesus ihr gegeben hat: nämlich Gottesliebe und Nächstenliebe auszustrahlen. Das bedeutet, dass wir den Menschen nie auf seine Worte und Taten reduzieren, sondern ihn immer zuerst als Menschen sehen. Das gilt auch dann, wenn er etwa fremdenfeindliche Thesen vertritt. In den Gesprächen orientieren wir uns aber immer an Christus als dem Zentrum unseres Glaubens, der sich mit den Geringsten unserer Schwestern und Brüder identifiziert hat. Ich glaube, dass diese Verbindung von inhaltlicher Klarheit und menschlicher Verbindlichkeit das ist, was wir jetzt brauchen. Mit dieser Haltung können wir dann vielleicht auch in die Politik hineinwirken.
"Es ist schlimm, wenn jetzt die Mittel für Entwicklungshilfe gekürzt werden sollen und die Klimapolitik in den Hintergrund tritt. Denn Klimapolitik ist die beste Flüchtlingspolitik der Zukunft"
Was bedeutet christliche Nächstenliebe konkret in einer Zeit, in der sich viele Menschen abgehängt oder überfordert fühlen - auch in Hinblick auf Migrationsthemen?
Bedford-Strohm: Es bedeutet vor allem, die Not der einen nicht gegen die Not der anderen auszuspielen. In einem Land, in dem das Geldvermögen der privaten Haushalte inzwischen den Rekordwert von über 9 Billionen Euro erreicht hat, kann niemand sagen, dass es nicht möglich ist, den Menschen, die hier unter Armut leiden und den Menschen, die aus Notsituationen flüchten, gleichermaßen beizustehen. Dabei muss die Bekämpfung der Fluchtursachen höchste Priorität haben. Deswegen ist es so schlimm, wenn jetzt die Mittel für Entwicklungshilfe gekürzt werden sollen und die Klimapolitik in den Hintergrund tritt. Denn Klimapolitik ist die beste Flüchtlingspolitik der Zukunft.
Was wünschen Sie sich heute von der evangelischen Kirche im Umgang mit Geflüchteten: in Gemeinden, Diakonie, kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit?
Bedford-Strohm: Das Wichtigste ist, Geflüchtete als Menschen mit ihrer besonderen Geschichte wirklich zu sehen und sichtbar zu machen. Wer echten Menschen begegnet, kann nicht mehr so leicht über sie herziehen. Und ich wünsche mir, dass wir als Kirche mithelfen, den riesengroßen Beitrag sichtbar zu machen, den Menschen, die aus anderen Ländern hierhergekommen sind, zu unserer Gesellschaft leisten. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund ihren Dienst in den Altenheimen, Krankenhäusern, bei der Müllabfuhr oder im öffentlichen Nahverkehr quittieren würden, weil sie sich hier immer mehr ausgegrenzt fühlen, wären wir aufgeschmissen. Daran sollten all diejenigen gelegentlich denken, die jetzt über Fremde herziehen.
"Sie wären nicht mehr am Leben gewesen, wenn es keine Seenotrettung gegeben hätte"
Und persönlich gefragt: Gibt es eine Begegnung mit einem Geflüchteten, die Sie besonders berührt oder geprägt hat - vielleicht sogar bis heute?
Bedford-Strohm: Ich habe nie vergessen, wie ich 2016 in einem Flüchtlingsheim in Sardinien in das Gesicht von Menschen geschaut habe, die kurz zuvor in Rahmen der europäischen Mission Sophia von einem Marineschiff der Bundeswehr im Mittelmeer gerettet worden waren. Sie wären nicht mehr am Leben gewesen, wenn es keine Seenotrettung gegeben hätte. Die Mission ist später ersatzlos eingestellt worden. Nur die zivilen Seenotretter sind geblieben. Und ich denke immer wieder an Hassan, den Zimmermann, den ich an der serbisch-makedonischen Grenze an dem Tag getroffen habe, an dem Ungarn den Stacheldraht an der Grenze schloss. "Dann gehe ich einen anderen Weg" – sagte er. Ob er es wohl geschafft hat?