Flugzeugabsturz-Echtzeitjournalismus

Flugzeugabsturz-Echtzeitjournalismus
Sehr viele öffentlich-rechtliche Korrespondenten, die Maischberger-Talkshow, das Privatfernsehen, die legendäre Seite drei und natürlich die "sozialen Kanäle" hatten am Dienstag nur ein Thema ...

ARD Online gestern:

"IN EIGENER SACHE: Liebe Nutzer, in den sozialen Kanälen von @ARDde wird es kein „Best Of Flugzeugabstürze“ geben und wir werden keine ..."

Bei Facebook, wo der Post noch weiter geht (schließlich gilt dort keine Begrenzung auf 140 Zeichen), folgte unten drunter die übliche Akklamation, derentwegen Facebook für Mark Zuckerberg & Co auch als milliardenschweres Geschäftsmodell funktioniert.

Bei Twitter, das einstweilen kein Geschäftsmodell ist, antworten unten drunter Jeeni -- Rock'n'Sew ‏(@rock_n_sew), Conrad Elser ‏(@swala4711) u.a.:

"Liebe @ARDde, teilen sie dies bitte dringend den Kollegen bei @tagesschau mit. https://twitter.com/tagesschau/status/580371431273402368 … "

Eine kleine "Chronik schwerer Unfälle in der zivilen Luftfahrt" hatte das Leuchtturm-Flaggschiff der ARD-Nachrichtenseriösität natürlich doch aus seinen gewaltigen Archiven aktuell aufbereitet und mit dem Hashtag #Germanwings versehen auch in die "sozialen Kanäle" gespeist.

Zum Glück gab es lange nicht oder noch nie einen derart folgenschweren Absturz eines deutschen Passagierflugzeugs. Der, der sich gestern während eines Flugs von Barcelona nach Düsseldorf ereignete, führte jedenfalls zur ersten deutschen Erfahrung mit Flugzeugabsturz-Onlinejournalismus. Das heißt, er traf auf den von der Echtzeit mindestens so getriebenen wie faszinierten Journalismus, der gerade so enorm offensiv seine grundsätzliche Bedeutung betont, wie er um seine Finanzierung ringt, und der immer anderthalb Augen auf die sog. sozialen Netzwerke richtet, wo sich die Cappuccino-Trinker äußern, die er als Kunden gewinnen und/ oder behalten möchte und muss.

Insofern hagelte es Liveticker und Liveblogs. Wer möchte kann focus.de, eine deutsche Speerspitze des Echtzeit-Irrsinns, dafür kritisieren, dass es mit Bezug auf einen eingebundenen französischen Tweet um 16.02 Uhr noch mal kurz "Hoffnung auf Überlebenden" (also einen) weckte. Wahrscheinlich gibt es keinen oder kaum einen Grund, die Halterner Zeitung für ihren fotoreichen Liveticker aus der trauernden nordrhein-westfälischen Kleinstadt zu kritisieren. Man kann aber ruhig mal hinklicken; Klicks sind auch im Halterner Onlinejournalismus die einzige Währung.

Noch mal focus.de:

"Das Interesse am Schicksal der Jugendlichen, ihrer Freunde und Angehörigen ist enorm. Die Internetseite des Gymnasiums war zwischenzeitlich nicht mehr erreichbar. Im Internet nehmen die Beileidsbekundungen kein Ende."

Es hagelte natürlich auch oft berechtigte Medienkritik, zum Beispiel in vielen Tweets.

"twitter ist wohl das perfekte Tool zum #Witwenschütteln. Ohne Skrupel. Ganz öffentlich." (@Sportkultur)

"Ja, @welt, das sind genau die Bilder, die wir jetzt alle unbedingt im Liveticker brauchen. (Verpixelung von mir!)" (@mimimibe)

"Dann flogen sie in den Tod" - nein, @ntvde, sie flogen nach Hause und das Ding stürzte ab!" (@dominikmai)

Und im lineareren Fernsehen hagelte es Sondersendungen und Programmänderungen, so wie dann wiederum im Internet Sondersendungs-Meldungen:

"Den ganzen Tag und Abend über wird Peter Kloeppel zudem immer wieder in 'News-Flashes' berichten. 'Nachtjournal' und das Magazin 'Explosiv' werden sich monothematisch mit dem Flugzeugabsturz beschäftigen. Sat.1 hat für 18:30 Uhr eine 30-minütige Sondersendung angekündigt. Das eigentlich für 18 Uhr vorgesehene einstündige 'In Gefahr' entfällt daher heute, stattdessen gibt ab 18 Uhr zunächst eine Folge von 'Schicksale' zu sehen."

