Was Dinge vom Glauben erzählen
Religion ist nicht nur etwas für den Kopf – sie zeigt sich auch in Dingen: in einem Gesangbuch, einem Abendmahlskelch, einer Kirchenbank. Solche Objekte erzählen Geschichten. Vom Glauben. Vom Alltag. Von dem, was Menschen bewegt hat – und heute noch bewegt. In der Serie "Evangelisches Zeug" geht es um genau solche Dinge. Um Alltagsobjekte und besondere Stücke, die etwas über evangelische Frömmigkeit und Kultur verraten. "Zeug" ist hier liebevoll gemeint – im Sinne von "Gegenstand", "Gerät", "Begleiter". Neugierig geworden? Dann gehen Sie mit Kunsthistoriker Sebastian Watta auf Entdeckungstour – durch Kirchen, Museen oder einfach im Alltag. Es gibt viel zu sehen und einiges neu zu entdecken.
Meine Zeit steht in deinen Händen. So beginnt ein bekanntes Kirchenlied von Peter Strauch aus dem Jahr 1981. Als jugendlicher Konfirmand, der ungefähr ein Jahrzehnt später im Sonntagsgottesdienst saß, habe ich das oft gefühlt, allerdings vor allem in Bezug auf unseren Pastor, meine Zeit liegt in seinen Händen. Ein engagierter, ein meinungsstarker, ein politischer Dorfpastor. Und ein gefürchteter Prediger, der außergewöhnlichen Intensität und vor allem der Dauer seiner Ausführungen wegen. Als Konfirmand, der an den Sonntagen brav seinen Anwesenheitszettel nach dem Gottesdienst abzeichnen ließ, grenzte das für mich an unwirkliche Zeitmanipulation, die gefühlt unendliche Ausdehnung der herausfordernden Situation. Später habe ich diesen Pastor für seine Haltung und das, was er sagte, geschätzt. Als Vierzehnjähriger, da in diesem Lebensalter Langeweile oft körperlich schmerzt, konnte ich das nicht.
Zur Verteidigung meines damaligen jüngeren Ichs kann ich vielleicht anführen, dass auch schon Martin Luther ein wenig spöttelte über Prediger, die ihre Zeit drastisch über Gebühr ausnutzen. Über seinen Mitreformator Johannes Bugenhagen sagte er in recht deutlicher Art, dieser mache durch die Länge seiner Predigten die Zuhörer zu seiner ganz privaten Opfergabe.
Was tun gegen zu lange Predigten?
Es ist wohl auch anderen so gegangen, denn man schuf Abhilfe mit einem "Ding": Bei den Predigt- oder Kanzeluhren handelt es sich in den allermeisten Fällen um Sanduhren, bei denen ein oder mehrere gläserner Behälter in einem Gestell präsentiert wurden. Zwar gab es sie auch bereits früher, aber die große Zeit dieser Geräte war das 18. Jahrhundert. Man findet sie heute nicht nur immer noch in diversen Kirchenbauten oder Museumssammlungen in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern mit protestantischen Gemeinden.
Sanduhren kennen wir heute noch am ehesten aus der Sauna oder als Hilfsmittel bei der Zubereitung eines Frühstückseis. Sie sind etwa seit dem 13. Jahrhundert in Mitteleuropa bekannt und gehören zu den "Elementaruhren", wie auch die bereits seit der Antike existierenden Sonnen- und Wasseruhren. Letztere dienten übrigens auch oftmals zur Messung von Redezeit.
Wo man die Zeit verstreichen sieht
Das Prinzip kennt jede:r: Sand rinnt in einer bestimmten Zeitspanne durch genau bemessene Öffnungen zwischen zwei doppelt-birnenförmigen Glasbehältnissen. Die Uhren herzustellen, war aber eine handwerkliche Leistung. Da die Gläser der zentrale Bestandteil waren, verwundert es nicht, dass Zentren der Herstellung etwa in Venedig und Nürnberg lagen. Vielleicht haben Sie schon einmal den Begriff "Glasen" als Bezeichnung für eine halbe Stunde in der Seefahrt gehört, der aus dieser Bauweise abgeleitet ist.
