Zwei Seiten Nebel

Zwei Seiten Nebel
Mit Postkarten und Free-Deniz-T-Shirts gegen Knastmauern anlaufen: sollte man machen. Die AfD wünscht sich einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der mit einem Programm und ohne Finanzierung auskommt. Tragen bräsige Fernsehsendungen eine Mitschuld am Phänomen Fake News? Außerdem: Gruner + Jahr als Möbelladen; generell sinnlose Fernsehpreise; Fernsehzuschauern sind auch ältere Herren zuzumuten, etwa Werner Schulze-Erdel.

Seit 24 Tagen sitzt Deniz Yücel nun in Haft.

„Ich habe das Verhör-Protokoll gelesen und keine Fragen zu seinen Einträgen in den sozialen Medien gesehen, wohl aber zu seinen Artikeln. Erstens hat er Analysen zu Rojava, Nordirak, Mosul, Kobane, Syrien, Irak und zur Kurdenpolitik der Türkei veröffentlicht. Zweitens gibt es Interviews, die er zur Kurdenfrage geführt hat. Dazu wurde er befragt. Das sind alles Artikel, die in der Zeitung ,Die Welt’ erschienen sind.“

Das berichtet Sezgin Tanrıkulu, Abgeordneter der türkischen, sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP im Interview mit der Deutschen Welle, nachdem er am Montag im bei Istanbul gelegenen Gefängnis Silviri inhaftierte Journalisten besucht hatte. Und weiter: 

„Er hat zu niemandem Kontakt. Die Gefängniswärter behandeln ihn nicht schlecht, aber die Bedingungen entsprechen einer Isolationshaft.

[Frage] Weshalb sitzt er in Isolationshaft?

Es gibt keine Begründung dafür. Vom ersten Augenblick an war er alleine.“

Im Bundestag erschienen gestern drei Grünen-Abgeordnete im Free-Deniz-T-Shirt zur Regierungserklärung von Angela Merkel, wurden aber vor die Tür gesetzt - „im Bundestag sind Demonstrationen dieser Art nicht erlaubt“ (Text: Zeit Online, Fotobeweis: Twitter). Über Letzteres verbreiten derweil türkische Journalisten mit Unterstützung der Reporter ohne Grenzen und des Autorenverbandes PEN unter den Hashtags #FreePress und #GazetecilereOzgurluk Postkarten, auf denen zwölf der in der Türkei eingesperrten Journalisten zu sehen sind. An diese soll man die Karten auch schicken. 

„Dass die Karten die Inhaftierten jemals erreichen werden, ist aber unwahrscheinlich. Denn sie dürfen keine Post erhalten – anders als fast alle anderen Gefangenen im türkischen Strafvollzug. Trotzdem soll mit der Aktion die Unterstützung für die Journalisten demonstriert werden. Letztlich wollen die Initiatoren damit auf die bedrohte Pressefreiheit in der Türkei insgesamt aufmerksam machen.“ (Robert Tusch, Meedia)

Die Einen haben T-Shirts und Postkarten, die Anderen Gefängnismauern - zum Glück sitze ich gerade in Prenzlauer Berg, wo man mit den Methoden der Einen schon ein ganzes Regime zum Einsturz gebracht hat. Andernfalls wäre das doch sehr deprimierend.  

Einen Überblick über die allgemeine Lage von Journalisten in der Türkei, die einen doch, auch wenn man das eigentlich alles schon weiß, immer wieder erschüttert, bietet aktuell Dominik Speck in epd medien (derzeit nicht online): 

„Von den 155 Medienmitarbeitern auf der P24-Liste [eine Plattform für unabhängigen Journalismus in der Türkei, Anm. AP] haben lediglich 37 schon vor dem Putsch im Gefängnis gesessen. Allein 81 sind in Haft, weil sie den Putschversuch unterstützt haben sollen. Mit den Zahlen will P24 auch belegen, was die Regierung offiziell dementiert: Nach ihren Angaben sitzen ,nur’ 30 Journalisten ein.

