Warum Kirche sich neu finden muss

Jugendlicher kommt von der Kirche
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Mit jungen Menschen, die in die Kirche eintreten, muss Kirche anders kommunizieren, um sie zu halten.
Warum Kirche sich neu finden muss
Die evangelischen Landeskirchen und die Bistümer der katholischen Kirche in Deutschland sollen bis zum Jahr 2060 rund um die Hälfte weniger Mitglieder und um die Hälfte weniger Geld in der Kasse haben. So lautet das Ergebnis der Studie "Projektion 2060". Doch es gibt Hoffnung.

Die Lage ist sehr ernst. Beide großen Kirchen in Deutschland werden künftig ihren Gürtel enger schnallen müssen. Das zeigt die "Projektion 2060" unter der Leitung von Bernd Raffelhüschen, Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge und des Instituts für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und der wissenschaftlichen Mitarbeit von Fabian Peters und David Gutmann. Den Berechnungen der Wissenschaftler zufolge werden die Mitgliederzahlen beider Kirchen bis 2060 um etwa die Hälfte zurückgehen. Für die evangelische Kirche heißt das: sie soll von 21,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 2017 auf 10,5 Millionen im Jahr 2060 schrumpfen. Mit dem Rückgang der Mitgliederzahlen würden sich auch die finanziellen Möglichkeiten der beiden Kirchen bis 2060 in etwa halbieren.

Doch es gibt für die beiden großen Kirchen in Deutschland auch eine gute Nachricht. "Neu ist die Erkenntnis, dass sich weniger als die Hälfte des Rückgangs mit dem demografischen Wandel erklären lässt", sagt Bernd Raffelhüschen. Konkret heißt das, dass die Kirchen der Abwärtspirale nicht hoffnungslos ausgeliefert sind, sondern eine Chance erhalten, bewusst und aktiv in den Prozess eingreifen zu können. Künftig würden zwar altersbedingt zahlreiche Kirchenmitglieder sterben. "Einen [noch] größeren Einfluss auf die Mitgliederentwicklung hat aber das Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten von Kirchenmitgliedern", sagt Raffelhüschen. Für den Finanzwissenschaftler ist klar, dass sich daher ein differenzierter Blick auf die Gründe des Mitgliederrückgangs lohnt. Ein Ergebnis der Studie ist nämlich auch, dass im Mitgliederschwund vor allem die Kirchenaustritte eine bedeutsame Rolle spielen. Da mehr Menschen aus der Kirche austreten und immer weniger Kinder getauft werden, wird es der Kirche an gläubigem Nachwuchs fehlen. Bernd Raffelfhüschen empfiehlt den beiden großen Kirchen, "ihre Anstrengungen bei der Suche nach Zusammenhängen, die sie beeinflussen können, zu intensivieren". Das sei eine wahre Generationenaufgabe.

Im Jahr 2017 kehrten überwiegend Männer zwischen 25 und 35 Jahren der evangelischen Kirche den Rücken. Ihre Entscheidung zum Austritt falle häufig mit dem Ergreifen eines Berufes und damit auch der ersten Kirchensteuerzahlung zusammen, stellen die Forscher fest. Zugleich würden sie in dieser Lebensphase nur selten kirchliche Angebote nutzen. Ein tieferer Blick in die Zahlen verrät: bis zum 31. Lebensjahr treten 30 Prozent der getauften Männer und 22 Prozent der getauften Frauen aus der evangelischen Kirche aus. Das bedeutet für die evangelische Kirche auch weniger Taufen, da gerade in dieser Lebensphase junge Familien Kinder bekämen. Zumal seit Jahren nicht alle Kinder von evangelischen Müttern getauft würden: der Anteil liegt bei 80 Prozent. Generell gibt es weniger Kindertaufen im Vergleich zu den Geburten in Deutschland, weil es eben auch weniger evangelische Mütter gebe.