Es gab unterschiedliche Bauweisen. Bei mehreren Gläsern konnte man diese nacheinander umdrehen, jeweils für einzelne Zeitspannen, wie Viertelstunden, oder für Abschnitte des Gottesdienstes. Auch gab es Varianten, bei denen das gesamte Gestell mit mehreren Gläsern gedreht wurde, die dann unterschiedliche Zeitspannen maßen, indem der Sand im einen Glas mit größerer Öffnung schneller, im anderen langsamer lief. Als Meisterstück in der Ausbildung der Nürnberger Sanduhrmacher musste eine Kombination aus vier unterschiedlich lang messenden Sanduhren in einem Gestell gefertigt werden, wie es auch viele Predigtuhren sind.
Auch Mechanik gibt den Takt im Gottesdienst vor
Die Bedienung der Uhren übernahmen oftmals die Kirchenbediensteten. Beschriftungen und Skalen auf den Gläsern erleichterten das Ablesen für den Prediger. Die Gemeinde sah aus der Distanz sicherlich nur grob, wie weit die Zeit bereits fortgeschritten war. Die Predigtuhren sollten zumeist dafür sorgen, dass eine Predigt nicht länger als eine Stunde dauerte.
Weit seltener sind mechanische Predigtuhren. Eine solche, aus der Zeit der Renaissance, hängt über dem Zugang aus dem Turm in den Kirchenraum der St. Martini-Kirche in Stadthagen. Sie war ehemals mit dem Mechanismus der Turmuhr verbunden.
Auf dem bemalten Zifferblatt weist ein einzelner Zeiger die nach heutigem Verständnis eher ungefähre Uhrzeit, während den Viertelstunden- und Stundenschlag zwei Assistenzfiguren mit Glockenseilen, eine Nonne und ein Mönch übernehmen. War hier die Predigt außerhalb des zeitlichen Rahmens und immer noch im Gange, wenn die Stunde voll war, konnte man das kaum überhören.
Manchmal wissen wir, wie diese Uhren in ihre Kirchen gelangten. Der evangelischen Pfarrkirche St. Johannes in Kronberg im Taunus etwa schenkten im 1. Viertel des 17. Jahrhunderts Hermann von Kronberg und seine Frau Anna Sidonie Brömser eine neue Kanzel, zu der auch eine Kanzeluhr im Holzrahmen gehört. An die großzügige Gabe erinnern die Wappen der Geldgeber an der Kanzelrückwand.
An den Uhren ist ja nicht viel dran. Gestaltungsaufwand konnte bei den Stücken fast ausschließlich in das rahmende Gestell der Gläser investiert werden. Eine Variante mit vier Gläsern in einem leuchtend goldenen Messinggestell mit punzierten Sternen, gehalten von einem Stab mit kupfernem Blattschmuck gehört zum farbenfrohen Kanzelensemble der Stadtkirche von Lauterbach im Vogelsberg, einer der schönsten evangelischen Rokoko-Kirchen Hessens.
Nicht jeder konnte eine ganze Kanzel bezahlen. Teilweise wurden auch die Uhren, wie andere kirchliche Ausstattungselemente, einzeln von Angehörigen der Gemeinde geschenkt. In diesen Fällen brachte man oft den Namen oder das Monogramm, manchmal zusammen mit einer Jahreszahl, auf den Stücken an. Auch wenn diese Schenkermonogramme und Namensinschriften wohl meistens zu klein waren, um von den Gottesdienstteilnehmenden mit Ausnahme des Pastors gesehen zu werden, so konnten sich die Geldgeber doch immer auf zweierlei verlassen: Sie trugen mit ihrem Geschenk zu einem zentralen Element des evangelischen Ritus, der Predigt, bei. Außerdem war ihr Engagement in Form ihrer Namen, Initialen oder Wappen auch noch an der Kanzel als Ort jeder Predigt gleichsam vertreten.
