Evangelischer Heiligenschein: Das Geheimnis der Petrikirche

Foto: Evangelische Gemeinde Habinghorst
Evangelischer Heiligenschein: Das Geheimnis der Petrikirche
Eine evangelische Kirche mit Tabernakel und Reliquienaltar? Das gibt es tatsächlich. In Castrop-Rauxel steht eine evangelische Kirche voller katholischer Elemente. Die Petrikirche verdankt ihr ungewöhnliches Inneres einem außergewöhnlichen Pfarrer – und steht damit sinnbildlich für protestantische Glaubensfreiheit. Ausgerechnet.

Diese Kirche kann nicht evangelisch sein. Das Wandbild über dem Altar: überall Heiligenscheine. Hinter dem Altar: ein Tabernakel, in der katholischen Kirche das Gefäß für geweihte Hostien. Und überhaupt, ist der Altarraum nicht ungewöhnlich hoch, steht der Pfarrer dort nicht viel zu weit von der Gemeinde? Und doch: Die Petrikirche in Castrop-Rauxel ist evangelisch. "Gleich vorneweg: Diese Kirche war nie katholisch und wurde auch nie gleichzeitig von evangelischen und katholischen Christen genutzt", erklärt Sven Teschner, der Pfarrer der unierten Gemeinde.

Das katholisch anmutende Innere wurde der Petrikirche nach dem Zweiten Weltkrieg verpasst. 1911 erbaut, hieß das Gotteshaus zunächst schlicht "Evangelische Kirche Habinghorst". Die Innengestaltung folgte einem Musterbeispiel des protestantischen Kirchenbaus: Die Kanzel ragte über den Altar, die Orgel stand direkt dahinter. Hinter diesem "Wiesbadener Programm" steht die reformatorische Überzeugung, dass die Auslegung der Bibel in der Predigt, das Geschehen am Altar und der Gesang im Gottesdienst gleichwertig sind. Der Kirchenraum steht gleichnishaft für die einzelnen Elemente im protestantischen Gottesdienst.

Doch der Kanzelaltar von Castrop-Rauxel überlebte nur 34 Jahre. Am 3. Januar 1945 traf eine Sprengbombe das Gotteshaus. "Im Inneren ist nichts heil geblieben", erzählt die ehrenamtliche Kirchenführerin Petra Schieferstein-Kosthöfer, die sich mit der Geschichte des Gotteshauses befasst hat.

Schon 1946 wurde mit dem Wiederaufbau begonnen, ein Jahr später bekam die Gemeinde einen neuen Pfarrer: Alfred Rohlfing. "Herr Rohlfing war ein richtiger Pfarrherr", sagt Sven Teschner. "Er hatte das Sagen und die Gemeinde hat ihn gestützt." Die Gemeinde unterstützte auch seine Pläne, das neue Gotteshaus im Inneren nach seinen Vorstellungen auszugestalten. Denn Rohlfing hat, obwohl er nie katholisch war, ein Faible für den Katholizismus. So bekam die Kirche auch einen Namenspatron: Petrikirche sollte sie heißen – oder auch Sankt Petri, wie noch heute manche älteren Gemeindeglieder die Kirche nennen. Dabei verzichtet die evangelische Kirche doch eigentlich auf den Namenszusatz für Heilige.

Erst der Gottesdienst heiligt den Raum

In Zeiten allgemeiner Not und knapper Kassen gelang es Rohlfing, Geld und Menschen für den schnellen Wiederaufbau der Kirche zu mobilisieren. "Rohlfing war ein Meister in dem, was wir heute Fundraising nennen", sagt Petra Schieferstein-Kosthöfer. Während andernorts Notkirchen errichtet wurden, stand Rohlfings prächtige Petrikirche schon 1949. Das gelang vor allem durch Spenden. "Damit stand die Gemeinde gut da – das war etwas, worauf die Menschen stolz sein konnten", betont Pfarrer Sven Teschner.

Luther wünschte sich einen bescheidenen Raum als Versammlungsort für die Gemeinde. "Bei der religiösen Symbolik des Zieraths sind Nachahmungen der nur für katholische Kirchen geeigneten Formen zu vermeiden", erklärte die deutsche Kirchen-Konferenz 1898. "Vor der hier drohenden Gefahr der Geschmacksverirrung sind Bauherrn und Baumeister zu warnen." War diese Warnung in Castrop-Rauxel bekannt, so schlug die Gemeinde sie in den Wind. Rohlfing packte beim Wiederaufbau selbst tatkräftig mit an, der Altar wurde nach seinen Plänen aus massivem Serpentinit gebaut – und nach seinen theologischen Überzeugungen.

Denn im Altar ist ein Reliquiengrab versteckt. "Knochen haben wir darin keine gefunden, aber dafür eine Bibel, die Rechnung für den Altar und einen Ablaufplan des Weihegottesdienstes", sagt Teschner. Weihegottesdienst? Auch das ist nicht gerade protestantisch. Nach evangelischer Überzeugung ist nicht der Kirchenraum selbst heilig, sondern das, was darin geschieht. Erst der Gottesdienst heiligt den Raum. "Weder der Kanzel noch dem Altar, noch irgendeinem anderen Ort im protestantischen Gotteshaus kommt ein Heiligkeitscharakter zu. Der Altar ist der Tisch des Herrn, die Kanzel der Ort der Verkündigung", heißt es in den 1908 in Eisenach beschlossenen Kirchenbau-Leitsätzen der Evangelischen Kirchen-Konferenz. Auf Rohlfings Altar dagegen findet sich in jeder Ecke ein eingraviertes Weihekreuz. Nach reformatorischer Auffassung steht der Pfarrer am Altar nicht wesentlich höher als die Gemeinde. Alle Gläubigen sind Priester.