Noch mal in Worten: "In Gefahr" entfällt, dafür laufen "Schicksale".

Lobt man sich da sein öffentlich-rechtliches Fernsehen? Immerhin mussten alle, die die an der weiterhin wichtigen Lösung der Probleme um den Euro und in Griechenland arbeiten, auf Input verzichten, den Wolfgang Bosbach gestern nacht bei Sandra Maischberger zu diesen Themenfeldern hätte beisteuern wollen. Stattdessen hatte Maischberger nach einer kurzfristigen Programmänderung aktuell weiterbetalkt, was den ganzen Tag über schon nicht nur in der ARD betalkt worden war.

In der Talkshow-Frühkritik von sueddeutsche.de fasst Elisa Britzelmeier zusammen:

"Da wirft Maischberger die Frage auf, ob es nicht doch ein Anschlag gewesen sein könnte. Sie als Vielfliegerin habe gleich gedacht, ein Absturz bei diesen Wetterbedingungen, da könne ja nur Terror im Spiel sein. Und: Wie sich der Sinkflug für die Passagiere angefühlt haben könnte - ob sie wohl wussten, dass sie abstürzen?  [Niki] Lauda denkt laut darüber nach, wieso es aus dem Cockpit keine Meldung mehr gab."

In der faz.net-Talkshow-Frühkritik schlägt Altpapier-Autor Frank Lübberding wieder einen grundsätzlichen Tonfall an:

"Aber wie soll man man 75 Minuten lang über ein Ereignis diskutieren, das man gar nicht klären kann?"

Na ja, wahrscheinlich helfen jahrelange Erfahrung im Diskutieren über Ereignisse, die auch noch nicht geklärt wurden (etwa Probleme um den Euro und in Griechenland), sowie die Chance, dabei auch noch über Jahre ein dichtes Konkurrenzumfeld beobachten zu können. Aber im Ernst:

"Medien machen uns nicht zu Betroffenen, sondern zu Voyeuren. Diese wollen wissen, was passiert ist, und weil das niemand weiß, sind Medien gezwungen, sich in der Phantasie alle möglichen Erklärungen auszudenken. Ein interessantes Beispiel lieferte der ARD-Korrespondent Michael Heissen. Er berichtete aus Digne-les-Bains. Die Kleinstadt ist 30 km vom Unfallort entfernt. Dort gäbe es viele Wildtiere, auch Wölfe, und man könne sich 'gar nicht ausdenken, was dort mit den Opfern passiert.' Damit hatte er allerdings schon die Phantasie der Zuschauer geweckt, die sich das sehr gut vorstellen können ... Ob das alles nur in der Vorstellungswelt des Reporters existiert; er es nur aufgeschnappt hat und Heissen dem Zuschauer bloß seine Assoziationen zum Wort 'Wolf' vermittelt, weiß niemand."

Dass die ARD (und das ZDF) viele viele Korrespondenten überall hingeschickt haben, die keineswegs alle spekuliert haben, sondern oft auch sehr seriös und demzufolge redundant betont haben, dass man nicht spekulieren dürfe, lässt sich festhalten. 

"Die nachmittags angekündigten Sondersendungen und verlängerte Nachrichten waren zu große Gefäße für zu wenig Inhalt. Sie waren - auch, aber längst nicht nur durch die Verwendung von Bildern der trauernden Angehörigen - kaum von dem zu unterscheiden, was private Sender und Online-Medien den Tag über schon anboten. Am Ende dieses Tages bleibt also nur die Ohnmacht und Trauer. Der verhältnismäßige Journalismus ist von uns gegangen, weil sich Medien jeder Art an der Emotionalisierung berauscht haben und in einer formatierten Medienwelt nicht mehr die tatsächliche Nachrichtenlage vorgibt, wie viel es zu berichten gibt. Der Inhalt hat der Form zu folgen",

lautet der letzte Absatz eines Fazits, das dwdl.des Thomas Lückerath gestern um 23.55 Uhr veröffentlicht hat (als Maischberger natürlich noch am Talken war). Einerseits hat er da sehr sehr recht. Die Formatierung hilft beim Managen des audience flows, ohne den Onlinemedien keine Chance haben, sich zu halten, und ohne den leider auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht auszukommen wähnt. Sie, die Formatierung, ist für die Inhalte oft ein Übel.

