"Wir wollen uns daran orientieren, wie Gott mit Menschen umgeht"

Ein junger Mann betet bei der Christival-Abschlussfeier in Bremen 2008.
Foto: epd-bild/Alasdair Jardine
Christival-Abschlussfeier in Bremen 2008.
"Wir wollen uns daran orientieren, wie Gott mit Menschen umgeht"
Interview zum Christival 2016 in Karlsruhe
Vom 4.-8. Mai treffen sich bis zu 13.000 Jugendliche in Karlsruhe zum Christival. Das Thema des Kongresses lautet "Versöhnung": Wie können Menschen wieder zueinander finden? Auch beim Thema Homosexualität, das evangelikale Christen derzeit spaltet, stellt sich diese Frage. Darum soll es beim Christival aber nur am Rande gehen - trotz der Kontroverse um ein "Heilungs-Seminar" beim letzten Christival 2008. Christival-Vorsitzender Karsten Hüttmann spricht im Interview über Versöhnung, Sorgen von Jugendlichen und noch nicht zerschnittene Tischtücher.

Herr Hüttmann, was ist das Christival?

Karsten Hüttmann: Das Christival ist ein evangelischer Jugendkongress zur Förderung und Motivation von Jugendmitarbeitenden, von Engagierten in Kirche, Gemeinde und Jugendarbeit unter verschiedenen Themenstellungen, die es über die vielen Jahre gab. Wir wollen junge Christinnen und Christen, die innerhalb der Kirche, Freikirchen, Werken und Verbänden engagiert sind, in ihrer Arbeit und in ihrem Glauben fördern und stärken.

Karsten Hüttmann
Karsten Hüttmann

Karsten Hüttmann (geboren 1971) ist Vorsitzender des Vereins Christival e.V.. Hauptberuflich ist der Referent für missionarisch-programmatische Arbeit im CVJM-Gesamtverband.

Hat sich die Ausrichtung verändert seit 1976?

Hüttmann: Was die Zielgruppe betrifft, würde ich sagen: nein. Was den Inhalt betrifft, auch nicht. Ich war selber Teilnehmer, zum ersten Mal 1996, dann 2002 in Kassel und 2008 in Bremen. Das Thema ist jedes Mal ein Neues und dadurch gibt's immer wieder einen neuen Blickwinkel. Ich glaube, die Formen haben sich verändert. Es ist wesentlich dialogischer geworden. Wenn man in die Morgenveranstaltungen, also zum Beispiel die Bibelarbeiten, reinschaut: Die sind wenig frontal, sondern viel mehr dialogisch angelegt, und trotzdem geht es inhaltlich immer wieder um die Frage: Was ist die Mission der Kirche?

Was ist denn die Mission der Kirche?

Hüttmann: Die Frage ist natürlich jetzt sehr weit gefasst. Aber es ist sicherlich die Frage: Wie kommt Christus in die Welt hinein? Die Liebe Gottes zu den Menschen zu bringen, diesmal eben an dem Stichwort: "Jesus versöhnt". Wir haben das aufgegriffen aus dem zweiten Korintherbrief, wo Paulus schreibt, dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat. Was bedeutet das eigentlich angesichts einer Welt, die an vielen Ecken so unversöhnt scheint?

Mit Blick auf die Seminare hatten wir den Eindruck, dass das Programm nicht so sehr politisch ist, sondern sich mehr auf persönlichem Glauben, auf Jugendarbeit, auf Mission richtet. Sind das die Themen, die den Jugendlichen nahe sind?

Hüttmann: Ich glaube, dass durchaus politische oder gesellschaftliche Fragen den jungen Menschen auch sehr nahe sind. Diese ganze Frage nach Flucht und Migration, das sind Themen, über die ich oft mit Jugendlichen spreche. Und das halte ich für ein sehr politisches Thema. Aber genauso rede ich auch viel mit Jugendlichen über ihre Fragen nach Spiritualität – wie können sie ihren Glauben leben? Wie lebt man heute in einem an manchen Stellen nicht atheistischen, aber doch areligiösen Umfeld seinen Glauben? Das sind ja sehr zentrale Lebensfragen. Von daher kann ich das gar nicht so auseinanderdividieren, und auch wenn ich so in die Seminare reingucke, entdecke ich schon auch sehr viel Weltverantwortung, wo die Frage nach gesellschaftlichem Miteinander besprochen wird. Das spiegelt sich auch in den Bibeltexten und den Abendveranstaltungen.

"Wenn uns jemand gesagt hätte: Wir würden gern ein Seminar machen zum Thema Homosexualität, dann hätten wir das glaube ich nicht unterbunden"

Es gibt ja noch einen anderen Bereich, in dem Jugendliche immer wieder mit ihrer Umgebung konfrontiert werden. Das ist der ganze Bereich Sexualität. Es gab beim Christival 2008 eine Kontroverse um zwei Seminare zum Thema Homosexualität und "Homo-Heilung", die viel Öffentlichkeit erzeugt hat. Hat sich diese Kontroverse auch auf die Vorbereitungen für dieses Christival ausgewirkt?

