Von neuen Krankheiten und altmodischen Begriffen

Kolorierte Transmissionselektronenmikroskopie von Partikeln des Affenpockenvirus (grün)
NIAID/CC BY 2.0 /creativecommons.org/licenses Wikimedia Commons
Affenpocken
Affenpocken
Von neuen Krankheiten und altmodischen Begriffen
Seit Mai breiten sich Affenpocken in Europa und Nordamerika aus. Geweckt wurden alte Ängste, aber auch alte Mythen. Und wie steht es um alte Tugenden und Haltungen?

Beginnen wir mit der hoffnungsfroh stimmenden Meldung, auch wenn sie noch keine Entwarnung bedeutet: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht Anzeichen, dass der Ausbruch von "Affenpocken" in Europa und auch in den USA gestoppt werden kann. In vielen Ländern gehen die Fallzahlen zurück. Auch in Deutschland meldet das Robert Koch Institut (RKI) "leicht rückläufige" Zahlen. Konkret sind - Stand 31.8.22 - 3.467 Fälle einer Infektion mit dem Pocken-Virus seit Ausbruch im Mai gemeldet. Hotspot ist Berlin mit etwa der Hälfte der gemeldeten Fälle. Am stärksten betroffen sind bislang schwule und bisexuelle Männer, neutraler formuliert: Männer, die Sex mit Männern haben.

Zu Beginn tauchte deswegen schnell das Gespenst "Schwulenkrankheit" auf und rief Erinnerungen an den Beginn der HIV/Aids-Pandemie wach. Eine (erneute) Stigmatisierung wurde befürchtet. Doch "Affenpocken" haben nichts mit dem HI-Virus (Aids) – und übrigens auch nichts mit dem Corona-Virus - zu tun; es ist auch keine sexuell übertragbare Krankheit, denn die Übertragung kann allgemein bei engem Körperkontakt, was nun mal auch beim Sex meist der Fall ist, geschehen.

Womit aber beides – "Affenpocken" wie HIV – etwas zu tun hat, das ist Verantwortung. Für sich und für die anderen. Vor allem Letzteres wird von Leuten, die sich in der Prävention engagieren, nicht so gerne erwähnt. Schon "Verantwortung" klingt verdächtig nach Moral, "für andere" lässt die Befürchtung aufkommen, der/die Einzelne könne die Eigenverantwortung abschieben und sich darauf verlassen, dass der/die andere die nötige Vorsicht walten lässt. Aus dem "für andere" wird dann leicht ein "von anderen". Zudem ist es schwer, das Verhalten anderer zu kontrollieren. Man konzentriert sich besser auf das, was man selbst tun kann, um sich zu schützen.

Zu oft und zu oft in christlichen Kreisen wird Verantwortung zudem mit der Schuld/Sünde-Frage verknüpft. Die ist selten hilfreich, denn mit dieser Art von "Moral" lässt sich kein Virus bekämpfen, schon weil umgekehrt auch das Virus keine Moral kennt. Und angesichts einer aktuellen Gefährdung sollte man eigentlich besser helfen statt anzuklagen. Verantwortung umfasst eben viel mehr als eine justiziable Dimension.

Verantwortung heißt auch, für andere da zu sein, sich nicht abzuwenden, sondern – wo möglich – zu helfen, füreinander da sein, füreinander einzustehen. (Was im Übrigen auch die Frage umfasst, wie es mit der Verantwortung für die ausreichende Versorgung mit Impfstoff in jenen Ländern Afrikas bestellt ist, in denen "Affenpocken" schon seit Langem endemisch sind. Ein Artikel der „Zeit“ umreißt das Problem in Kürze.)

Zur Verantwortung für sich selbst und für andere kann es außerdem, ganz einfach und ganz grundsätzlich, gehören, sich zu informieren. Als einen Grund für die Verlangsamung bei der Ausbreitung der „Affenpocken“ nennt Catherine Smallwood, Leiterin der Abteilung Affenpocken des WHO-Regionalbüros für Europa, „dass die Menschen – vor allem Männer, die Sex mit Männern hätten und zu bestimmten Risikogruppen gehörten – gut über die Krankheit informiert seien“. (Zitiert nach „Spiegel“)

Sich zu informieren kann helfen, unnötige Ängste zu vermeiden, Symptome frühzeitig zu erkennen und zu wissen, an wen man sich wenden kann. Informiert zu sein kann aber auch helfen, Situationen, in denen sich Infektionen ereignen könnten, besser einzuschätzen und entsprechend darauf zu reagieren, gegebenenfalls zu vermeiden. Diese Art von Selbstfürsorge hilft auch anderen.

Für September sind weitere Lieferungen von dem bislang zu knappen Impfstoff angekündigt. Wenn wir Glück haben, kommen wir, was „Affenpocken“ angeht, mit einem – wenn auch für viele schmerzhaften – „Schrecken“ davon. Was uns aber weiter beschäftigen sollte, sind Fragen, wie es um die Gesundheits-Infrastruktur der Community bestellt ist, wie auf lange Sicht das Wissen und die Kompetenz der Aidshilfen, das sich auch im Falle der „Affenpocken“ gezeigt hat, bewahrt und für Prävention und Vorsorge jenseits von HIV/Aids genutzt werden kann. Und nicht zuletzt die Frage, wie wir in der Community miteinander umgehen, wie wir Verantwortung übernehmen – für uns selbst und für andere. Auch wenn das schrecklich moralisch klingt und sehr altmodisch erscheinen mag.

Hinweis: Informationen zu "Affenpocken" (Übertragung, Behandlung, Impfung) finden sich auf der Internetseite der Deutschen Aidshilfe.

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