Vielstimmenbuch

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Spiritus Blog mit Birgit Mattausch
Geistvoll in die Woche
Vielstimmenbuch
Seit ein paar Monaten lese ich jeden Morgen ein Kapitel aus der Bibel.

Wir sind eine kleine Gruppe, die das tut. Ich kenne die anderen nicht besonders gut. Einmal im Monat treffen wir uns per Zoom. Ansonsten kommunizieren wir über eine Signalgruppe.
Als ich dazu kam, war gerade das Hohelied dran. Seither haben wir gelesen: Das Matthäusevangelium, das Sprüchebuch, die Korintherbriefe, Hiob, das 1. Buch Chronik.

Ich trinke also morgens meinen ersten Kaffee und lese erstmal nicht, was Trump, Putin & Co wieder Irres getan haben, sondern ich lese in meiner abgeschrabbelten Lutherbibel, die ich seit meiner Konfirmation habe. 

Manchmal bin ich hingerissen, von dem, was ich lese: wie wunderschön ist bitte das Hohelied, wäre es ein Kleidungsstück, es wäre ein Seidenpyjama und ich möchte es nie wieder ausziehen. 
Manchmal bin ich genervt: es ist so anstrengend, diese immer gleich gebauten Sätze des Sprüchebuchs zu lesen, ich kann mich nur schwer konzentrieren und das ist vielleicht auch besser so, denn ich möchte jedem zweiten Spruch widersprechen. Nie habe ich mich so auf einen Paulusbrief gefreut, wie als ich mich durch die Sprüche quälte (die natürlich eben auch gar nicht für diese Art der Lektüre gemacht sind). 

Manchmal muss ich lachen, wo ich es gar nicht erwartet hätte: tagelang lesen wir uns durch das Hiobbuch und warten auf die ultimative Antwort G*ttes auf die Theodizeefrage - und dann ist es soweit, die Spannung steigt -  und G*tt hält einen ausführlichen random Vortrag über ein ausgedachtes Wesen, das die Vorlage für viele Fantasytexte werden wird.

Und manchmal entdecke ich Neues: Was für ein rasantes Tempo hat das Matthäusevangelium! Wie sehr fasst mich König Sauls Tod an. Wie befremdet bin ich davon, dass ein Geschichtsbuch Männername an Männername reiht - dabei ist das ja oft bis heute so. Und wie bemerkenswert ist eigentlich die Briefform - sie wartet ja auf eine Antwort, ein fernschriftliches Gespräch.

Ich liebe die Bibel schon lange - dieses Vielstimmenbuch, wie Kurt Marti es nannte. Fast alle Kapitel habe ich schon einmal gelesen, über manche Texte schon eigene Texte geschrieben. Aber so am ganzen Körper diese Vielstimmigkeit erlebt, das habe ich noch nie. Das ist nicht immer erbaulich. Es ist ein Wechselbad der Gefühle. An manchen Tagen verstehe ich plötzlich, wie es sein kann, dass Trumps Beraterin Paula White und der Moskauer Patriarch Kyrill sich mit ihren zerstörerischen Theologien auch auf dieses Buch beziehen. 

Das, was mir heilig ist, ist in hohem Maße uneindeutig. Ich bin nicht fertig damit. Ich werde nie damit fertig sein.

In unserer kleinen Gruppe teilen wir unsere Wahrnehmungen. Auch die sind sehr unterschiedlich, weil wir unterschiedlich religiös sozialisiert - und weil wir einfach verschieden sind. Ohne die andern würde ich oft was überspringen. Oder gleich ganz aufgeben. Und noch viel weniger verstehen.

In jedem Fall: Ich lerne dazu. Ich bin kein besserer Mensch geworden durch diese Morgenroutine, ich bin nicht erleuchteter, nicht dauernd G*tt oder Jesus oder mir selbst näher. Aber jeden Tag habe ich doch diesen Moment des ANDEREN. Da ist mehr als ich selbst. Mehr als der Newsticker. Mehr als der Stand Jetzt.

Und wenn ichs mir so überlege: das ist ganz schön viel.

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