Laut der US-Organisation ,Committee to Protect Journalists’ sitzt ein Drittel aller weltweit inhaftierten Journalisten in türkischen Gefängnissen. […] 

Die ,Cumhuriyet’ gehört zu den letzten Redaktionen im Land, die weitgehend frei von staatlichem Einfluss berichten können. Schätzungen zufolge kontrolliert die Regierung mittlerweile 70 Prozent der Medien direkt, andere Redaktionen spüren den Druck indirekt, weil beispielsweise die Werbekunden wegbrechen (epd 45/ 16). Und dann ist da noch die Selbstzensur.“

Wie sich etwa der Fall Deniz Yücel aus Sicht der so kontrollierten Presse ausmacht, dokumentierte Ebru Taşdemir bereits am Mittwoch in der taz.gazete:

„So sei ein ,Aufsehen erregender Vorwurf’ gegen Deutschland erhoben worden, titelt die Güneş. Von welcher Seite und durch wen? Die Quelle ist unbekannt. Das interessiert die Leser der Zeitung womöglich auch nicht. Auf dem gestrigen Titelblatt wird – für die ganz Doofen noch mit einem orangefarbenen Pfeil versehen – über das Bild des Journalisten Deniz Yücel profan ein ,Die Angst, dass er ein Geständnis ablegt’ gedichtet.

Und weiter: ,Die vor einem Monat Hals über Kopf in die Türkei gereiste Merkel bettelte Erdoğan förmlich um die Freilassung des Terroristen-Agenten der PKK, Deniz Yücel, an. Als dies erfolglos blieb, brach sie wegen Yücel alle Brücken ab. Deutschland befürchtet, dass der Agent Yücel gesteht und so etliche Kontakte ausliefert.’“

So kann man das also auch sehen. 

Vor diesem Hintergrund wird klar, dass Cem Özdemir, wie gestern überall zu lesen war, im Interview mit der Rheinischen Post nicht wirklich ein deutsch-türkisches Arte gemeint haben kann, als er erklärte: 

„Innenpolitisch bedeutet das, Deutschtürken hier auch medial und kulturell zu integrieren, wir brauchen einen deutsch-türkischen Fernsehsender, eine Art deutsch-türkisches Arte. Der private Radiosender Metropol FM macht es schon jetzt vor: türkische Popmusik, die aber nicht zwischen Erdogan-Propaganda läuft, sondern neutrale Nachrichten mit Fokus auf Deutschland und der Türkei.“

Schließlich wird Arte gleichberechtigt aus Frankreich und Deutschland erstellt, was aber angesichts der aktuellen Lage in der Türkei bedeutete, dass die Hälfte des Programms durch den Erdogan-Filter gejagt würde. Und gerade das will Özdemir ja vermeiden. 

Eher trifft es da wohl der Vorschlag, den Markus Ehrenberg aus der Idee im Tagesspiegel entwickelt: 

„Vielleicht kann so etwas aber auch in die Deutsche Welle integriert werden. Die hat mit dem 2015 gestarteten Flüchtlingskanal DW Arabia recht gute Erfahrungen gemacht.“

Was sich daraus definitiv ergibt: Der Deutungskampf „Meine Wahrheit gegen Deine Wahrheit“ läuft. Übrigens mit einem Staat, der offiziell weiterhin als Beitrittskandidat zur EU gilt. 

[+++] Dass ein demokratisches, freies Mediensystem nicht automatisch immer so bleibt, wie wir es gewohnt sind, nur weil wir es so gewohnt sind, zeigt aktuell der Blick in den Entwurf des Wahlprogramms, den die selbsternannte Alternative für Deutschland gestern präsentierte (hier als PDF). 

Auf Seite 43 von 67 skizziert sie darin mal eben, wie sie sich das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem unter ihrer Ägide vorstellt. Im Sinne einer umfassenden Information sei hier der gesamte betreffende Absatz zitiert: 

„Die AfD fordert die Abschaffung des geräteunabhängigen ,Rundfunkbeitrags’. Ein bundesweites Vollprogramm (Fernsehen / Hörfunk) ist ausreichend, um den Auftrag eines unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu erfüllen. Die Aufsichtsräte der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind von staatlichem Einfluss so weit wie möglich freizuhalten. 

Um den Rundfunk effektiv zu reformieren, sind die Rundfunkstaatsverträge zu kündigen.

Werbung in den öffentlich-rechtlichen Programmen wollen wir abschaffen.

