So wie einst Franz Josef Strauß

So wie einst Franz Josef Strauß
... oder sogar der Ajatollah (bzw. die Streisand). Ein aus deutscher Sicht harmloses Internetvideo spült "Extra 3" in ungefähr alle Nachrichtenmedien auf einmal und führt zu hochpolitischen Kommentaren, wo sie niemand erwartet. Der DJV macht mal gar keine schlechte Figur. Und aus einem anderen Grund wird dem deutschen Fernsehen gleich auch noch Mut bescheinigt ...

Auf dem ziemlich breiten Grat zwischen Satire und Comedy/ Klamauk tummeln sich viele öffentlich-rechtliche Fernsehsendungen. Einer traditionsreichen, 39einhalb Jahre alten gelang nun ein ganz großer Durchbruch.

Eigentlich erfüllt "Extra 3" im Dritten Programm des NDR die Aufgabe, mittwochs nach der Wiederholung des Vorabend-Schmunzelkrimis das Medienmagazin "Zapp" tiefer in die Nacht zu schieben; manchmal darf es auch im sog. Ersten mithelfen, die Zeit zu vertreiben, die Reinhold Beckmanns Abschied von den Talkshows frei machte. Ganz gerne gibt "Extra 3" den #Boehmi, d.h. bedichtet einen Hit eines noch nicht zu lange vergangenen Jahrzehnts sauber neu und hofft, damit viral zu gehen.

Seit 19. März gelingt das. "Erdowie, Erdowo, Erdogan" (die Frage, ob man "-ğan" schreibt und/ oder "-wan"/ "-wahn" singt/ spricht, ist bereits zentraler Teil der Idee) gewann bei Youtube zu auch schon starken rund 700.000 Abrufen gestern abend über Nacht dann noch gut zwei Millionen dazu. Und das obwohl der deutsche Text weiterhin nur optional englisch und noch nicht türkisch untertitelt ist (wobei es übrigens die Deutsche Welle zu Integrationszwecken schnell auch arabisch untertiteln sollte ... und es das Paket türkisch hier bei der ARD gibt; danke für den Hinweis). Falls Sie sowieso der Meinung sind, dass öffentlich-rechtliche Anstalten nicht immer Googles Youtube füttern sollten: Im eigenen Player geht's ebenfalls.

Kein Wunder, dass die kleine Fernsehsendung in allen großen Nachrichten-Bundles prominente Erwähnung findet - von E-Mail-Portalen, die stets nur das Heftigste mitnehmen, über Was-erreichbare-Politiker-so-sagten-Überblicke (Volker Beck ist leider gerade unpässlich, aber Claudia Roth nicht; die FAZ hat auch was von Norbert Röttgen) und ausführliche Auslandskorrespondentenberichte in gedruckten Zeitungen bis hin zu leitartikeligen Kommentaren, die den Wert des Lachens und der Aufklärung an sich abwägen, ist "Extra 3" überall dabei. Ja, ganz am Ende einer der Verwertungsketten führte es gar zu einem enorm hochpolitischen meedia.de-Kommentar (Stefan Winterbauer: "... ja, wie soll man es nennen – daneben, faschistoid, befremdlich").

Richtig los ging's, wie gestern hier im Korb vermeldet, bei Spiegel Online, das dann auch, über die Agentur AFP, vom türkischen Regierungswunsch berichtete, "dass die Sendung gelöscht wird" (habe "ein türkischer Diplomat, der anonym bleiben wollte", gesagt). Dass dem deutschen Botschafter "die Forderung übermittelt [wurde], dass dieser Beitrag ... nicht wieder gezeigt werde", heißt es in DPA-Berichten.

"Erdogan verhilft sogenannten Kulturschaffenden, die sich in Wort und/oder Bild satirisch mit seiner Person befassen, immer wieder zu einer Aufmerksamkeit, von der sie ohne seine Reaktion nicht hätten träumen können. Ältere deutsche Kabarettisten werden sich an die seligen Zeiten eines Franz Josef Strauß erinnern, als sich Politiker noch provozieren ließen",

berichtet bzw. rekapituliert Michael Martens für die FAZ (Seite 2) aus Athen, bevor er am Ende einen Radio-Eriwan-Witz zum Besten gibt.

"Täglich sichten ganze Anwaltsteams im Auftrag des Staatspräsidenten Zeitungen, Twitter-Nachrichten, Videos und Fernsehsendungen, um anschließend Strafanzeigen wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts zu verschicken. Diese Klagen sind mittlerweile Routine und ein probates Mittel, missliebige Publikationen in den Ruin zu treiben oder aber Individuen einzuschüchtern. Was in Deutschland lächerlich wirken mag, ist in der Türkei eine konsequente Strategie der Einschüchterung",

ordnet Jürgen Gottschlich in der TAZ ein.

