Bitte keine Große Koalition!

Bitte keine Große Koalition!
Beim Podium über sexualisierte Gewalt schwankten die Betroffenen zwischen Wut und Verständnis

Den Appell von Nikolaus Schneider, am Ende von zwei hochkonzentrierten Stunden im Dortmunder Opernhaus, hätte es nicht wirklich gebraucht. „Ihr müsst weiter nerven!“ ruft er den Betroffenen zu. Aber hallo, die nerven schon von selber. Wenn sie nicht genervt hätten, säßen sie gar nicht auf diesem Podium des Kirchentags, das im gedruckten Programm nur als „Vertrauen und Vertrauensmissbrauch“ angekündigt war, mit leitenden Geistlichen und Experten. Ohne Betroffene vom sexualisierter Gewalt.

Aber sie haben sich auf dieses Podium gekämpft, und das ist gut so. Das Kämpfen haben sie gelernt in den letzten Jahren. Detlev Zander, der in einem Kinderheim der Korntaler Brudergemeinde Furchtbares durchlitt, was er jahrelang „nur meinem Teddybär erzählte“. Er kann heute seine Geschichte eindrücklich auf großer Bühne erzählen, und er lässt sich nicht irritieren von menschlicher Sympathie. Er trennt professionell zwischen den Menschen in der Runde – die sind alle nett! Und der Institution, die sie vertreten – die muss noch viel lernen! Menschlich mag er vor allem die Bischöfin Kirsten Fehrs, die – wie Moderatorin Claudia Keller sie nennt –das Gesicht der evangelischen  Kirche für das Thema sexualisierte Gewalt ist. „Frau Fehrs, ich nehme Ihnen Ihre Anteilnahme hundertprozentig ab“, schwärmt Zander regelrecht, „als ich Sie auf der Synode in Würzburg gehört habe, da lief doch vielen Pfarrern im Saal der Schweiß.“ Aber die Institution Kirche – die habe noch längst nicht genug getan.

Die Bischöfin selber gesteht, dass sie das erst lernen musste: „Ich bin seit ein paar Jahren nicht die Seelsorgerin. Sondern die Vertreterin der Kirche. Gegen die sich die Wut richtet. Das muss ich aushalten.“

Wogegen richtet sich genau die Wut, was wollen die Betroffenen? Kerstin Claus, die im Frühjahr 2018 ihre Gewalt-Geschichte in chrismon veröffentlichte, weiß genau, was sie will: Dass sie beim Googeln nicht mehr auf den Täter als aktiven Pfarrer stößt –„der macht weiter Gottesdienste!“ Dass Betroffene, die sich melden, nicht „vernommen“ werden. Sondern angehört. Dass Schutzkonzepte nicht nur in bunten Aktenordnern in jeder Kita stehen. Sondern dass von oben kontrolliert wird – und von den Eltern nachgefragt: Was macht ihr jetzt genau? Wer ist zuständig? „Das ist wie beim Brandschutz“, sagt die gelernte Journalistin, „da ist nix mit freiwillig. Das muss Pflicht sein.“

Wie groß das Ausmaß an sexualisierter Gewalt wirklich ist in der evangelischen Kirche, sollen jetzt Studien ergeben. Die Arbeitshypothese war lange Zeit: Nicht so groß wie bei der katholischen Kirche. Weil es in der evangelischen Kirche ja nicht das Problem mit der rigiden Sexualmoral gibt, keinen Papst, der Zölibat verlangt und Sex vor der Ehe geißelt. Aber allmählich wird klar, es gibt Risikofaktoren, die rein evangelisch sind: Die Vereinskirche. Das Nette, das Duzen, das Verbindliche.  Das „Geheimniskonstrukt“, wie die Betroffene Claus es nennt.

Bis es verlässliche Zahlen gibt, schätzt man lieber hoch statt niedrig. Denn die wenigen Zahlen, die es aus anderen gesellschaftlichen Bereichen gibt, sind alarmierend. Die Marburger Sozialwissenschaftlerin Sabine Maschke befragte 3000 Schüler in Hessen, die Ergebnisse sind verheerend: Körperliche sexuelle Gewalt hat jede vierte Schülerin – manchmal auch Jungs – erlebt. In Förderschulen sind es doppelt so viele. Und von den Opfern wusste jeder zweite nicht, wem sie oder er sich anvertrauen kann.

Da ist es wieder, das Vertrauens-Thema, das diesen Kirchentag durch zieht. Nein, Vertrauen in die Kirche werden Gläubige, denen Unrecht geschah, so schnell nicht wieder haben. Vorerst sollen alle, die heute im Opernhaus etwas mitteilen, ihre Botschaften in verschlossene Boxen werfen, die von den Anwälten des Publikums sorgsam ausgewertet werden. Seelsorger stehen bereit, gleich heute im Opernhaus, um zuzuhören. Und nach zwei Stunden Debatte auf dem Podium stehen alle RednerInnen weiter bereit zum Gespräch. Vertrauensbildende Maßnahmen, gut so. Es wird noch viele solcher Runden brauchen.  Am Ende wollte ausgerechnet der zornige Herr Zander eine Art „Koalitionsvertrag“ schließen mit der Kirche, mit dem gemeinsamen Ziel: Aufarbeitung. Das soll er mal lieber lassen. Wütend bewirkt er mehr.

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