Die Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Programmen muss sachlich und ausgewogen sein und darf sich nicht nach den Interessen von Regierungen, Parteipolitik oder Lobbygruppen ausrichten. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat sich im Rahmen des Informations-, Bildungs- und Kulturauftrags als Dienstleiter, nicht als Erzieher des Beitragszahlers zu verstehen.“

Urteil Joachim Huber, Tagesspiegel

„Warum die Partei dieses und jenes will, wird nicht erläutert, Argumente fehlen völlig.“

Ganz so würde ich das nicht sehen. Der letzte Satz erklärt sich beispielsweise ganz gut, wenn man kurz einen Blick in den aktuellen Rundfunkstaatsvertrag (S. 20) unter „Auftrag“ wirft:

„Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Ländern fördern“. 

Wessen Claim to Fame Abschottung und Schüren der Angst vor Menschen, die nicht zufälligerweise im gleichen Passgebiet geboren sind wie man selbst, darstellt, der liest so etwas halt nicht gerne. 

Andere Dinge hätte hingegen auch ich gerne noch einmal genauer erklärt, etwa, ob dann der einzige, bundesdeutsche Radiosender eher wie WDR4, Radio Eins oder doch Deutschlandfunk klingen soll? Und wie soll dieser sich finanzieren, wenn Rundfunkbeitrag und Werbung abgeschafft werden? Ganz zu Ende gedacht wurde das entweder noch nicht. Oder man mag die Konsequenzen nicht so gerne downloadbar im Netz öffentlich machen. 

[+++] Was zum Festival der guten Laune, zu dem sich dieser Text entwickelt, noch fehlt? Natürlich: Fake News! Den Stand der Debatte samt ausführlicher Literaturliste hat Altpapier-Kollege René Martens für die aktuelle Ausgabe der Medienkorrespondenz zusammengetragen, ergänzt um folgenden, interessanten Gedankengang: 

„Wer heute für Lügen, Übertreibungen und Verschwörungstheorien empfänglich ist, ist in der Regel durch die etablierten Medien sozialisiert worden. Es stellt sich also unter anderem die Frage, warum diese nicht in der Lage waren, ihren (einstigen) Lesern und Zuschauern ausreichend Medienkompetenz zu vermitteln. Haben die etablierten Medien ihren Bildungsauftrag, der im Fall des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Landesrundfunkgesetzen und im Rundfunkstaatsvertrag festgeschrieben ist, untererfüllt – und dadurch dazu beigetragen, dass weite Teile der Bevölkerung sich im Nachrichtennebel verirren und empfänglich geworden sind für Falschberichterstattung und Lügen? Rächt sich nun die langjährige Unterforderung des Publikums?“

Um es positiv zu formulieren: Dass Journalisten sich angesichts der aktuellen Entwicklungen aller Orten wieder auf ihre hehre Aufgabe als Demokratie-Verteidiger besinnen, ist nicht das Schlechteste. 


Altpapierkorb

+++ Gestern war Zahltag in Köln und Berlin, und alle sind happy, weil: „Group revenue increased 3.4 per cent to €6,237 million“ (Pressemitteilung RTL Group, übersetzt und eingeordnet von Marvin Schade bei Meedia und dpa/Horizont) bzw. „Axel Springer hat seine strategischen und wirtschaftlichen Prioritäten im Geschäftsjahr 2016 erfolgreich umgesetzt und seine Konzernziele erreicht. (…) Durch das kräftige organische Wachstum der digitalen Geschäftsmodelle legte der Konzernumsatz konsolidierungs- und währungsbereinigt um 4,1 Prozent zu“ (Springer-Pressemitteilung, zusammengefasst von Alexander Krei bei DWDL. Alexander Becker hat bei Meedia die Meldung hochgezogen, dass der Business Insider erstmals schwarze Zahlen schreibe). +++

+++ „Statt nach Papier, Schweiß und Elbwasser roch es nach neuem Teppich, Holz und Leim. Der Verlag, von dem es einmal hieß, sein Herz schlage in den Redaktionen, war nicht wiederzuerkennen. Der Eingangsbereich hieß jetzt ,Schöner Wohnen Quartier’.“ Ulrike Simon berichtet in ihrer aktuellen RND-Kolumne aus dem Foyer von Gruner + Jahr. +++

