"Es ist nicht nur ein medizinisches Thema. Es geht um Menschen."

"Es ist nicht nur ein medizinisches Thema. Es geht um Menschen."
Bild: Reinhard Winkler
Die Mitglieder und Gründer des Vereins VIMÖ schneiden die Geburtstagstorte an. Vlnr: Tobias Humer, Tinou Ponzer, Luan Pertl, Noah Rieser, Alex Jürgen*
Intergeschlechtliche Menschen haben im Kampf um ihre Rechte viel erreicht in den letzten Jahren. Trotzdem ist noch viel zu tun. Katharina Payk hat mit Inter-Aktivist*in Luan Pertl über Erfolge, Scheinlösungen und weitere Herausforderungen gesprochen.

Mehr und mehr sind intergeschlechtliche Menschen und der Kampf um ihre Rechte medial präsent. In den letzten Jahren haben Inter-Aktivist*innen sowohl in Deutschland als auch in Österreich Meilensteine in der Durchsetzung von Gesetzen erreicht: Vanja ging in Deutschland und Alex Jürgen* in Österreich für den dritten offiziellen Geschlechtseintrag vor das Verfassungsgericht. Beide Klagen waren erfolgreich: Seit diesem Jahr kann in Deutschland und Österreich als Geschlecht „divers“ im Personenstand und in Urkunden eingetragen werden.

Happy Birthday VIMÖ

Österreich hat eine stark präsente und gut vernetzte Inter-Community. Der Verein VIMÖ (Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich) feiert in diesem Monat sein fünfjähriges Bestehen, dazu lud er vergangenen Samstag zu einem fulminanten Fest nach Linz. Die dazugehörige Plattform Intersex Österreich (PIÖ), bei der neben den Vereinsmitgliedern auch weitere Aktivist*innen aus verschiedenen Tätigkeitsfeldern wie etwa Wissenschaft, Pädagogik  und Recht engagiert sind, existiert sogar bereits seit 2013 und feierte mit.

Auch ich war am Samstag dabei und sprach für evangelisch.de mit Luan Pertl, Mitglied bei VIMÖ seit 2016, über den Kampf um die Rechte intergeschlechtlicher Menschen – was bisher erreicht wurde und was es noch braucht.

Aktivismus und Anstrengung

VIMÖ wurde von Tobias Humer und Alex Jürgen* 2014 gegründet mit dem Ziel, die Lebensbedingungen von intergeschlechtlichen Menschen zu verbessern. Neben der Selbsthilfearbeit stehen Aufklärung, Information und Schulungen im Vordergrund.

Es sind intergeschlechtliche Menschen selbst und einige Allies („Verbündete“), die unter Berufung auf die Menschenrechte ein Ende der Gewalt an intergeschlechtlichen Menschen erkämpfen und Antidiskriminierungsarbeit leisten.

Dabei sind sie immer wieder mit ihren Geschichten in der Öffentlichkeit. Die Mitglieder von VIMÖ etwa geben Interviews, schreiben Artikel, klären die Allgemeinbevölkerung, aber auch Menschen im medizinischen oder pädagogischen Bereich auf. Dabei stehen sie mit ihrer eigenen Lebensgeschichte – und damit auch mit all dem erlebten Schmerz – im Fokus. Das habe immer auch triggerndes Potenzial und sei ein großer Kraftaufwand, erzählt Tobias Humer, Obmensch von VIMÖ, in seiner Begrüßungsrede beim Geburtstagsfest, das von der Gesellschaft für Kulturpolitik Oberösterreich unterstützt und gehostet wurde.

Luan Pertl hat erst mit 36 von der eigenen Intergeschlechtlichkeit erfahren und ist gleich darauf als Inter-Aktivist*in tätig geworden. Pertl kennt diese Anstrengung, wenn man in der politischen Arbeit mit seinen Verletzungen exponiert ist. Man müsse sich auf Interviews etwa genau vorbereiten und wissen, wann man stopp sagt, um Grenzüberschreitungen zu verhindern oder entgegenzutreten. Das sei gerade als Mensch mit traumatischen Erlebnissen, von denen viele inter* Menschen berichten können, eine große Herausforderung.

„Die Unterstützung der Mitglieder von PIÖ ist da immens wichtig. Sie übernehmen viel Öffentlichkeitsarbeit. In der Gruppe sind Expert*innen wie beispielsweise die Juristinnen Eva Matt und Marija Petri?evi?, die den Gerichtsprozess von Alex Jürgen*, den Rechtsanwalt Helmut Graupner dann durchgefochten hat, maßgeblich mit vorbereitet haben“, erklärt Luan Pertl im Interview mit kreuz und queer.

Es gab früher eher wenige verbündete Menschen, die sich für intergeschlechtliche Menschen und ihre Rechte eingesetzt haben, denn es war und ist ein Tabuthema. Inter* wurde vollkommen auf das Medizinische reduziert. Die sozialen, psychologischen und rechtlichen Aspekte wurden ausgeblendet.

„In dem Moment, wo inter* Menschen selbst mit ihren Geschichten sichtbar werden, wird klar: Es ist nicht nur ein medizinisches Thema. Es geht um Menschen. Und viele davon sind von der Medizin kaputt gemacht worden“, sagt Pertl.