Gleiche Situation in beiden Konfessionen

Die Konfirmation wiederum ist vielerorts Anlass für einen Eintritt in die Kirche. So würden im Jahr 2017 rund neun Prozent aller Taufen im Zusammenhang mit der Konfirmation von überwiegend Mädchen im Alter von 13 bis 16 Jahren stattfinden. Fast die Hälfte der Eintritte in die evangelische Kirche erfolgt durch Erwachsenentaufen - das sind Taufen, die nach der Vollendung des 14. Lebensjahres vollzogen werden. Bei der anderen Hälfte der Eintritte überwiegen die Wiederaufnahmen - das sind Menschen die ausgetreten sind und wieder zur evangelischen Kirche dazugehören wollen. Häufig sind sie zwischen 25 und 45 Jahren alt. Insgesamt treten mehr Frauen als Männer in die Kirche ein. Die Zahl der Kircheneintritte liegt bei 0,2 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder.

Bis zum Jahr 2017 traten jährlich mehr als 45.000 Menschen in die evangelische Kirche und knapp 12.000 Menschen in die katholische Kirche ein. Ein weiterer Grund für den Eintritt in die Kirche ist die Migration. Aufgrund höherer Zuwanderungen aus dem Ausland soll künftig hauptsächlich die katholische Kirche bis zum Jahr 2060 mehr Mitglieder gewinnen. Eine höhere Zahl der Eintritte in die evangelische Kirche, beispielsweise durch Wiederaufnahme, der Aufnahme aus anderen Konfessionen und durch die Erwachsenentaufe, sorgt laut Projektion jedoch wiederum dafür, dass unterm Strich die Ein- und Austritte der beiden Kirchen gleich hoch ausfallen werden.

Babyboomer gehen in Rente, junge Erwachsene treten aus

Hat eine Kirche mehr zahlungskräftige Mitglieder, hat sie auch mehr Geld. Wie kommt es, dass die Kirchensteuereinahmen jetzt höher als noch vor einigen Jahren sind? Dies habe die evangelische Kirche zwei günstigen Umständen zu verdanken, erklärt Fabian Peters. Er verantwortet den evangelischen Teil der Mitglieder- und Kirchensteuerprojektion 2060. Die evangelische Kirche profitiere derzeit einerseits von der außerordentlich guten wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen zehn Jahre.

"Zum anderen befinden sich die  Babyboomer, also die starken Geburtsjahrgänge Mitte der 1960 Jahre, gerade in der Phase der höchsten Steuerzahlungen und damit auch der höchsten Kirchensteuerzahlungen". Die Babyboomer würden ab Mitte der 2020er Jahre bis 2035 verrentet werden, was sich dann auch im Kirchensteueraufkommen bemerkbar machen werde. Sollte diese Verrentung mit einer wirtschaftlich konjunkturellen Tiefphase zusammenfallen, könne dies ungemütlich für die Kirche werden, sagt Peters. Denn die Kirche könne aufgrund ihrer hohen Fixkosten, beispielsweise den Kosten für Personal und Gebäude, nur sehr träge darauf reagieren. Noch falle das Fehlen der jungen Menschen zwischen 20 und 35 Jahren, die sich gerade zum Kirchenaustritt entscheiden, kaum auf, weil sie im Moment sowieso wenig Steuern zahlen würden. Mit zunehmendem Alter und Gehalt würde sich dies aber bemerkbar machen.

Laut Projektion sollen beide Kirchen im Jahr 2060 rund zwölf Milliarden Euro an Kirchensteuern in der Kasse haben. Das ist fast viel wie im Jahr 2017, obwohl sich die Zahl der Mitglieder halbieren wird. Zu erklären sei das durch steigende Löhne und Gehälter in den nächsten Jahrzehnten. Allerdings würden sich die Kirchen trotz der aller Voraussicht nach weitgehend gleichbleibenden Einnahmen wegen des Kaufkraftverlustes nur noch die Hälfte des Bisherigen leisten können. Damit sich die Kirchen von ihren Steuereinnahmen im Jahr 2060 den gleichen "kirchlichen Warenkorb" leisten können wie 2017, bräuchten sie Kirchensteuereinnahmen in Höhe von knapp 25 Milliarden Euro, erklären die Wissenschaftler.