 

Andererseits: Überrascht es, dass die rundfunkgebührenfinanzierten Anstalten Heerscharen jeweils eigener Korrespondenten in die franzöischen Alpen, nach Haltern und sonst wohin entsenden, bevor sie sich Vorwürfen ausgesetzt sehen, auf das ganze Land bewegende aktuelle Ereignisse nicht reagiert, sondern das normale Programm fortgesetzt zu haben? Überrascht es, dass Onlinemedien, die gelernt haben und weiter lernen, mit ihren Nutzern in den sog. soz. Medien zu kommunizieren, auch die Trauer, die sehr viele weniger und mehr Betroffene (sowie Fußballspieler) dort äußern, in ihre Berichte einbinden? Und dass sie auf wahrscheinlich aussichtslose Versuche, Aufmerksamkeit für ganz andere Theme wecken zu wollen, verzichten? Andererseits war verhältnismäßig erwartunggemäß, was Mediennutzern nach dem natürlich völlig unerwarteten Flugzeugabsturz im Journalismus begegnete.

Und lobt man sich da seine ausgeruhte gedruckte Qualitätszeitung mit ihrer legendären Seite 3? Höchstens bedingt.

Die Süddeutsche bringt dort heute das von zwei Autoren und fünf Mitarbeitern gestaltete Stück "Rätsel 4U9525". Darin heißt es, nur zum Beispiel, im Anschluss an den Absatz, in dem Angela Merkels erste Stellungsnahme geschildert wurde:

"Im Élysée-Palast in Paris empfängt Präsident François Hollande am Mittag den spanischen König Felipe VI. Der neue Monarch macht seinen ersten Staatsbesuch. Jetzt erfährt er, dass in Südfrankreich 42 Landsleute ums Leben gekommen sind. Felipe beschließt, den Besuch abzubrechen. Beim Abschied spricht Hollande dem König nochmals sein Beileid aus. Und er erwähnt, dass er nur wenige Minuten nach dem Unglück mit der Kanzlerin telefoniert habe: 'Mit Angela Merkel, die von diesem Drama besonders geprüft wird.'"

Im nächsten Absatz schaltet die SZ dann nach Haltern ... Und die FAZ widmet ihre nicht gar so legendäre Seite 3 auch dem Thema, obwohl das Strukturproblem des Zeitnachteils, den gedruckte Zeitungen gegenüber digitalen Medien haben, ja hinlänglich bekannt ist. Wer will das lesen, wer will es kritisieren?

Wahrscheinlich wäre gut, wenn sich ein paar der zahlreichen Qualitätsjournalismus-Diskussionen mittelfristig der Frage widmen würden, in welchen Formen und Formaten ein angemessener Umgang mit Inlands-Katastrophen möglich sein könnte.


Altpapierkorb

+++ Vorn auf der TAZ: ein guter Kommentar von Edith Kresta zur Nationalitäten-Frage bei Flugzeugabstürzen (über die "in den sozialen Netzwerken ... genörgelt" wurde). +++

+++ Auf der FAZ-Medienseite geht's um das im Altpapier (z.B. diesem) gelegentlich schon erwähnte Öffentlich-Rechtlichen-kritische Gutachten "Öffentlich-rechtliche Medien – Aufgaben und Finanzierung" des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums (das bekanntlich überhaupt nicht für Rundfunk zuständig ist). +++ Erstens verteidigt es ein rundfunkrechtlich versierter Richter vom Verfassungsgerichtshof des Freistaats Sachsen, Christoph Degenhart ("Die Studie verweist zu Recht auf die hohen Kosten für Sportrechte - in der Tat ist es nicht zwingend Aufgabe einer quasisteuerfinanzierten Einrichtung, einzelne der Unterhaltungsindustrie, wie den professionellen Spitzensport, in dieser Weise zu finanzieren. ... Auf der anderen Seite wird ein Programm, das wie wenige sonst den kulturellen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verkörpert, das Hörfunkprogramm BR Klassik, vom Bayerischen Rundfunk ins digitale Nirwana verbannt"). Das Symbolbild sieht aus, als habe es Michael Hanfeld selbst gemalt ... +++ Zweitens berichtet Oliver Jungen von einer Kölner Diskussion bzw. "heißen Redeschlacht" darüber. "Zunächst hob [Lutz] Hachmeister auf die Naivität des Gutachtens ab, das etwa die komplexe Verwobenheit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit der teils privatwirtschaftlichen Produktionslandschaft ausblende. Auch fehle jede Angabe dazu, wie und von wem Inhalte bewertet werden sollen, obwohl das doch die Grundlage sei für die vorgeschlagene Programmaufteilung. Man wisse, replizierten die Autoren, dass es viele andere Aspekte gebe, aber hier werde das System eben einmal rein finanzpolitisch in den Blick genommen. Zur Qualitätsfrage wollten sich die Autoren nicht äußern, aber es wurde doch deutlich, dass sie sich einen öffentlichen Rumpfrundfunk aus Arte/3sat, Nachrichtenreportagen und Dokumentationen vorstellen, auf jeden Fall ohne die Segmente Sport und Unterhaltung. Da brachen die Schleusen, und die zahlreich angereisten Rundfunkangehörigen eröffneten ihr Trommelfeuer im Namen der 'umfassenden Grundversorgung'. ..." +++