+++ Zu den neusten Wikileaks-Enthüllungen (Altpapier am Mittwoch) interviewt auf der FAZ-Medienseite Uwe Ebbinghaus den IT-Sicherheitsexperten Bernhard Schneck: „Das größere Problem sehe ich darin, dass der Staat die Aufgabe hat, seine Bürger zu schützen. Wenn der Staat von kriminellen Umtrieben oder deren Möglichkeit erfährt, sollte er etwas unternehmen. Was aber hier offenbar passiert ist: Der Staat besorgt sich Mittel, die von Kriminellen eingesetzt werden, versteckt sie, nutzt sie für seine eigenen Zwecke und weist Unternehmen wie Apple eben nicht auf Sicherheitslücken hin, die die Allgemeinheit betreffen.“ Zudem geht es um offene Briefe, die gegen die Einstellung des ZDF-Magazins „ML Mona Lisa“ bei Thomas Bellut eingegangen sind. +++

+++ Dank einer Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch den Bundestag sollen Verlage in Bereichen, die keine Redaktion sind, eher kooperieren dürfen, und zeigen sich darob in einer Pressemitteilung schon mal sehr erfreut. Die Änderung muss aber noch durch den Bundesrat. +++

+++ Nach dem #GoslingGate ist vor der hübschen Analyse der Sinnlosigkeit solcher Preisverleihungen durch Philipp Walulis. +++

+++ Die Medien ignorierten die Demos zum Frauentag, meint in der taz Dinah Riese. +++

+++ „John De Mol besitzt bereits einen Sender, er möchte zudem den privaten Unterhaltungskanal SBS vom finnischen Medienpartner Sanoma kaufen. Aber im Moment ist für ihn nur eine Sache wichtig. John de Mol hat es sich in den Kopf gesetzt, die bisher börsennotierte Telegraaf Media Groep vollständig zu übernehmen, der Telegraaf ist die größte Zeitung der Niederlande. An der ist er seit Langem beteiligt und hält heute zwanzig Prozent. Doch jetzt gibt es einen unerwarteten Bieter – den Konzern Mediahuis aus Belgien –, und der hat bessere Chancen. (…) In dieser Woche hat sich der Aufsichtsrat des Telegraaf für die Belgier als neue Eigentümer entschieden und eine Empfehlung an die Aktionäre abgeben. Dagegen wehrt sich de Mol.“ Auf der Medienseite der SZ berichtet Pieter Couwenbergh. +++ Außerdem auf der Seite: Karoline Meta Beisel über „Missing Richard Simmons“ - der Podcast begibt sich auf die Suche nach einem verschwundenen Fitness-Guru aus Beverly Hills. +++

+++ Wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel Ulrich Wilhelm zum ARD-Intendanten beförderte, aber ihm sonst wenig Relevantes entlockte (s. a. Altpapier am Montag), rekapituliert für die Medienkorrespondenz Dietrich Leder in seinem Journal. +++ Aus der vergangenen Ausgabe zudem jetzt online Volker Nünnings Artikel über Gewinnspielverstöße bei Sport 1. +++

+++ Die 1970er, eine Redaktion und Frauen, die mit den ihnen darin zugewiesenen Rollen nicht zufrieden sind: Klingt nach „Good Girls Revolt“, ist aber der (hüstel) neueste Serienplan des ZDF (Timo Niemeier, DWDL). +++ Dort ebenfalls: Ein Interview mit Hugo Egon Balder anlässlich des Comebacks von „Genial daneben“: „Was ich nur so schade finde, ist, dass man vieles nicht mit den Original-Leuten macht. Wenn ich ,Familienduell’ schaue, möchte ich das mit Werner Schulze-Erdel sehen – ist doch egal, dass der jetzt 20 Jahre älter ist.“ +++

+++ Endlich mal wieder ein Artikel über die Washington Post unter Jeff Bezos! Diesmal von Thomas Seibert im Tagesspiegel. +++

+++ Serdar Somuncu bleibt bei ntv doch weiter auf Sendung, nachdem der Sender eine für Februar geplante Ausgabe von „So! Muncu“ kassiert hatte, in der Fake News als ntv-Breaking News laufen sollten (DWDL, Tagesspiegel). +++

Neues Altpapier erscheint wieder am Montag. Schönes Wochenende!

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