Was fehlt, sind Weihwasserbecken

Rohlfings Pläne für den Altarraum wurden vom westfälischen Landeskirchenamt nicht abgenommen. Der Pfarrer setzte sich darüber hinweg und baute den Altarraum höher als die Vorgaben es wollten. "Auch wenn diese Kirche nicht gerade protestantisch wirkt, zeigt sie  gerade deshalb die gesamte Bandbreite protestantischer Theologie", erklärt Petra Schieferstein-Kosthöfer. "Die baulichen Richtlinien der Landeskirchen waren und sind eben immer nur Empfehlungen,  keine Gesetze."

So hält auch das das Rummelsberger Programm, eine Sammlung EKD-weiter Leitlinien für den Kirchenbau von 1951, über die eigenen Grundsätze fest: "Sie sind als Hilfe gedacht, nicht als Gesetz." In diesen Hilfen heißt es: "Kanzel und Altar sind im lutherischen Gottesdienst einander gleichwertig zugeordnet. Dabei muß sowohl dem Altar als auch der Kanzel durch angemessene Gestaltung ein solches Gewicht gegeben werden, daß sie als die eigentlichen Brennpunkte des Raumes in Erscheinung treten."

In der Petrikirche hingegen steht eindeutig der Altar im Zentrum. So zeigt ausgerechnet diese Kirche die Freiheit protestantischer Glaubensauslegung. Und weil Rohlfing einen Großteil der Kirche durch Spenden statt mit Geldern seiner Landeskirche baute, hatte er bei der Ausgestaltung größere Freiheiten. "In der Nachkriegszeit hatte das Landeskirchenamt zudem andere Sorgen", ergänzt Pfarrer Sven Teschner.

Deshalb und weil das Presbyterium hinter ihm stand, konnte Rohlfing in Castrop-Rauxel schalten und walten. Auch ein Tabernakel ließ er einbauen. In katholischen Kirchen werden in dieser "Hütte" die zum Leib Christi gewandelten Hostien aufbewahrt. Am Stehpult findet sich das Dreihasenbild. Das springende Hasen-Trio ist ein katholisches Symbol für die Dreifaltigkeit. Und die gegenüber dem Altar nicht erhöhte Kanzel ist mit Bildern der Evangelisten ausgeschmückt: Sankt Johannes, Sankt Lukas, Sankt Markus, Sankt Matthäus.

Im Seitenschiff steht ein weiterer Altar, auch das ist unüblich für nach der Reformation erbaute evangelische Kirchen. Statt Fußstützen wurden Kniebänke eingebaut. Pfarrer Rohlfing nahm während der Gottesdienste nicht bei der Gemeinde, sondern im Altarraum auf einer eigenen Bank Platz. Zog er in die Kirche ein, läutete der Küster eine kleine Glocke über der Empore. "Eines der wenigen Dinge, die gegenüber einer katholischen Kirche noch fehlen, sind Weihwasserbecken", sagt Petra Schieferstein-Kosthöfer.

Pfarrer Alfred Rohlfing ließ sich auf dem Altarbild selbst verewigen als Lieblingsjünger Johannes
Rohlfing ließ die Kirche bis zu seiner Pensionierung 1970 weiter ausbauen. In den Fünfzigerjahren entstand das Altarbild mit Heiligendarstellungen. Als Sven Teschner vor zehn Jahren Pfarrer der Gemeinde wurde, räumte er behutsam auf, entfernte zum Beispiel einige prachtvolle Leuchter aus dem Altarraum. "Das Tabernakel nutzen wir weiterhin – als Aufbewahrungsschrank für die Abendmahlskelche", sagt Teschner. Liturgisch ist der Raum eine Herausforderung für einen evangelischen Gottesdienst.

Wie geht die Gemeinde mit ihrem ungewöhnlichen Gotteshaus um? "Wir haben uns daran gewöhnt", sagt Pfarrer Teschner. Trotzdem seien die Besonderheiten der Kirche Thema, zum Beispiel im Konfirmandenunterricht. "Katholische Christen fühlen sich hier sofort zuhause", sagt Petra Schieferstein-Kosthöfer. Die Kirchenführerin sieht ihr protestantisches Profil durch diese Kirche geschärft. Sie hat ihre Prüfungsführung hier abgelegt. "Ich habe in dieser Kirche sehr viel über das Evangelisch sein gelernt", sagt sie. Ihr Fazit: "Evangelisch sein, das heißt: Zurückgeworfen sein auf die Bibel. Der Pfarrer ist zwar ein Wissender, der viele Kompetenzen hat, aber er ist eben nicht derjenige, der mir sagt, was ich glauben muss."

Die Petrikirche hat ihr heutiges Gesicht durch einen ungewöhnlichen Pfarrer bekommen, der zur richtigen Zeit in der richtigen Gemeinde wirkte. Und damit die Gemeinde ihn nicht vergisst, hat sich Alfred Rohlfing in der Kirche abbilden lassen: Auf dem Wandbild hinter dem Altar. Als Jesu Lieblingsjünger Johannes. Mit dem hellsten Heiligenschein der Kirche. Pfarrer Sven Teschner scherzhaft: "Ich überlege noch, wo ich mich verewigen lassen soll."