Kein Phänomen der jüngeren deutschen Zeitgeschichte ist derart oft verfilmt worden wie die Ereignisse rund um die "Rote Armee Fraktion". Über drei Dutzend Dokumentar- und Spielfilme haben sich mit den Verbrechen der 1970 maßgeblich von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof gegründeten terroristischen Vereinigung befasst.
Vor fünfzig Jahren, am 21. Mai 1975, begann der Prozess gegen die Köpfe der RAF. Die Handlung von "Stammheim – Zeit des Terrors" setzt jedoch ein Jahr vorher ein, als Ensslin und Meinhof im April 1974 in die Stuttgarter Justizvollzugsanstalt verlegt werden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Regisseur Niki Stein hat das Drehbuch gemeinsam mit Stefan Aust geschrieben; der frühere "Spiegel"-Chef kennt die Geschichte der RAF so gut wie kaum ein anderer. Auf Basis seines 1985 erschienenen Sachbuchs "Der Baader-Meinhof-Komplex" haben Bernd Eichinger (Buch) und Uli Edel (Regie) gut zwanzig Jahre später einen Kinofilm gedreht, der sich zwar streng an die Fakten gehalten, aber dennoch polarisiert hat; Baader wirkte dank Moritz Bleibtreu wie ein Popstar.
Tatsächlich markiert die Besetzung einen deutlichen Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Werk: Die fünfzigköpfige Ensemble-Liste der Eichinger-Produktion (2008) war gespickt mit Stars. Bei seinem Fernsehfilm musste Stein naturgemäß mit einem deutlich niedrigeren Budget auskommen. Anders als Eichinger und Edel, die einen neutralen Ansatz wählten, wollte er offenbar jede Heroisierung des um Jan-Carl Raspe ergänzten RAF-Quartetts vermeiden und hat sich daher für Mitwirkende entschieden, die kaum bekannt sind.
Die zentrale Figur seines Films ist ohnehin ein Anderer. Stein bedient sich eines dramaturgischen Kniffs, der gern gewählt wird, um historische Persönlichkeiten aus einem neuen Blickwinkel betrachten zu können: Moritz Führmann spielt den stellvertretenden Vollzugsdienstleiter Horst Bubeck, der sich grenzenlos geduldig um die Häftlinge kümmert. Mit seiner konsequent höflichen Haltung wirkt er weitaus sympathischer als seine Schutzbefohlenen. Als die vier in den Hungerstreik treten und zwangsernährt werden, fühlt er den Schmerz förmlich selbst.
Dass gerade die Frauen nicht zur Identifikation einladen, liegt auch an der Darstellung. Lilith Stangenberg verkörpert Ensslin regelrecht zickig; was sie mit Meinhof (Tatiana Nekrasov) treibt, ist reinstes Mobbing. Auch deshalb ist kaum zu glauben, dass Ensslin der intellektuelle Kopf der Gruppe war. Stangenbergs Spiel lässt sie eher als spätpubertäre Göre erscheinen, die nicht mal richtig rauchen kann, sondern bloß pafft. Aufgrund ihrer schwer nach Pamphlet klingenden Dialogsätze wirkt sie erst recht wie eine Kunstfigur.
Die beiden Männer kommen deutlich besser weg: Baader (Henning Flüsloh) hat einen Musikgeschmack (Jimi Hendrix, Deep Purple, The Doors), der viele Menschen über sechzig erfreuen dürfte, und der ruhige Raspe (Rafael Stachowiak) hebt sich wohltuend von den drei anderen ab. Trotzdem erscheint es aus heutiger Sicht geradezu grotesk, dass die Köpfe des Terrors damals in linken Kreisen nicht nur klammheimlich verehrt wurden.
Die Handlung trägt sich größtenteils im Zellentrakt des Quartetts zu. Trotzdem ist Steins Film kein Kammerspiel. Die ARD bezeichnet "Stammheim" als Dokudrama, doch dieses Etikett wird dem Stil nicht gerecht, weil es keine Interviews mit den sonst in diesem Genre obligaten Sachverständigen gibt. Für den historischen Hintergrund sorgen zeitgenössische Ausschnitte aus der "Tagesschau", die Stein oftmals geschickt integriert hat, weil die Inhaftierten und Bubeck die Nachrichten auf ihren Fernsehern verfolgen.
Die Kombination von szenischen Rekonstruktionen und dokumentarischem Material ist auch dank der gewohnt herausragenden Bildgestaltung durch seinen Stammkameramann Arthur W. Ahrweiler handwerklich sehr gelungen. Das gilt auch für den Untersuchungsausschuss: Übergänge zwischen Spielszenen und Originalmaterial sind nicht zu erkennen.
Bei der Befragung durch den Vorsitzenden (Hans-Jochen Wagner) müssen Bubeck und ein BKA-Kommissar (Heino Ferch) Stellung zu den Suiziden von Baader, Ensslin und Raspe nehmen; die Gefangenen hatten sich nach dem gescheiterten Versuch, sie durch die Entführung Hanns Martin Schleyers und eines Lufthansa-Flugzeugs im "deutschen Herbst" 1977 freizupressen, das Leben genommen.
Fürs Publikum nicht erkennbar, für das Ensemble aber garantiert von großer Bedeutung ist nicht zuletzt der Drehort: Stein durfte in der JVA Stammheim drehen, und natürlich ist es ein enormer Unterschied, ob die Mitwirkenden in einer Studioumgebung oder am echten Schauplatz agieren. Im Anschluss zeigt die ARD eine Dokumentation über "die unbekannten Opfer" der RAF, jene Männer und Frauen, die bei den Attentaten und Entführungen ums Leben kamen.