Kanzlerin ohne Stahlhelm

Kanzlerin ohne Stahlhelm
An Krisen herrscht in der Weltpolitik kein Mangel. An Pickelhauben auch nicht. Es fehlt allerdings der Stahlhelm für die Kanzlerin. Dafür erinnert man seltsamerweise an einen 17jährigen Leimener. Warum eigentlich das alles?

Welche Themen im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen, ist nicht immer einfach nachzuvollziehen. So schien gestern der Sieg eines 17jährigen in Wimbledon vor 30 Jahren viele Redaktionen zu besonderen journalistischen Leistungen zu motivieren. Jeder gedachte an den jungen Boris Becker. Was aber nicht nachvollziehbar gewesen ist: Für Jubiläen gilt eigentlich immer noch die Regel, sich an den bekannten Rhythmus von 25 Jahren zu halten. Insofern hätte man schon vor fünf Jahren über Beckers Wimbledon-Triumph berichten müssen und danach wieder im Jahr 2035. Welches Paar feiert auch schon seinen 30. Hochzeitstag? Es ist somit ein Rätsel, warum plötzlich dieser 30. Jahrestag als Anlass gedient hat, so ausführlich an diesen 07.07.1985 zu erinnern.

Eine rationale Erklärung ist wohl nur in der Altersstruktur der Redaktionen zu finden. Dort sitzt mittlerweile die Generation der Baby-Boomer in den führenden Positionen und die wollen weniger an Boris Becker als sich selbst an die eigene Jugend erinnern. Wie nicht nur Boris Becker, sondern auch sie selber jung gewesen sind. Diese Sentimentalität entspricht den Bedürfnissen der Medien-Konsumenten, die den gleichen Emotionen unterliegen wie Journalisten. Entsprechend werden solche Artikel gerne gelesen. Zudem sind Gedenktage in den vergangenen Jahrzehnten zu einem effektiven Mittel des Event-Marketing und der PR geworden. Jeder, der etwas zu sagen hat, verbindet das am besten mit einem Gedenktag. So kann man das aktuelle Anliegen mit der Patina historischer Reflektiertheit und eigener Selbstvergewisserung verbinden.

Die Medien springen auf solche Aktionen an, weil sie für ihre Berichterstattung vor allem den besonderen Anlass brauchen, der mit dem altertümlichen Kriterium journalistischer Relevanz rein gar nichts mehr zu tun hat. Deshalb haben wir neben der Gedenktagflut noch den Tsunami an Aktionstagen, der die Medien täglich überschwemmt. Heute ist übrigens der christliche Kilianstag, der aber weitgehend von den Medien ignoriert wird. Die heutigen Gedenkkultur ist ein modernes Phänomen, wo alte Traditionen schon längst wie alles Ständische verdampft sind, um einmal die Autoren des „Kommunistischen Manifests“ zu paraphrasieren. Es ist die Logik der berühmten Katzenfotos, weshalb Boris Becker gestern zum Thema werden konnte, trotz völliger journalistischer Irrelevanz.

+++ Deshalb war gestern auch der Tag der Pickelhaube. Die Bild setzte sie der Kanzlerin vor dem Brüsseler Griechenland-Gipfeln auf und verlangte nach der eisernen Kanzlerin. Nun ist Angela Merkel nicht Otto von Bismarck und hinterlässt eine Frau im Hosenanzug mit Pickelhaube einen ästhetisch eher widersprüchlichen Eindruck. Es fehlt eigentlich nur noch das Monokel. Aber die Empörung über das Boulevardblatt, das immer wieder überraschend mit den Mitteln des Boulevard operiert, sicherte Bild-Chefredakteur Kai Diekmann die gewünschte Aufmerksamkeit. Dabei ist die Pickelhaube spätestens in der Weimarer Republik zum Symbol für Preußens Borniertheit geworden. Man denkt dann eher an den Simplicissimus als an die Ölschinken mit Bismarck Portraits.

Nur deshalb traut sich auch Diekmann an die Kanzlerin mit Pickelhaube. Letztere wurde nämlich im Ersten Weltkrieg durch den berühmten Stahlhelm M1916 ersetzt. Die Kanzlerin mit Stahlhelm ist aber auch für die Bild ein absolutes Tabu. Sie geriete damit in eine historische Kontinuität, die nicht satirisch verfremdet worden ist, wie die Pickelhaube – und ihre Nutzlosigkeit im Krieg unter Beweis gestellt hatte. Daher ist dieser Titel durchaus ein Symbol: Nämlich was sich die Bild traut – und was nicht. Die Pickelhaube ist ohne jede symbolische Kraft. Das auch nicht erst seit gestern. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der rechte Veteranenverband mit guten Gründen eben nicht „Pickelhaube“, sondern „Stahlhelm“ genannt. Die wussten, warum. Aber historische Grundkenntnisse müssen im Zeitalter der Empörung trotz der zahllosen Gedenktage bekanntlich keine Rolle mehr spielen.