Die Analyse verdeutlicht auch, dass die Kirche in den kommenden zwei Jahrzenten noch über Ressourcen zur Umgestaltung verfüge. Künftige Schritte sollten ökumenisch durchgedacht werden, fordert Bernd Raffelhüschen. "Wir werden die theologische Flächenversorgung, wir werden die Bauten diskutieren müssen", sagt Raffelhüschen. So koste beispielsweise ein Gottesdienst gleich viel, egal ob 20 oder 200 Gottesdienstbesucher teilnehmen würden. Das aber seien für den Wissenschaftler alles lediglich Tropfen auf den heißen Stein. Der entscheidende Faktor sei die Frage, ob Kirche weiterhin Menschen an sich binden könne oder nicht. "Wenn wir das nicht tun, dann haben wir eine Hebelwirkung, die sehr ungesund wird." Er appelliert: "Wir müssen alles tun, dass wir diejenigen, die die finanziellen Traglasten schultern, an die Kirchen weiterhin binden und halten." Damit sind künftige erwerbstätige Kirchenmitglieder gemeint.

Mission ist wichtig

Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, teilt mit: "In der Kirche geht es immer darum, das Evangelium weiter zu sagen, auch unter veränderten Bedingungen. Für mich ist die Studie auch ein Aufruf zur Mission". Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sagt und bekräftigt: "Überall in Deutschland haben sich Christinnen und Christen auf den Weg gemacht, die Ausstrahlungskraft unserer Kirche für die Zukunft so nachhaltig wie möglich zu stärken. Und das ist keine Frage der Mitgliedschaftszahlen. Die vielen Millionen Menschen, die sich in unseren Gemeinden und diakonischen Einrichtungen aus Freiheit und nicht aus gesellschaftlicher Konvention engagieren, sind schon heute die besten Botschafter der Kirche von morgen."

"Für mich ist es fünf vor zwölf", sagt Andreas Barner, Mitglied des Rates der EKD. Die evangelische Kirche muss "heute die Zeit nutzen, um für Morgen vorbereitet zu sein". Er richtet seinen Blick auf die Austritte und auf die jungen Menschen im Alter von 15 und 20 Jahren, die auch in die Kirche eintreten würden. Mission sei wichtig. "Wir stellen fest, dass unsere klassischen Kommunikationskanäle, beispielsweise die Zeitung oder der Gottesdienst, vielleicht gar nicht die Kanäle sind, mit denen wir die Menschen erreichen." Die Art zu kommunizieren und Gottesdienste zu gestalten, müsse sich verändern, um diese jungen Menschen zu erreichen. Bernd Jünemann, Finanzdirektor des Erzbistums Berlin und Mitglied der Finanzkommission des Verbandes der Diözesen Deutschlands, blickt ebenfalls auf Jugendliche, wenn er sagt, dass es derzeit für  junge Menschen nach der Firmung oder Konfirmation zu wenig kirchliche Angebote gäbe.

Die "Projektion 2060" hat mit dem Mitgliederschwund und den leerer werdenden Kassen beider Kirchen bestätigt, was sozialwissenschaftliche Studien bereits vorab aufgezeigt hatten. Die evangelische Kirche wird über neue Wege nachdenken müssen, um Menschen auch in Zukunft noch zu erreichen. Nicht alles, was jetzt noch möglich ist, wird sie auch künftig machen können. Neu ist, dass die Studie Hoffnung macht, dass die Probleme abgefedert werdern können, wenn Kirche jetzt handelt, auf Menschen zugeht und ihre Mitglieder bindet.