[+++] Das dürfte der zentrale Unterschied sein: Hierzulande sichten jede Menge Gagschreiber (und Medienbeobachter) jede Menge den laufend erzeugten Medienstoff, um noch mehr davon zu erzeugen; in Staaten wie der Türkei sichten ihn staatlich bezahlte Stellen zu ganz anderen Zwecken.

Was das Verhalten der Bundesregierung und der EU betrifft, die in deutschen Nachrichtenmedien gerne für weithin deckungsgleich gehalten werden: "Schweigend hinzunehmen, dass der Präsident die Vertreter westlicher Demokratien beschimpft, weil sie ein Zeichen für die Pressefreiheit setzen, ist nicht der richtige Weg" (Thomas Seibert, Tagesspiegel).

Die Genannten "müssen den Spagat schaffen, einerseits die Türkei als Partner zu behalten, andererseits die eigenen Werte nicht zu verraten", fordert bei SPON Hasnain Kazim (und zwar von Wien aus, da er zu Reportern gehört, die die Türkei nicht mehr im Land haben wollte, vgl. Altpapier).

Größeres Binnen-Drama gestaltet die FAZ aus der Sache. Sie beklagt online die staatlich deutsche Reaktion (Oliver Georgi bei faz.net): "Das Schweigen aus dem Kanzleramt und dem Außenministerium ist nicht nur fatal, es ist verheerend. Zu Recht sehen die Kritiker des EU-Türkei-Abkommens in der Flüchtlingskrise jetzt ihre schlimmsten Befürchtungen wahr werden ..." und zitiert gedruckt nicht nur ganz vorne auf dem Blatt die Verlautbarung aus dem Auswärtigen Amt, wonach Botschafter "Erdmann am Dienstag in einem Gespräch im türkischen Außenministerium darauf hingewiesen [habe], 'dass Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz und der Schutz grundlegender Freiheiten, einschließlich der Presse- und Meinungsfreiheit, hohe Güter seien, die gemeinsam geschützt werden müssten'", sondern porträtiert diesen Martin Erdmann weiter hinten im Blatt (S. 8) als einen, der "erfahren im Umgang mit Medien" ist. Und versichert, dass im Auswärtigen Amt nur "nach außen eine ausgeprägte Kultur der Zurückhaltung gepflegt wird, obwohl deutsche Interessen hinter den Kulissen selbstredend robust vertreten werden."

Welche Interessen das zurzeit sind und sein sollten, würde dieselbe Schleife wieder von vorne beginnen lassen, daher in die Medienmedien-Nische.

[+++] Was bei all dem keinesfalls vergessen werden darf:

"dass man in der Türkei für einen solchen Beitrag wahrscheinlich im Gefängnis landen würde. Für deutsche Verhältnisse ist er harmlos".

Ein Klick zu den Reportern ohne Grenzen, die die überhaupt nicht lustige Entwicklung in Erdogans Staat kontinuierlich verfolgen, gehört in jedem Fall dazu.

Das Zitat formulierte mit Recht "Extra 3"-Moderator Christian Ehring im SPON-Interview, in dem er zugleich dem Erstvermelder dankt ("Ich habe es gestern Abend auf Spiegel Online gelesen. Da ist mir die Kinnlade runtergefallen") und sich mit Rudi Carrell vergleicht, was er womöglich aber auch irgendwo gelesen hat, zum Beispiel bei welt.de oder im Tagesspiegel, und dann auch wiederum Erdogan zu verdanken hätte, dem der Vergleich mit Carrells Sparringspartner von 1987 vor allem gilt.

Hätte Ehring übrigens faz.net gelesen, hätte er sich mittelbar sogar mit Loriot vergleichen können (Julia Bähr: "Gerade gegenseitiges Nichtverstehen birgt ja großes komisches Potential, etwa zwei Drittel von Loriots Oeuvre basieren darauf").

Was auch noch zur medienmedialen Aufbereitung des Themas gehört: Erstens beweihräuchert sich der NDR natürlich routiniert selbst. Fernseh-Chefredakteur Andreas Cichowicz ist gerne behilflich. Und "Zapp" läuft heute abend zwar nicht (auf "Extra 3" folgt für harte Satire-Comedy/ Klamauk-Fans noch eine Stunde "NDR Comedy Contest"), sondern erst nächste Woche wieder, hat aber fürs Internet schon mal den grundseriösen "Extra 3"-Redaktionsleiter interviewt ("Wir arbeiten journalistisch").

Zweitens der DJV. Der Chef der Journalistengewerkschaft, Frank Überall, wird in circa mehr als der Hälfte aller Aufbereitungen des Themas zitiert und findet somit eine Resonanz, von der Vorgänger Michael Konken kaum zu träumen gewagt hätte. Das liegt gewiss vor allem daran, dass Überall früh eine Menge gewohnt kraftvoller Formulierungen ("Bodenhaftung verloren", "in den Senkel" Stellen, "ins Schwarze getroffen") zur Verfügung stellte. Es gehört eben zu den Pflichten einer deutschen Journalistengewerkschaft, immer die offensten Türen einzurennen.