Hüttmann: Natürlich haben wir darüber diskutiert. Für uns war interessant, erstmal festzustellen, dass wir diejenigen waren, die das Thema angesprochen haben, sowohl gegenüber der Kirche als auch gegenüber der Stadt Karlsruhe. Wir haben gesagt: Also, wenn ihr uns einladet, müsst ihr wissen: Es gibt ein gewisses Erbe, das das Christival mit sich trägt. Und wir haben uns im Vorstand damit auseinandergesetzt. Ich würde sagen: Es hat sich, was das Christival als solches betrifft, nicht viel verändert zu 2008. Das Christival selber hat keine Meinung zu dem Thema, weil es eben ein Zusammenschluss von so vielen ist. Die Personen, die beteiligt sind, die haben sehr wohl Meinungen, und zwar gar nicht unbedingt identisch mit der ihrer Organisation, für die sie arbeiten. Wir haben im Vorstand 2010 mit Beginn der Vorbereitungen gesagt: Wir sehen das nicht als großes Thema an, auch wenn das 2008 – vielleicht auch stärker von außen als von innen – zum großen Thema gemacht wurde. Von daher wird der Umgang mit Homosexualität auch 2016 für uns kein Thema sein. Wir werden es nicht verhindern, wenn es hochkommt, aber wir werden es von unserer Seite auch nicht pushen.

Dass Christen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben, ist trotzdem ein heiß diskutiertes Thema, gerade auch im evangelikalen Bereich. Und vermutlich sind unter den Teilnehmenden doch auch etliche, die lesbisch oder schwul sind. Bietet das Christival denen etwas an?

Hüttmann: Wir haben ganz bewusst Vertreter von "Zwischenraum" gebeten haben, mit dabei zu sein. Auch die "Bruderschaft des Weges" wird da sein, deren Stimmen wollten wir dabei haben. Wenn uns jemand gesagt hätte: Wir würden gern ein Seminar machen zum Thema Homosexualität, dann hätten wir das glaube ich nicht unterbunden, aber es kam kein Vorschlag. Und wenn ich die Zahl richtig im Kopf habe, gab es 2008 vier Anmeldungen für das Seminar. Ich glaube von daher, dass es innerkirchlich sehr wohl ein Thema ist, aber in der jungen Generation gar nicht so sehr.

Spielen Beziehung und Sexualität in den Seminaren des Christivals insgesamt eine Rolle? Wenn man mehr als 10.000 Teenager in eine Stadt bringt, werden sie sich unweigerlich mit dem Thema Sexualität und Beziehung beschäftigen.

Hüttmann: Es gibt durchaus einige Seminare zu Beziehung und Sexualität. Ein Themenbereich ist die ganze Frage nach Internetpornografie. Es gibt einen sehr hohen Prozentsatz an jungen Menschen, die damit ringen. Wir haben viel mit jungen Menschen zu tun, die mit Formen von Sucht zu kämpfen haben, wenn es um Internet-Pornografie geht. Da geht es nicht um die Frage: Wie viel ist erlaubt, darf ich mir Pornos anschauen oder nicht? Sondern die Lebensrealität ist: Ich komm nicht mehr los von den Seiten, bis dahin, dass die Jugendlichen merken, dass sich verändert, wie sie Frauen oder umgekehrt Männer sehen. Da gibt es hohen Gesprächsbedarf und hohen Betreuungsbedarf.

Darf ich als homosexuelle*r Christ*in auch kommen und meine Freund*in mitbringen?

Hüttmann: Ja klar. Nicht umsonst haben wir auch darum gebeten, dass die Freunde und Geschwister von "Zwischenraum" mit dabei sind. Es gibt Menschen, die homosexuell empfinden, teilweise auch in homosexuellen Partnerschaften leben, die im Bereich der Mitarbeiter aktiv sind. Da hat sich vielleicht auch ein bisschen was verändert im Verlauf der letzten acht Jahre - wobei es das 2008 auch schon gab. Damals hat man das vielleicht noch nicht so wahrgenommen.

Was ist damit gemeint, wenn im Pressematerial zum Christival die Rede ist von "Werten" und "verbindlichem Lebensstil"?

Hüttmann: Da komme ich auf unser Thema zurück, "Jesus versöhnt". Wir wollen der Frage nachgehen: Wie sehen wir andere Menschen? Wie gehen wir mit Menschen um? Das sind für uns Werte. Wir wollen uns daran orientieren, wie Gott mit Menschen umgeht. Wenn Gott Menschen mit Liebe begegnet, dann finden wir, sollten wir eben auch Menschen mit Liebe begegnen. Wir haben am Abschlusstag den Aufruf, Botschafter der Versöhnung zu sein, Menschen der Versöhnung zu sein, damit ich vielleicht dazu beitragen kann, im Umgang miteinander zu deeskalieren. Um mal ein Beispiel zu nennen: Ich war vor einiger Zeit in Dresden. Dort gibt es innerhalb von Gemeinden Spannungen über die Frage, wie wir mit geflüchteten Menschen umgehen. Teilweise so sehr, dass die nicht mehr miteinander reden! Und das innerhalb einer Kirchengemeinde! Da müssen wir dran arbeiten.

