Die Nüchternheit von Bürokraten und die Aufregung in den Medien

Die Nüchternheit von Bürokraten und die Aufregung in den Medien
Heute wird es in den Medien um eine Zahl gehen, wenn uns nicht noch der Himmel auf den Kopf fallen sollte. Außerdem über die Bedeutung des Lokaljournalismus und die neue Eigentlichkeit bei VW.

Was die Medien am heutigen Tag beschäftigen wird? Eine Zahl. Die Bild berichtet von einem internen Behördenpapier, das in allen anderen Medienportalen sofort aufgenommen worden ist. So heißt es etwa bei bei n-tv:

"Deutsche Behörden rechnen laut "Bild"-Zeitung inzwischen mit deutlich mehr Flüchtlingen in diesem Jahr als bisher vorausgesagt. Unter Berufung auf eine als vertraulich eingestufte interne Prognose heißt es, Behörden gingen davon aus, dass zwischen Oktober und Dezember bis zu 920.000 weitere Asylbewerber nach Deutschland kämen. Damit würde die Zahl der Flüchtlinge in diesem Jahr auf bis zu 1,5 Millionen steigen. Bislang geht die Bundesregierung offiziell von 800.000 bis zu einer Million Flüchtlinge in diesem Jahr aus. Welche Behörden genau diese neue interne Prognose abgaben, wird in dem "Bild"-Bericht nicht ausgeführt."

Diese Meldung ist interessant, aber nicht wegen des Inhalts. Sie fasst lediglich zusammen, was längst bekannt ist. Es handelt sich lediglich um eine Hochrechnung der gegenwärtigen Zugangszahlen in das Bundesgebiet. Deutsche Behörden können somit rechnen. Eine Rechnung, die aber jeder Journalist schon längst selbst hätte anstellen können. Der Sachverhalt an sich ist somit keine Meldung. Es ist keine besondere Kunst einen Taschenrechner zu benutzen, um die verbliebenen Tage des Jahres mit den ankommenden Flüchtlingen pro Tag zu multiplizieren. Warum dann diese Aufregung in den Medien über die Zahl? Sie findet sich in zwei Worten: „Deutsche Behörden“.

Dort ist nämlich nicht das wichtig, was jeder schon weiß. Wenn eine Behörde etwas nicht wissen will, selbst wenn das jeder schon weiß, erzeugt das keinen Handlungsbedarf. Dieses Wissen in Behörden herzustellen, ist häufig die Aufgabe eines kritischen Journalismus. Er berichtet über Missstände, stellt Anfragen an die zuständigen Stellen und bekommt wachsweiche Antworten, die nur ein Ziel haben: Dass die Behörde nicht wissen muss, was offenkundig ist. Denn wenn sie etwas wüsste, müsste sie handeln und diesen Mißstand abstellen. Genau darum geht es jetzt in diesem von der Bild zitierten „internen Papier“ namenloser Behörden. Es erzeugt Handlungsdruck auf die Politik. Die zuständigen Bürokraten haben ihr über diesen Vermerk die drohende Handlungsunfähigkeit mitgeteilt. Das ist eben anders zu beurteilen als das, was etwa schwadronierende Unterhaltungskünstler in der Talkshow von Günther Jauch gestern Abend mitzuteilen hatten.

Deshalb die Aufregung in den Medien. Wobei nicht sicher ist, ob sie wirklich die Logik dieser bürokratischen Staatsroutine verstanden haben, die jetzt die Aufregung verursacht. Die Bürokraten aus diesen „deutschen Behörden“ werden sogar noch weiter funktionieren, wenn in wenigen Wochen nichts mehr funktionieren sollte. Die Verwaltung übersteht sogar die Dysfunktionalität ihres eigenen Tuns, selbst wenn sie nicht mehr das schaffen sollte, was die Politik von ihr verlangt. Ob es auch diese Gesellschaft übersteht, ist nicht mehr in ihrem Zuständigkeitsbereich. Aber dafür wird uns Herbert Grönemeyer ein Ständchen bringen können: „Kinder an der Macht.“ Die wissen nichts von den Funktionsbedingungen des modernen Staates und seiner Bürokratie. Das ist allerdings bei Grönemeyer auch nicht der Fall.