+++ Auch in den kommenden Tagen wird Griechenland die Berichterstattung in den Medien dominieren. Dafür gibt es gute Gründe, trotz der Wiener Gespräche mit dem Iran oder den Kollaps der Aktienmärkte in China. Nur welche Gründe sind das eigentlich? Man kann hier die Gehversuche einer europäischen Öffentlichkeit erkennen, trotz nationaler Stereotypen wie mit der Pickelhaube. Es fehlt in keinem journalistischen Beitrag der Hinweis auf die desaströsen sozialen Bedingungen in Griechenland und die Verantwortung der Europäer für das, was dort passiert. Das gilt unabhängig von der Frage, wie man die Krise ökonomisch und politisch beurteilt. Griechenland geht uns halt mehr an als die Ereignisse in China oder im Iran. Darin kann man das Positive in dieser Krise finden. Es wird allerdings spannend zu sehen sein, wann die Medien die Bedeutung des Börsenkollaps in China zur Kenntnis nehmen werden.

Im Gegensatz zu allen anderen Eurostaaten (auch Griechenland) hat die deutsche Exportwirtschaft vom Boom in China besonders profitiert. Die chinesischen Käufer hochwertiger deutscher Konsumgüter waren nämlich auch die Profiteure der Aktienblase in China. Sie verlieren jetzt einen Teil ihres Vermögens, womit auch die Nachfrage nach deutschen Produkten in China einbrechen könnte. Das könnte den Realitätssinn in jenem Teil der deutschen Medien befördern, die den wirtschaftlichen Erfolg der deutschen Volkswirtschaft immer noch mit dem Nationalcharakter der Deutschen verwechseln. Dazu gehört das Blatt mit der Pickelhaube auf dem Titel.

+++ Nationale Öffentlichkeiten zeichneten sich immer durch die Erwartung gemeinsamer Verantwortung aus. Für alles, was dort politisch entschieden wird, haben alle die Konsequenzen zu tragen. Deshalb auch die berechtigte Aufregung über die Ereignisse im sächsischen Freital, wo ein Konflikt über eine Flüchtlingsunterkunft zu einem Machtkampf über die Gültigkeit politischer Entscheidungen geworden ist. Wenn sich dort die Gegner dieser Unterkunft politisch durchsetzen, steht die Autorität der Politik auf dem Spiel. Die Aufnahme von Flüchtlinge wäre dann nicht mehr die Entscheidung demokratisch legitimierter Institutionen, sondern der Willkür von Bürgerbewegungen ausgeliefert, die in diesem Fall allerdings wie ein Mob auftreten. Für die Medien heißt das aber nicht allein die Legitimation dieses Protests zu diskutieren, sondern wie in einer parlamentarischen Demokratie Entscheidungen getroffen werden sollen. Ansonsten wird die Berichterstattung zum Gesinnungstest.

+++ Über die wohl noch vor allem diskutierte Fusion des Springer-Verlags mit der Pro7Sat1-Gruppe wurde schon gestern im Altpapier berichtet. Jetzt hat der Springer-Verlag aber ohne Pickelhaube die Umbenennung von N-24 in Welt angekündigt. In einem Interview mit Meedia hat Chefredakteur Jan-Eric Peters den Hintergrund erläutert. Selbstredend kann man dem Springer-Verlag eines nicht unterstellen: Sich nicht offensiv der Dynamik der Digitalisierung zu stellen. Im Vergleich dazu wirken andere Verlage tatsächlich so als wenn sie heute an den Kilianstag erinnern würden. Peters beschreibt eindringlich die Logik der Digitalisierung:

„Wenn man Digital richtig macht, hat man auch alle Elemente, die eine gute Tageszeitung braucht. Digital ist ja keineswegs ein Medium nur für flüchtige Stoffe. Gute Geschichten funktionieren in jedem Kanal, auch lange und komplexe, diese Erfahrung machen wir jeden Tag. Es geht darum, dass man die jeweilige Leserschaft und deren Bedürfnisse genau kennt, um die relevanten Inhalte auszuwählen, in Print wie online. Das Schöne für Journalisten ist, dass uns das Internet die Chance gibt, unsere Geschichten so zu erzählen, wie man sie am besten erzählt, also gegebenenfalls auch in bewegten Bildern oder mit interaktiven Grafiken. Das Digitalzeitalter ist für Journalisten ein goldenes Zeitalter, was unsere Möglichkeiten angeht.“

Jetzt wissen wir auch, warum Boris Becker gestern so ein großes Thema gewesen ist. Offensichtlich kennt nicht nur Peters die Bedürfnisse der jeweiligen Leserschaft genau genug, um relevante Inhalte auszuwählen. Wahrscheinlich sind mit dem Ständischen auch schon journalistische Kriterien verdampft. Insofern ist man wahrscheinlich ein Reaktionär, auf diese weiter zu beharren. Es fehlte dann wirklich nur noch die Pickelhaube als historische Reminiszens. Zu mehr brauchen wir die Geschichte auch nicht mehr.