"Ich glaube, die Frage um sexualethische Themen wird an Hitze, die sie derzeit hat, verlieren"

Können Jugendliche in ihrem Alltagsleben heute mit dem Begriff "Versöhnung" etwas anfangen?

Hüttmann: Ich glaube, emotional ja. Versöhnung ist natürlich ein philosophisch-theologischer Begriff, der etwas sperrig ist. Das war für uns ein Diskussionsprozess: Nehmen wir so einen Begriff, der nicht unbedingt Alltagssprache ist und doch aber im Alltag präsent ist? Aber egal, mit wem ich gesprochen habe: Es kommt dieses Bild hoch, dass zwei Menschen sich umarmen und die Sache wieder gut ist. Nur was die Tiefe dieses Bildes angeht, da fehlt es. Und deshalb finden wir es wichtig und wertvoll, an diese Fragestellungen heranzugehen: Was verbirgt sich eigentlich dahinter, was muss eigentlich dazukommen, dass Menschen wieder zueinander finden, dass Menschen wieder versöhnt miteinander umgehen können? Was haben Wahrheit und Gerechtigkeit und Liebe miteinander zu tun?

Sie haben gesagt, Versöhnung als Umarmung zweier Menschen ist ein Bild, das bei ganz vielen Menschen direkt so entsteht. Braucht es das auch in der Evangelischen Allianz?

Hüttmann: Aus Sicht eines Mitgliedes im Hauptvorstand der Evangelischen Allianz sage ich mal nein, weil ich den Graben noch nicht so tief und das Tuch noch nicht zerschnitten sehe. Wir haben im Hauptvorstand eine lebendige, gute Diskussion. Ich gehe mit Ulrich Parzany und Michael Diener in eine Gemeinde, und wir feiern dort zusammen das Abendmahl. Ich sehe kein großes Lagerdenken nach dem Motto: Wir sind die Guten, ihr seid die Bösen. Es ist ein leidenschaftliches Ringen miteinander darum, wie wir die Bibel verstehen. Ich glaube, würde man andere Fragen jenseits sexualethischer Fragen in den Blick nehmen, zum Beispiel die Frage nach dem Abendmahl und Leute dazu auffordern: Jetzt sag uns mal genau, was ist deine Meinung zum Abendmahl? Dann würden wir sehr schnell merken, was es auch dort für theologische Spannungen gibt. Ich erlebe eine gute Gesprächskultur innerhalb der Evangelischen Allianz, zumindest im Hauptvorstand. Deshalb glaube ich: Ja, es braucht immer eine Umarmung, damit wir einander vergewissern: Wir sind miteinander unterwegs. Aber das braucht es nicht deshalb, weil irgendwo das Tuch zerschnitten wäre.

Warum gibt es denn gerade bei sexualethischen Fragen ein solch hartes Ringen und nicht bei den anderen auch spannenden theologischen Fragen?

Hüttmann: Ich glaube, weil wir uns an den theologischen Fragen zum einen schon ein bisschen abgearbeitet haben und gelernt haben, einander stehen zu lassen. Ich glaube, genau dasselbe wird auch mit sexualethischen Fragen passieren. Ich bin mit Anfang 20 erst zum Glauben gekommen. In meinem Theologiestudium war dann eine ganz große Frage der Umgang mit geschiedenen Wiederverheirateten. Ich erlebe das heute als kein großes Thema mehr. Das ist einfach Gemeindealltag geworden. Ich glaube, so wird auch die Frage um sexualethische Themen an Hitze, die sie derzeit hat, verlieren. Es wird abkühlen, davon gehe ich fest aus. In einem positiven Sinne.

Zum Abschluss noch: Warum sollte man zum Christival fahren?

Hüttmann: Etwas, was ich wirklich einmalig finde beim Christival, ist das Zusammenwirken von so vielen verschiedenen Kirchen, Freikirchen, Werken und Verbänden. Dass sie zusammenkommen und etwas zusammen machen, ist für mich ein ganz besonderer Schatz. Ohne zu schwarz malen zu wollen: Ich sehe auf verschiedenen Ebenen - in den Familien, in den Gemeinden, in der Gesellschaft - ganz viele Spannungsfelder, und die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, hat sich für mich eher negativ entwickelt als positiv. Da als Christen zusammenzukommen und neu zu fragen: Wie wollen wir eigentlich miteinander umgehen? Das ist gesellschaftlich gerade so, so wichtig.