Überdies bezeichnet Überall Präsident Erdogan aber auch als "Machthaber" - und hat einen separaten Kommentar verfasst, der nicht nur den gern aufgegriffenen Barbra-Streisand-Spin initiierte, sondern auch mit "Humorfreiheit!" als "adäquaten Ersatz für die leidige Presse- und Meinungsfreiheit" den vielleicht sogar feinsten Wortwitz zum Thema enthält.


Altpapierkorb

+++ "Schon sehr mutig vom deutschen Fernsehen" findet der Tagesspiegel auch noch was anderes: die heute um 20.15 Uhr startende Fernsehspielfilm-Trilogie "Mitten in Deutschland: NSU", und zwar aus juristischen Gründen. Inhaltlich-formal ganz großes Lob gibt's vom Holtzbrinck-Blatt aber ebenfalls ("Das gesamte ARD-Projekt hat um die zehn Millionen Euro verschlungen. Ist es das wert? Unbedingt! Alle drei Filme zeigen auf überragende Weise, was Fernsehen zu leisten vermag"), ebenso wie von Michael Hanfeld vorne auf dem FAZ-Feuilleton ("... bringt Licht in diese Finsternis"/ "Vielleicht erkennen wir das Land nicht mehr. Wahrscheinlich erkennen wir es aber besser als vorher"). +++ Siehe auch hier nebenan sowie tittelbach.tv. +++

+++ "Die Optimisten aus Münster", die perspective-daily.de betreiben, haben dafür "gut eine halbe Million Euro gesammelt". Sie "beziehen sich wie das letzte mit ähnlich großem Hallo gestartete Medienprojekt Krautreporter ausdrücklich auf decorrespondent.nl aus den Niederlanden", informiert die Süddeutsche. +++

+++ Ein CDU-Abgeordneter fragte: "Werden wir in Thüringen eine Einheitszeitung haben?", einer von der Linken sprach von "Einheitsbrei aus einem Topf", und einer von der AfD von "Lückenpresse" (was im Lokalen tatsächlich zum Konsens-Begriff werden könnte), empfahl dann allerdings die Junge Freiheit ...: Da berichtet kress.de von einer Aktuellen Stunde im Thüringer Landtag zu dem, was die Funkes "Zukunftsprogramm" nennen (Altpapier). +++

+++ Im Herbst wird der "Tatort" tausend Folgen alt, und allmählich laufen sich die Medienressort-Macher warm. "Rettet den 'Tatort'", ruft der Tagesspiegel Heike Makatschs wegen aus. +++ ... und steigt Til Schweigers wegen (der mit seinem zweiten Fernseh-"Tatort" zumindest Makatsch davor rettete, im wenigst gesehenen des Jahres mitgespielt zu haben, mit seinem Kino-"Tatort" aber noch viel erfolgloser war) in den deutschen Kinofilm-Subventionssumpf: "Der NDR-Sprecher dementierte, dass das teure Tschiller-Engagement die Produktion anderer Fiktion beeinflussen würde. In der Produzentenbranche hält sich die Behauptung, dass der NDR sich nicht nur bei der Anzahl der 'Polizeirufe 110' aus Rostock mit Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner zurückhalten muss". +++ Die FAZ bringt nahezu ganzseitig ein von Jörg Seewald geführtes Interview mit den zumindest äußerlich ergrautesteten Kommissardarstellern Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl ("Wie halten Sie es mit den neuen Medien, chatten Sie zum 'Tatort'?" - ... Wachtveitl: "Ich verstehe die Idee eines Parallelchats nicht. Auf welchen Bildschirm soll man denn nun schauen? Da kannibalisieren sich doch zwei Angebote, zwei Aufmerksamkeiten.") +++

+++ Große Aufmerksamkeit der SZ-Medienseite für die "neue Optik" der "alteingesessenen, aber stets etwas biederen Formate 'Rundschau', 'Rundschau-Magazin' und 'Rundschau Nacht'" im Bayerischen Dritten Programm. Fürs Foto haben sich viele Moderatoren so hinter das "futuristisch geschwungene Pult aus Holz und farbig leuchtendem Plexiglas" gestellt, dass es arg eng aussieht. +++

+++ Die gedruckte SZ wird teurer (dnv-online.net). +++

+++ Über Medienfreiheit in Birma (auf der ROG-Rangliste fünf Plätze vor der Türkei) berichtet die TAZ. +++

+++ Auf die "Politik in Brüssel und Berlin" schimpft aus ganz anderen Gründen der Konzerngeschäftsleiter der Bauer Media Group, Andreas Schoo, via meedia.de. Es geht um Konsequenzen eines im letzten Oktober ergangenen EuGH-Urteils zu einem österreichischen Streitfall, dessen Auswirkungen auf "audiovisuelle Mediendienste" der deutschen "Verlagslandschaft massiven Schaden zufügen" könnten. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

 

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