Große Erfolge

Luan Pertl erzählt im Interview auch über die Freude, die Erfolge und Errungenschaften in den letzten Jahren: „Durch die Gründung von VIMÖ und seine Öffentlichkeitsarbeit haben Alex Jürgen* und Tobias Humer intergeschlechtliche Menschen erst einmal sichtbar gemacht. Das ist für mich die größte Errungenschaft überhaupt. Dadurch, dass wir immer mehr und immer stärker wurden, können wir jetzt Schulen, Ausbildungsstätten etc. noch besser und breiter erreichen und mit Workshops und Vorträgen über Inter* aufklären. Eine weitere wichtige Errungenschaft ist natürlich die erfolgreiche Klage vorm Verfassungsgerichtshof von Alex Jürgen*.“

Weitere Pathologisierung

In Österreich wird jedoch die Umsetzung des VfGH-Entscheids zur Dritten Option vom Innenministerium mit einer nicht unerheblichen Einschränkung vollzogen. Für den Eintrag „divers“ in Urkunden und im Personenstandsregister werden Gutachten von medizinischem Fachpersonal, das im Auftrag des Gesundheitsministeriums arbeitet – genannt Versorgungsstelle für die Varianten der Geschlechtsentwicklung (VdG-Board) – verlangt. Dadurch wird Intergeschlechtlichkeit weiterhin und erneut als ein medizinischer Fall pathologisiert – anstatt als eine weitere Geschlechtsvariante neben männlich und weiblich geführt.

Um den Druck von Eltern und Ärzt*innen zu nehmen, ein Kind unbedingt in die Kategorien männlich oder weiblich zu pressen, und die oft damit einhergehenden irreversiblen, nicht konsensuellen Geschlechtsoperationen zu verhindern, braucht es einen normalisierten Umgang mit Inter*. Bei einem  gesunden inter* Kind seien diese geforderten medizinischen Gutachten völlig überflüssig, so Pertl.

Die große Angst vor dem Verlust des Zwangs zur Zweigeschlechtlichkeit lasse Menschen Intergeschlechtlichkeit pathologisieren. „Nur so können sie mit der Angst umgehen und das Thema  irgendwie angreifen“, erklärt Pertl. Es gibt nun mal nicht nur Männer und Frauen, sondern auch intergeschlechtliche Menschen.

Nach wie vor ist der Kampf für ein Stopp der nicht konsensuellen geschlechtszuweisenden Operationen notwendig: Kommt ein Kind als erkennbar intergeschlechtlich auf die Welt, das heißt, es lässt sich nicht in die  Geschlechtskategorien männlich oder weiblich einordnen (und das ist bei circa einem von 2000 Neugeborenen der Fall), werden noch immer medizinisch nicht notwendige geschlechtszuweisende Genitaloperationen sowie weitere medizinische Behandlungen wie eine Hormongabe vorgenommen. Auch im späteren Kindesalter kommt es nach wie vor zu diesen Eingriffen, die nachhaltige, lebenslange seelische wie körperliche Leiden verursachen.

Eine interdisziplinäre Follow-up-Studie für deutsche Krankenhäuser, die von der Universität Bochum im Februar veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Häufigkeit von an unter zehn Jahre alten inter* Kindern durchgeführten Feminisierungs- und Maskulinisierungsoperationen in den Jahren 2005 bis 2016 erschreckenderweise nicht abgenommen hat. (2) Nur ein unter Strafe stehendes Verbot und verantwortungsbewusstes medizinisches Personal und aufgeklärte Eltern können diese Menschenrechtsverletzung stoppen, so Pertl. In Österreich kommen pro Jahr circa zwanzig bis achtzig Neugeborene als intergeschlechtlich auf die Welt; auch in Österreich gehören diese gewaltvollen Eingriffe leider noch nicht der Vergangenheit an.

Inter* und Kirche?

Luan Pertl widmet sich – nach einigen Jahren der Arbeit in der Diakonie – nun auch hauptberuflich dem Thema Inter* und managt u. a. die Finanzen bei OII (Organisation Intersex International) Europe, mit Sitz in Berlin. Während der Zeit in der Diakonie Wien setzte sich Luan Pertl auch mit Inter* und Glaube auseinander, als wir gemeinsam einen biblisch-theologischen Impuls für die Mitarbeitenden gaben. VIMÖ wird außerdem regelmäßig an die theologischen Fakultäten in Wien eingeladen, um dort Workshops zu gestalten. Auch Kirchen können etwas tun, findet Pertl. „Es geht darum, über den Tellerrand hinaus zu blicken und zu sehen, dass Gott uns geschaffen hat, wie er*sie*es uns geschaffen hat. Vor Inter* muss man keine Angst haben. Das ist doch eine wichtige theologische Botschaft in Bezug auf Inter*. Und womit Kirchen uns wirklich helfen können, ist, diese Botschaft in die Gesellschaft zu tragen und den Menschen ihre Angst zu nehmen“, erklärt Pertl.

Noch gibt es für alle viel zu tun. Auch die Aufklärung für Eltern und in Schulen muss ausgebaut werden, findet Luan Pertl. Und von vielen LGBTI-Vereinen wünsche man sich mehr Offenheit, Inter* komme da oft gar nicht vor.

Alle anderen sind ebenfalls aufgerufen: Wir dürfen jetzt nicht locker lassen und in allen Bereichen des Lebens den Kampf um Rechte intergeschlechtlicher Menschen solidarisch weiter führen.

Und erst einmal wird noch ein bisschen zelebriert: die dritte Option und der fünfjährige Geburtstag von VIMÖ. Denn gerade bei Inter* ist es wichtig, Geburtstage ordentlich zu feiern: Happy BIRTHday!

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https://vimoe.at/

http://www.plattform-intersex.at/

https://oiieurope.org/

(1) In Deutschland werden diese Gutachten ebenfalls gefordert, allerdings reicht hier eine Untersuchung bei einer*m Ärzt*in.

(2) Josch Hoenes et al.: Häufigkeit normangleichender Operationen ‚uneindeutiger‘ Genitalien im Kindesalter. Die Studie ist von der Ruhr-Universität Bochum in Auftrag gegeben worden und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert worden, https://omp.ub.rub.de/index.php/RUB/catalog/book/113

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