Altpapierkorb

+++ Richard Gutjahr ist pessimistisch. Allerdings nicht bei Axel Springer. Im Branchenblatt Horizont hat er sich dazu geäußert. „Wenn ich 10.000 Euro auf einen Verlag setzen müsste, wäre das Axel Springer. Eine tägliche „Bild“-Nachrichtensendung zu produzieren, die auf das Handy zugeschnitten ist, also Filme im Hochkant-Format zeigt, ist genau das, was man jetzt machen muss. Axel Springer ist ein positives Beispiel dafür, wie es geht, wenn man sich rechtzeitig digital aufstellt, von Altlasten trennt, aber alte Institutionen wie „Bild“ oder „Welt“ behält, diese sogar weiterentwickelt, aus- und umbaut“. Was seiner Ansicht nach in Zukunft den Journalismus ausmacht? Namen. Sie „waren schon immer Vehikel, um Menschen abstrakte Dinge nahe zu bringen. Deshalb verstehe ich nicht, warum Verlage oder Sender im Netz immer abstrakte Logos nach vorne bringen wollen und nicht ihre Autoren. Namenlose Journalisten sind derzeit im Grunde genommen so etwas wie die Landwirte zu Beginn der Industrialisierung. Es wird weniger von uns geben. Jeff Jarvis sagt, dass unser Businesskern nicht Content, sondern Beziehungen ist, und das erlebe ich immer mehr. Wenn es etwas gibt, was uns gegen Big Data hilft, dann sind das anfassbare Journalisten und keine Menschen, die sich hinter ihrem Schreibtisch und einem Firmenlogo verstecken.“

+++ Am Freitag, gewissermaßen zwischen zwei Krisengipfeln in Brüssel, wird der YouTuber Lefloid die Kanzlerin interviewen. Der Hashtag ist #NetzFragtMerkel. Nun ist das jetzt schon ein Thema bevor das Interview überhaupt stattgefunden hat. Die Vorfreude auf die Sommerinterviews in ARD und ZDF mit der Kanzlerin halten sich demgegenüber in engen Grenzen. Hier wird der Medienwandel praktisch. So wie von Gutjahr beschrieben, handelt es sich bei Florian Mundt nicht um einen namenlosen Journalisten, der einfach nur sein Handwerk beherrscht. Mundt ist kein Journalist, sondern ein Entertainer, der sich unter anderem mit Politik beschäftigt. Für die Kanzlerin ist er ein interessantes Event, weil die Bundeskanzlerin in diesem Netz von Mundt wie er als eine Art Unterhaltungskünstlerin betrachtet wird. Nicht ihre Politik steht im Vordergrund, sondern ihre Funktion. Die ist aber von Inhalten weitgehend unabhängig. Dann kann man sie alles Mögliche fragen, das nur mit einem nichts zu haben muss: Mit der politischen Meinungsbildung. Das ist auch der Grund, warum die Bundeskanzlerin einer journalistischen Nervensäge wie Tilo Jung ausweicht. Das liegt keineswegs nur an der geringeren Reichweite seines Formats. Ihr droht dort das, was sie unter allen Umständen verhindern will: Auf den politischen Punkt gebracht zu werden. Deshalb hält sich die Vorfreude auf die Sommerinterviews der Kanzlerin in ARD und ZDF auch in den beschriebenen engen Grenzen. An der Bundeskanzlerin findet das journalistische Handwerk seine Meisterin.

+++ Jenseits der Fusionsgespräche mit Springer setzt Sat1 wieder auf „journalistische Relevanz“. Das lesen wir bei turi.

+++ Außerdem hatte Jan Böhmermann gestern auf Facebook ein Problem mit Dieter Nuhr. Er wurde irgendwie gelöscht, wenn wir auch nicht so genau verstanden haben, worum es dort eigentlich geht. Aber immerhin war es nicht Giannis Varoufakis. Da sind wir uns sicher.

+++ Außerdem fehlen heute noch zwei Gedenktage. Einer betrifft die Leibesübungen in der Rubrik Fußball. Vor einem Jahr besiegte Deutschland im WM-Halbfinale Brasilien mit 7:1. Der andere die KEF. Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten wird 40 Jahre alt. Vermutlich wird aber der Artikel aus den Leibesübungen mehr Zuspruch finden als der über die Bedürfnisse der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Wer übrigens weitere Gedenktage im Angebot hat, kann das auf Twitter unter #Gedenktag tun.

+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Die Erinnerung ohne Gedenktag an die Fußball-WM von 1990. Wir sind Weltmeister!

+++ Wir haben jetzt auch via Meedia verstanden, worum es beim Konflikt Nuhr gegen Böhmermann gegangen ist. Wie erwartet, hat Varoufakis damit nichts zu tun.

Das Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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