+++ Im Gegensatz zu den Medien ist das Kennzeichen der Bürokratie die Nüchternheit ihrer Sprache. Das in dieser Gesellschaft alles dominierende Mitgefühl hat in Behördenvermerken keinen Platz, weil sie sich einzig an das Gesetz zu orientieren haben. Dieses Abstraktionsvermögen ist geradezu das Wesen des modernen Staates. Medien orientieren sich dagegen an Schicksalen. Ist die genannte Zahl jetzt schon Panik? Johannes Pennekamp und Gerald Braunberger haben sich in der FAZ angesichts des VW-Skandals mit der Logik der heutigen Öffentlichkeit beschäftigt:

„Die Menschen sind verrückt nach Nachrichten und Trends, auf die sie aufspringen können. Die Halbwertzeit scheint nachrangig. Alles wird dabei immer emotionaler, wenn zwei Behauptungen nicht zueinander passen, ist das den Leuten nicht mehr so wichtig, sagen Forscher. Der innere Widerspruch wird salonfähig.“

In einer hysterisch schwankenden Öffentlichkeit plädieren die Autoren für Nüchternheit und bringen dafür ein interessantes Beispiel.

„Mit jeder impulsiven Aufwallung wächst die Sehnsucht, auf die Bremse zu treten und die Dinge etwas nüchterner zu betrachten. Bei VW, in der Flüchtlingsdebatte und überhaupt. Erst die Vernunft, erst die Fakten – dann womöglich die Erregung. VW wird weiter beben, die Flüchtlinge werden weiter kommen, aber die Welt wird sich weiterdrehen. Vielleicht hilft ein Blick in den Sternhimmel. Irgendwo da draußen schwirrt der Asteroid Sophrosyne.“

Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 waren übrigens die meisten deutschen Beamten wieder zum Dienst erschienen. Die Welt drehte sich weiter. Es gibt halt nichts Nüchterneres als Bürokraten.

+++ Das ist von Medien nicht zu erwarten. Das Abdrucken von Vermerken ist schließlich nicht das, was die Leser erwarten. Dazu gehören sogar die Bürokraten selbst. Sie sind schließlich auch nur Menschen mit Gefühlen und positiven Erwartungen an ihr Leben. Das Mindener Tageblatt hat jetzt ihre redaktionellen Grundsätze formuliert, um die Berichterstattung über die Flüchtlingskrise transparent zu machen.

„Längst sind die Flüchtlinge auch in unseren Städten und Gemeinden angekommen – und damit im Lokalteil. Das stellt uns vor zusätzliche Herausforderungen. Wir kämpfen mit behördlichen Restriktionen bei der Berichterstattung (die wir auch offenlegen), wir planen, diskutieren und hinterfragen unser journalistisches Tun. Im Zuge dessen ist jetzt in der Lokalredaktion – neben organisationspraktischen und planerischen Dokumenten – ein Grundsatzpapier entstanden, an dem wir unsere Arbeit ausrichten wollen. Wir legen es bewusst offen, um auch den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit zu geben, unsere Arbeit daran zu messen.“

Dieser lesenswerte Text dokumentiert die Bedeutung des Lokaljournalismus. Vor Ort entscheidet sich die Akzeptanz der Flüchtlinge in dieser Gesellschaft. Das kann nicht in Berlin oder den Landeshauptstädten per Gesetz verordnet werden. Aber zugleich wird damit auch deutlich, was vor Ort nicht geleistet werden kann. Darüber zu entscheiden, wie viele Flüchtlinge aufgenommen werden sollen. Zugleich kann man diese Frage nicht durch den Verweis auf Einzelschicksale beantworten. Es ist dieser kategorialer Unterschied, den viele Medien in den vergangenen Wochen ignoriert haben. Er fällt ihnen jetzt vor die Füße.

+++ VW sucht bekanntlich nicht nur nach den Verantwortlichen für ihren manipulierten Dieselmotor. Sie brauchen zugleich eine Medienstrategie. Zum Tag der deutschen Einheit haben sie daher eine Anzeige geschaltet, die mit einem Wort zusammenzufassen ist. Eigentlich hätte der Konzern gerne über etwas anderes geschrieben. Interessant ist aber der letzte Satz in dieser Anzeige.

