Der Januar: Licht, Irrlichter und Dunkelräume

Nach dem Missbrauchsgutachten für das Erzbistum München und Freising
Der Januar: Licht, Irrlichter und Dunkelräume
Noch ein Brief ans Neues Jahr, ans Fast-Noch-Neue-Jahr, um genau zu sein. Über Wunder, Wunden und Wut, über Fassungslosigkeit und viele Fragen.

Liebes Fast-Noch-Neues Jahr,

wie gut bist du gestartet, so voller Wunder. Mit Gotteslob und Draußensein, mit Freude, Zuversicht und - einer Sternschnuppe. Ja, du hörst richtig. Ich konnte es nicht glauben, als ich sie sah, ganz hell und lang zog sie ihre sonst so kurze Bahn am dunklen Himmelszelt, als wäre sie der Stern von Bethlehem, der zu mir ruft: Komm, es ist auch dir ein Kind geboren! Komm her und schau es an, staune und freue dich. Ich ging und sah es, sah es an mit einem Blick, den es erwiderte. Als schmunzle Jesus. Als lächle er mich an, als er da lag in seiner Krippe, auf einem handgestickten Tuch, umrahmt von schönen Kerzen, inmitten eines festlichen Adventskranzes mit goldenen, silbernen und roten Kugeln. Ich weiß nicht, wie oft ich inzwischen dort war, an der Krippe, in der kleinen Dorfkirche meiner Heimat.

Erfüllt schien, was ich mir von dir gewünscht hatte für den Januar, liebes Jahr 2022, anhand des Anfangsbuchstabens "J": ein Ja zum Jahreswechsel, ein Ja zu allem Neuen, das jetzt kommt. Dazu Jesaja, der verheißt: Ich bin der HERR, dein Gott, der deine rechte Hand fasst und zu dir spricht: Fürchte dich nicht, ich helfe dir! (Jes 41,13) Da sagte ich natürlich Ja zum Jahreswechsel. Und war erfüllt vom Ja zu allem Neuen, das dieses Jahr mir bringen würde.

Bis München kam. Mit seinen Nachrichten. Vom Missbrauchsgutachten für das Erzbistum, dem ich erst seit zwei Jahren angehöre.

Entsetzen. Abscheu. Scham. Trauer. Wut. Fassungslosigkeit. - Und Fragen.

Fragen über Fragen an die Kirche. Wie ist es möglich, dass sie das Gutachten "historisch" liest? Wenn etwa Kardinal Marx erst betont, "dass sexueller Missbrauch in der Kirche nicht ernst genommen wurde, dass es ein Wegsehen von Verantwortlichen gegeben hat", und es dann nicht für nötig hält, zur Vorstellung des Gutachtens zu erscheinen. Um "dem Gutachten den gebührenden Raum" zu geben, wie er eine Woche später meint? Und was ist mit dem Respekt vor den Opfern? Er betont doch selbst, dass die für ihn "größte Schuld darin besteht, die Betroffenen übersehen zu haben". Er sagt sogar, "das ist unverzeihlich".

Oder wenn Kardinal Wetter sagt: "Vor 2010 war nicht bekannt, welcher Schaden durch den Missbrauch den Opfern zugeführt wurde." Darum sei es "nicht rechtens, die Maßstäbe vor 2010 zur Beurteilung des Verhaltens von 2010 heranzuziehen. Denn was vor 2010 geschah, geschah in verbreiteter Unkenntnis." Soll das heißen, dass erst mit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals 2010 der Missbrauch zum Missbrauch wurde? Und vorher keiner war? Soll der Satz, "Unwissenheit schützt vor Strafe nicht", für alle gelten, nur nicht für die Kirche? Anders gefragt: Hätte nicht der Schutz der Schwächsten immer schon an erster Stelle stehen müssen, gerade in der Kirche?

Und schließlich: Wie ist es möglich, dass sich die Kirche immer noch hinter juristischen Spitzfindigkeiten versteckt, wie es Ratzinger tut, Stichworte "cum" (sexuelle Handlungen mit anderen) und "ante" (vor)? Und damit durchkommt?

Katholische Irrlichter? Katholische Dunkelräume.

Fragen aber auch an mich. Ob ich das aushalte. Und wie lange noch. Und ob ich wieder austreten soll, weil ich doch ein System (unter)stütze, das die Verbrechen und deren Vertuschung erst ermöglicht. Und weil meine Mitgliedschaft (Mit)Schuld bedeutet an mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern.

Meine Antwort lautet Nein. Denn nichts würde sich ändern. Nichts wäre gut. Mein Gewissen nicht wieder rein. Und meine Heimat dahin.

Stattdessen überließe ich den Uneinsichtigen das Feld. Jenen, denen der frühere Generalvikar des Erzbistums, Peter Beer, Uneinsichtigkeit attestiert: "Aus der Gewöhnung daran, über andere zu urteilen, ohne je selber beurteilt zu werden. Aus der Angst, das eigene Lebenswerk werde zerstört. Aus dem Wahn, von Kirchenfeinden umzingelt zu sein. Aus gegenseitiger Erpressbarkeit und zugleich der Illusion, unangreifbar zu sein." (Die Zeit, 27.01.2022)

Und ließe die anderen fallen. Nicht zuletzt all jene jungen Priester, die sich schon lange einsetzen - für Veränderungen, gegen Verkrustungen - und damit persönlich viel riskieren. Priester, die ich kenne und mag. Denen ich glaube und vertraue. Priester, denen ich nicht sagen kann und auch nicht sagen will: Sieh zu, wie du zurechtkommst, mich geht das alles nichts mehr an. Das ist nicht mein Weg. Ich bleibe - auch in der wohl naiven Hoffnung, dass es ihnen hilft, dabei zu bleiben. Und Kraft zu finden, die Kirche zu verändern. Schnell. Radikal.  Und demütig. Demut ist keine Unterwerfung. Die Demut gilt den Opfern.

Liebes Neues Jahr, so habe ich mir den Januar nicht vorgestellt. Zu diesem Neuen kann ich nicht Ja sagen. Ich weiß, es ist nicht deine Schuld. Verzweifelt bin ich trotzdem. Doch aufgeben kommt nicht in Frage. Nicht jetzt. Und hoffentlich auch später nicht.

Zwei Tage noch liegt Jesus in der Krippe der Dorfkirche. Und weißt du was? Ich glaub, ich fahr noch einmal hin vor Mariä Lichtmess. Um ihn zu sehen. Um ihn noch einmal sagen zu hören: Ich bin der HERR, dein Gott, der deine rechte Hand fasst und zu dir spricht: Fürchte dich nicht, ich helfe dir!

Deine Beatrice

P.S.: Vergiss nicht, was ich mir noch gewünscht habe für dieses Jahr. Einen Monat mit dem Anfangsbuchstaben „L“. Für Luft und Leichtigkeit. Fürs Leben. - Lass mich die Liebe noch ergänzen. Denn sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. (1. Kor 13,6)
 

 

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