+++ "Unser Angebot wird keine weitere Ausspielart von Fernsehen": Diesem Satz von Florian Hager, dem Chef des nicht-fernsehgebundenen neuen Online-Kanals von ARD und ZDF, schreibt Christian Meier (Welt) "Sprengkraft" zu. +++

+++ Außerdem auf der FAZ-Medienseite: ein kleines, raffiniert gestricktes Loblied Rainer Meyers auf Tilo Jung, der aus dem Journalismus ausscheiden möchte. Größer oder zumindest länger und jedenfalls härter ("Die Hyänen der Moral bringen zwischendrin mal Klicks. Aber es ist keine Basis für zukünftige Geschäftsmodelle") ist es online von Don Alphonso zu haben. +++ Das Gegenstück aus der TAZ: "Tilo Jung hört mit Journalismus auf? Dann können wir mit ihm heute aus Solidarität mit ihm auch Exklusives verkündigen: Ab April beenden wir unsere Teilnahme am Aufbauprogramm für rote Spielzeugautos. Im Mai machen wir Schluss mit der bemannten Raumfahrt. Im September werden wir das tägliche Torfstechen auf der Dachterrasse des Springer-Hauses beenden." +++

+++ Kürzlich hatte die FAZ auch Dramatisches von der GEZ und ihrem "Reorganisationsverfahren" in dramatischem Tonfall ("'Normalerweise landen anonyme Schreiben im Papierkorb, hier werden wir uns das sehr genau ansehen', sagte ein ARD-Verantwortlicher, der nicht genannt werden wollte") zu berichten. +++

+++ Auf der SZ-Medienseite: ein Interview älterer Rock'n' Roller. Hans Hoff befragte Jochen Rausch, den "Chef der jungen WDR-Welle 1Live", der demnächst 60 wird (und am Freitag "für seine Mitarbeit am TV-Projekt 'Mr. Dicks'" einen Grimme-Preis erhält). Rausch sagt u.a.: "Ich habe mit 16 eine Wochenzeitung ausgetragen, und mir starben die Abonnenten weg. Ich habe dem Chef vorgeschlagen, Artikel über Popmusik zu schreiben, damit wir junge Leser kriegen. Er lehnte ab, und die Zeitung war ein halbes Jahr später pleite" und "Im Digitalzeitalter ist es unseriös, über fünf Jahre hinaus Prognosen abzugeben." +++

+++ Außerdem ebd.: wie sich auf der russisch besetzten Krim Reporter als Liebespaar tarnen, um noch berichten zu können. Hannah Beitzer berichtet von einer Reporter-ohne-Grenzen-Veranstaltung in Berlin. +++

+++ Die TAZ hat wegen eine Diskussion auf der Cebit Sascha Pallenberg interviewt. Es geht irgendwie um Public Relations, Journalismus und Publishing. +++ Und sie hat die mittwöchliche Kriegsreportage. Es geht nun um Hamburger Zeitschriften. +++

+++ Der Tagesspiegel würdigt den heutigen ARD-Fernsehfilm "Unverschämtes Glück", der sich "mit den negativen Seiten des Politikbetriebs" beschäftigt und zum Teil im Berliner Rathaus Schöneberg gedreht wurde. Armin Rohde spielt "Oberbürgermeister Johannes Größt". +++

+++ Und für meedia.de hat Alexander Becker den Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt zum Erfolg seines Morgen-Newsletters "Checkpoint" befragt, der "mit seinen ganzen Rubriken und Service-Angeboten eine eigene kleine Tageszeitung" sei. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Donnerstag.

 

 

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