„Wir werden alles tun, um euer Vertrauen zurückzugewinnen.“

Warum VW das vertrauliche „euer“ benutzt hat, erstaunte schon den Leser. Aber Horizont versucht eine überraschende Erklärung, die genauso rätselhaft ist.

„Das Wolfsburger Unternehmen will nicht den Eindruck eines Partygängers erwecken. VW geht es gerade um etwas anderes: "Wir werden alles tun, um Ihr Vertrauen zurückzugewinnen." Dieser Satz gibt die Strategie für die kommenden Wochen vor.“

Warum VW nicht den Eindruck eines Partygängers erwecken will, wenn es genauso diesen Eindruck erzeugt, ist aber ein Rätsel. Die vertrauliche Ansprache erfüllt einen anderen Zweck. Sie soll die Identifikation mit dem Konzern ermöglichen. Gilt er doch bis heute als das Sinnbild für das „Wirtschaftswunder“. Der Käfer läuft. Und läuft. Diese Werbung wurde nach dem Krieg zum Sinnbild des deutschen Wiederaufstiegs. VW wird weiterlaufen. Das soll damit ausgedrückt werden. Hoffentlich nicht zu Fuß. Ansonsten hilft wirklich nur noch der Blick in den Sternenhimmel.


Altpapierkorb

+++ Stefan Niggemeier hat mich gerade darauf aufmerksam gemacht, dass in den Printausgaben von ihr Vertrauen die Rede war. In der social media Version nur von dem vertraulichen "euch". Man nimmt offensichtlich auf die Demographie der Leserschaft Rücksicht.

+++ Das Urteil gegen die Bild wegen der Berichterstattung im Prozess gegen Jörg Kachelmann wurde im Altpapier schon ausführlich gewürdigt. Jetzt hat Oliver Tolmein noch einen Aspekt erwähnt, der über die Bedeutung für die Medienbranche hinausreicht. „Dass die oftmals prominenten Opfer von Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch die Medien auf verschiedenen Ebenen durchweg großzügiger entschädigt werden als diejenigen, deren körperliche Integrität beeinträchtigt wurde, ist bereits öfter beklagt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich vor fünfzehn Jahren eingehend mit dem Thema befasst und dabei festgestellt, dass es für die Ungleichbehandlung sachliche Gründe gebe. Im Fall Kachelmann: Die Höhe der Entschädigung soll die Presse abschrecken.“ Die Frage ist allerdings, warum die Abschreckung der Presse wichtiger sein soll als grob fahrlässiges oder sogar vorsätzliches Handeln auf anderen Gebieten?

+++ Nun ist der Journalismus nur noch ein Teil dessen, was wir Medien nennen. Was dort zu finden ist, hat Timo Lokoschat in der Abendzeitung aufgelistet. Etwa Bilder von einer Müllkippe aus Ungarn, die in sozialen Netzwerken als Beleg für die Zustände in Flüchtlingsunterkünften genutzt werden. Die Menschen sind darauf angewiesen, ihre Vorstellung von Wirklichkeit den Medien zu entnehmen. Die Neigung, dort lediglich die eigenen Annahmen bestätigen zu wollen, gab es dabei schon immer. Das Problem fängt in dem Moment an, wenn das Abstraktionsvermögen auf der Stecke bleibt. Denn selbst Geschichten, die wahr sind, können zu falschen Schlussfolgerungen führen.

+++ Das betrifft vor allem Versuche, Authentizität herzustellen. Etwa wenn der Bild-Reporter Paul Ronzheimer live und in Farbe aus einem Flüchtlingsboot berichtet. Kann man davon gar nicht genug berichten? In Wirklichkeit macht Ronzheimer nichts anderes als in den sozialen Netzwerken jeden Tag zu erleben ist. Etwa wenn dort über negative Erfahrungen mit Flüchtlingen erzählt wird. Die Authentizität ist das Wahrnehmungsverhalten von Kindern. Aus ihren Erfahrungen ziehen sie Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Diesen Umkehrschluss nicht zu machen, versucht man Kindern in der Schule beizubringen.

