Jonas Lutz hat gerade den Online-Messengerdienst Discord betreten und bleibt an einem Post hängen: "Mir geht es total schlecht. Ich fühle mich einsam und habe niemanden, dem ich mich anvertrauen kann", steht da. Der Digital Streetworker antwortet dem Absender des Postings: "Hey, habe gelesen, dass dich das Thema Einsamkeit belastet und dass es dir nicht gutgeht. Wenn du möchtest, kannst du mir eine Nachricht schreiben und wir können darüber sprechen."
Mit solchen oder ähnlichen Gesprächsangeboten wenden sich die Sozialarbeiter des Digital Streetwork online an junge Menschen auf den Social-Media-Plattformen oder den Gruppenforen der Online-Community. Sie lesen und chatten mit und reagieren, wenn jemand einen Hilferuf absetzt oder Unterstützung nachfragt. Beim klassischen Streetwork würden sie junge Menschen auf der Straße ansprechen. "Diesen aufsuchenden Ansatz von mobiler Jugendarbeit übertragen wir auf die Online-Lebenswelten junger Menschen", erläutert Lutz, Leiter von Digital Streetwork Bayern.
Das Modellprojekt hat im Herbst 2021 seine Arbeit im Auftrag des bayerischen Sozialministeriums aufgenommen. Insgesamt 14 Streetworker gehören zu seinem Team. In den vergangenen Monaten haben sie mehr als 5.600 Kontakte mit jungen Menschen gehabt - und damit schon mehr als im gesamten Jahr 2024. Rund 1.700 Kontakte hätten dabei in Beratungsgespräche gemündet, sagt der Projektleiter. So wie bei "Momo", das ist ein Nickname, damit der Jugendliche anonym bleibt.
Der Streetworker und er haben inzwischen auf einen geschützten Kommunikationskanal gewechselt. Lutz erfährt, dass der junge Mann sehr viel Zeit online verbringt und auch in der Gaming-Community aktiv ist. Er nutzt offensichtlich die Online-Räume, um sich immer weiter zurückzuziehen. Damit verbunden sind soziale Ängste, die Schwierigkeit, Kontakte zu fassen und Leute kennenzulernen, sagt Lutz. Doch der Wunsch, in der Offline-Welt wieder Freundschaften oder eine Beziehung zu finden, sei geblieben.
Ressourcen aktivieren und Mut machen
Lutz, studierter Sozialpädagoge und ausgebildeter Medienmanager, versucht, die Ressourcen des jungen Mannes zu aktivieren und ihm Mut zu machen, damit er sich in kleinen Schritten seinem Ziel annähern kann. Kein leichter Prozess. In diesem Fall kommt Lutz zu Hilfe, dass der junge Mann zwar große Berührungsängste hat, aber in einen neuen Sozialraum wechselt, weil er zum Studium in eine andere Stadt zieht.
Dem Digital Streetworker gelingt es, eine frühere Sportbegeisterung des jungen Mannes wieder zu wecken, so dass er bei einem Fußballverein anruft und ein Probetraining vereinbart. "Es ist ein riesiger Fortschritt, wenn man jemanden von großen Sozialängsten bis zur Kontaktaufnahme mit einem Verein bringt." Nicht alle seine Ängste hätten sich dadurch aufgelöst, aber er sei nun "in einem Kontext, der ihm guttäte und der ihm Spaß macht", sagt Lutz.
Hilfe zur Selbsthilfe
Manchmal dauert es Wochen und Monate, eine Vertrauensbeziehung zu einem Klienten aufzubauen, sodass dieser die Hilfe zur Selbsthilfe annimmt. Die Streetworker verstehen sich dabei als "Türöffner mit Lotsenfunktion", sagt Lutz. Das Ziel der Beratung soll dabei von den Jugendlichen selbst kommen. "Wir erarbeiten gemeinsam einen Plan und eine Perspektive." Wissenschaftlich begleitet wird das Digital-Streetwork-Projekt vom JFF-Institut für Medienpädagogik, das die Arbeitsansätze der professionellen Berater auch wissenschaftlich evaluiert.
Vor allem Themen wie psychische Gesundheit, depressive Verstimmungen, Probleme bei der Alltagsbewältigung, Herausforderungen in Schule, Ausbildung und Studium belasten die Jugendlichen. Momentan befinden sich junge Menschen in einer "Dauerkrisensituation", in der vor allen Dingen die Zukunft sehr ungewiss sei, sagt Lutz. "Das führt zu großem Stress." Das stellt auch Josef Stautner von der Telefonseelsorge fest, der seit zehn Jahren im Amt ist.
Inmitten von Kontakten - und doch einsam
"Einsamkeit ist das große Problem bei jungen Leuten: Inmitten von Kontakten haben sie das Gefühl innerlich abgeschnitten zu sein", sagt der Leiter der Telefonseelsorge Ostbayern. Das andere große Problem seien Selbstwertzweifel und Ängste. Ihre Kommunikationskanäle mit der Telefonseelsorge suchten sich die Jugendlichen selbst aus. "Sie mailen oder chatten lieber. Viele Themen, die nicht mehr den Weg über die Lippen finden, weil sie so schambesetzt sind, finden ihren Weg über die Tastatur", sagt der Theologe.
Die Aufgabe der Mitarbeitenden in der Mail- und Chatseelsorge sei es dann, die Jugendlichen - so gut es eben geht - zu unterstützen, so dass sie sich mit ihren schwierigen Themen an Eltern, Lehrkräfte, Beratungslehrer oder die Jugendhilfesysteme wenden. "Wir können nur ein erster Anlaufpunkt sein, um Leute zu stabilisieren, zu ermutigen oder um die Zeit bis zur nächsten Therapiestunde zu überbrücken."
Doch die Wenigsten bekommen überhaupt einen Therapieplatz. Die Nachfrage übersteige die Kapazitäten bei weitem. Auch in den Kinder- und Jugendpsychiatrien sehe es nicht besser aus, "die sind absolut am Limit", weiß Stautner. Und so bleiben die Chat- und Mail-Seelsorge oder der bayerische Krisendienst, der auch rund um die Uhr im Einsatz ist, so etwas wie ein "Notanker, ohne den alles noch viel schlimmer wäre".