Ein protestantisches Ding
Warum war die Predigtuhr an der Kanzel nun aber nun besonders in protestantischen Kirchen im Gebrauch? Die Predigt nimmt, wie gerade gesagt, im evangelischen Ritus einen großen und bedeutenden Raum ein. Als Hilfsmittel diente das Messinstrument dazu, den zeitlichen Rahmen dafür dennoch zu begrenzen.
Sie bezog sich dabei auf eine Vorstellung von Arbeit und das im doppelten Sinne: In der großen Zeit der Predigtuhren herrschte gesellschaftlich gesehen so etwas wie eine Gottesdienstpflicht. Man hatte zu erscheinen, es sei denn man hatte einen unwiderlegbaren Grund, der das unmöglich machte. Damit konnten aber die Gottesdienstteilnehmer, die Bauern- und Handwerkerfamilien, in dieser Zeit ihrer Arbeit nicht nachgehen. Um dies in einem bemessenen Rahmen zu halten, was auch durchaus im Interesse der regionalen Obrigkeit lag, geben die Uhren Orientierung für die maximale Predigtzeit. Teilweise wurde die Begrenzung durch den Zeitmesser aber wohl auch schlicht ignoriert. So gibt es die Anekdote von einem Pfarrer, der nach Ablauf der Zeit die Uhr mit den Worten noch einmal gedreht habe: "Genehmigen wir uns noch ein Gläschen."
Auf der anderen Seite sollten die Kanzelreden aber auch nicht zu kurz sein und der Pfarrer also wiederum seine Predigtarbeit, für die er bezahlt wurde, in angemessener Weise erledigen. Auch hier scheinen in einigen Fällen die Uhren nützlich gewesen zu sein.
Totenschädel mit "Gruselfaktor"
In der großen Zeit der Nutzung der Predigtuhren, war eine Sanduhr noch ein viel stärkeres Symbol als für heutige Betrachtende. Geht man durch Kirchen, vor allem des Barock, oder über Friedhöfe mit Gräbern dieser Zeit so sieht man Sanduhren allerorten. Manchmal werden sie von kleinen Putten oder gar vom personifizierten Tod mit der Sense gehalten, sie finden sich neben der Darstellung von Totenschädeln oder auch in Verbindung mit Sinnsprüchen, die die Zeitgenossen dazu ermahnten, sich um die heilsnotwendigen Dinge rechtzeitig zu bemühen. Sanduhren sind hier also Symbole der vanitas, der Vergänglichkeit.
Aber warum eignen sie sich dafür so gut? Auffällig ist, dass Sanduhren ihrer Bauweise nach immer nur eine vom Menschen unmittelbar erlebbare, also relativ kurze Zeitspanne messen, oft maximal eine Stunde. Ganz anders als die mit Rädern arbeitenden Uhrwerke, deren Gangreserve, also Zeit der Funktion nach dem letzten Aufziehen, und damit Zeitmessung von Tagen oder Wochen, bei Uhren der Gegenwart bis hin zu Jahren, jenseits aller menschlicher Überschaubarkeit liegt. Setzt man aber die eigene "Zeit", die durch den nur begrenzt rieselnden Sand erlebt wird, mit dem eigenen Leben gleich, dann vermittelt sich dem Menschen der Eindruck von Vergänglichkeit.
Diese Uhren dienten als Messinstrumente um zu zeigen, wie die Zeit verstreicht. Natürlich gilt das auch für die Lebenszeit, die uns gegeben ist. Symbole der vanitas, der Vergänglichkeit, lösen heute bei vielen ein gewisses Unbehagen aus, bringen einen "Gruselfaktor" mit. Sie sollten uns aber vor allem daran erinnern, etwas mit unserer Zeit anzufangen, das für uns und für andere sinnvoll ist. Denn das liegt in unseren Händen.