+++ Heute ist der türkische Präsident Erdogan in Brüssel zu Besuch. Die EU erhofft sich von ihm die Lösung der Probleme, die „deutsche Behörden“ thematisiert haben. Selektive Wahrnehmung über die Verhältnisse in der Türkei wird auch diesen Besuch bestimmen. Politik funktioniert in der Hinsicht genauso wie die Bürokratie. Die Aufgabe der Medien ist die des Korrektivs. Deniz Yücel berichtet in der Welt von der desolaten Lage türkischer Journalisten. „Ahmet Hakan ist der populärste Journalist der Türkei. Er hat eine Kolumne in der "Hürriyet", moderiert bei CNN Türk. Jetzt wurde er vor seinem Haus zusammengeschlagen." Das Ziel von Angriffen der rechten Szene sind auch Journalisten in Sachsen.

+++ Über die mögliche Dysfunktionalität der Bürokratie haben wir schon berichtet. Über die Dysfunktionalität von Medien geht es im Deutschlandfunk. Dort hatte ein russischer Sender eine erfundene Geschichte über einen angeblich betrunkenen ukrainischen Präsidenten in die Welt gesetzt, der angeblich eine Passagiermaschine nach Moskau betreten wollte. Dafür berief er sich auf den WDR. Zu dem Thema passt auch dieses Projekt der Universität Passau. Es beschäftigte sich mit der Pressefreiheit und der Situation in Russland.

+++ Nun sind russische Medien sicherlich nicht das, was wir unter offener Kommunikation verstehen. Aber dafür erinnerte uns ein ehemaliger BND-Präsident bei heise online an deren Tücken: „Dass die NSA zum Teil und vor allem zur Bekämpfung illegaler Waffengeschäfte deutsche Ziele ausgespäht habe, "ist bekannt". "Sie müssen damit rechnen, wenn Sie offen kommunizieren, dass Dienste das abhören", auch außerhalb von Krisenregionen. Die deutsche Sicherheitskultur sei aber leider auf einem niedrigen Stand, es würden viel zu viele Sachen auch auf politischer Ebene unverschlüsselt ausgetauscht.“ Leider geht es dabei nicht nur um die Leute, die illegale Waffengeschäfte abwickeln.

+++ Datenhehlerei könnte man zwar auch dem BND im Verhältnis zur NSA vorwerfen. Aber das abzustellen, ist bestimmt nicht der Sinn eines Gesetzentwurfes aus dem Bundesjustizministerium. Die Süddeutsche Zeitung erläutert uns den Sinn: „Es geht um einen Paragrafen gegen "Datenhehlerei. Dieser birgt erheblichen rechtspolitischen Sprengstoff, ist aber so gut versteckt, dass eine Explosion leider unwahrscheinlich erscheint. Denn Justizminister Heiko Maas (SPD) legt mit der "Datenhehlerei" ein Gesetz vor, das nicht nur unsinnig ist, sondern auch unvorhersehbare Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche hätte, in denen der Umgang mit Daten eine Rolle spielt - ganz besonders auch auf den investigativen Journalismus. Da drängt sich ein Verdacht auf: Soll das Versteck im großen Vorratsdatenspeicherungspaket etwa verhindern, dass die Parlamentarier mitbekommen, was sie mit der "Datenhehlerei" eigentlich ins Strafgesetzbuch schreiben würden?"

+++ Weniger offen, aber dafür sehr generös ging LinkedIn dafür mit den Daten seiner Nutzer um. Die fehlende Generosität beklagt dafür die neue WDR-Hörfunkdirektorin Valerie Weber bei der Ausgestaltung der Rundfunkgebühren. Der Bayerische Rundfunk hat wohl auch diesen Eindruck. „Wie andere Sender es auch schon getan haben, wird der BR seine Strukturen effizienter gestalten müssen“, sagte eine Sendersprecherin am Freitag der Deutschen Presse-Agentur in München. Die Sprecherin betonte, dass es keine Entlassungen geben werde. „Der Abbau soll sozialverträglich und in enger Abstimmung mit dem Personalrat erreicht werden.“

+++ Was jetzt nicht mehr fehlt? Die Nöte eines Zeitungskunden. Und ein Vorschlag, wie diese behoben werden können.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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