"Wetten dass"-Kritik im Gouvernanten-Tonfall des 19. Jahrhunderts

"Wetten dass"-Kritik im Gouvernanten-Tonfall des 19. Jahrhunderts

Heute steht in einer Medienkolumne das letzte Mal "Wetten dass" zur Diskussion. Bei einem Kritiker fühlte man sich in das 19. Jahrhundert zurückversetzt. Aber der Mediendiskurs wird auch ohne die ZDF-Show bleiben. Dafür sorgen heute Abend wieder Demonstranten in Dresden.

Mit der letzten „Wetten dass“-Sendung ist auch die „Wetten dass“-Kritik gestorben. Auf diesen Umstand machte Stefan Niggemeier aufmerksam, was zur Auswahl recht eigentümlicher Stilblüten aus der Frühzeit dieser Sendung führte. So war 1981 in der NZZ über die Faszination von der „technischen Potenz“ zu lesen, die den damaligen Diskurs über die Rolle der Technologie aufnahm und in der Politik das Begriffsmonstrum namens „Technologiefolgenabschätzung“ gebar.

Fast selbstverständlich sind die Mitspieler und auch der Moderator dem Apparat unterlegen: Was passiert, soll ganz unvorbereitet wirken. „Natürlich bin ich präpariert“, rief Curd Jürgens dazwischen. Die Kandidaten schmuggeln zwar noch etwas Persönliches in ihr Wettangebot ein, wie etwa die Geburtsdaten der Familie. Die Sendung aber scheint etwas anderes von ihnen zu wollen, ein auf die Rolle reduziertes Verhalten. Die beiden Stars im Team mußten noch einmal ihre vergangenen „Images“ spielen, statt den dazu inzwischen gewonnenen Abstand darstellen zu können. Frank Elstners auf Unmittelbarkeit zielende Gesprächsführung konnte sich nicht gegen den Apparat durchsetzen. Ein gieriger Zuschauer soll bedient werden, der sich am Monströsen ergötzt und alles sofort haben will.“

Nun will das Fernsehen heute diese Rollenmuster aufbrechen. Ob in einem Container oder im Dschungel soll der Mensch authentisch erscheinen, damit er anschließend umstandslos in den sozialen Netzwerken in Grund und Boden gestampft werden kann. In der Rezension der Zeit kam das gut zum Ausdruck.

Das Ereignis zerfällt sofort in der Masse und hat gar nicht mehr die Kraft, osmotisch in einen einzudringen. Überdies nehmen Kommentare auf Twitter Sendungen und Filme schon während der Ausstrahlung derart in Beschuss, dass sie zum Schluss nur noch den Eindruck eines zerfetzten, in den Dreck getretenen Taschentuches machen. Die digitale Kommentarlüsternheit macht die Dinge beliebig; der Gedankenmüll versperrt die Verbindungstür zur eigenen Wahrnehmung. Das sogenannte soziale Netzwerk ist vieles, am wenigsten aber ist es sozial.“

Soziale Netzwerke sind der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie unterworfen. Wer sich dort zu Markus Lanz oder „Wetten dass“ in Echtzeit äußert, will Resonanz erzeugen. Das funktionierte schon immer am besten durch einen Verriss, der sich über die Akteure lustig macht und sie als komplette Vollidioten charakterisiert. Ein besonders gelungenes Beispiel war das Gespräch von Markus Lanz mit Samuel Koch gewesen, der 2011 in einer Sendung schwer verunglückt war. Wie spricht man in einer solchen Situation mit einem Menschen, der ein solches Schicksal erlitten hat? Weiß das jemand von den Kritikern, die eines noch nie machen mussten. Sich mit Schwerstbehinderten über ihr Unglück vor fast 10 Millionen Menschen zu unterhalten. Das Wissen um die Aussichtslosigkeit in einer solchen Situation die richtigen Worte zu finden, ist den meisten Kritikern völlig verloren gegangen. Die Überheblichkeit, die sich in der Häme gegenüber Lanz artikulierte, zugleich ein soziologisches Narrenschiff. Es suggeriert, man könne in jeder Situation eine gelungene Kommunikation betreiben. Es ist dann völlig egal, ob man mit Koch über sein Schicksal spricht oder mit Elton über seine Leberwurst an der Backe. Wie die „Wetten dass“-Kritik im Gouvernanten-Tonfall des 19. Jahrhunderts formuliert werden kann, demonstrierte allerdings die Welt. Dort ist der Autor schon über die entblößten Knöchel junger Damen fassungslos und predigt Sittenstrenge. Oder war es seine eigene Aufregung gewesen?

Cheerleader erscheinen. Junge Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, an der Grenze von Tanz und Lolitafantasie. Mädchen, die Männer beim Sport anfeuern. Mädchen, die Männer, die Männer beim Sport sehen wollen, heiß machen. Sie gehen Hand in Hand rein. Die Cheerleader der Elmshorn Fighting Pirates. 15, 16 sind diese Mädchen. Sexualisierte Dinger. Kindchenschema. Geschminkt. Kurze Röcke. Sie wetten, fliegend, zehn Kleidungsstücke in fünf Meter Höhe auf einer Wäscheleine aufhängen zu können. Man sieht ihre sehr nackten Schenkel. Sie haben Schleifchen im Haar. Und dann wirft ein Haufen Mädchen immer eins nach oben. Mädchen schleudern Mädchen nach oben. Sie versuchen, Wäschestücke an der Leine aufzuhängen. Ein weiteres Mädchen muss die Wäscheklammer anbringen. Rotes Hemdchen, ein blaues Hemdchen. Lanz ruft "Ja!". Gut auf jeden Fall, dass sie Wäsche aufhängen. Schade natürlich, dass es keine Tangas oder Spitzenkorsagen sind. Die Rollenverteilung ist beim ZDF klar: Mädchen, zwischen 15 und 16, müssen sexy aussehen, kurze Röcke tragen und die Wäsche aufhängen. Als besonderes Schmankerl ist das letzte aufzuhängende Kleidungsstück ein pinkfarbener Büstenhalter.“

####LINKS#### Konnte man seit 1981 ein vergleichbares Dokument der Verklemmtheit lesen? Wie ein Autor seine eigene sexualisierte Fantasie zum Ausdruck bringt, indem er sie anderen unterschiebt? Wie Frédéric Schwilden zugleich seine völlige Respektlosigkeit gegenüber jungen Frauen dokumentiert, während er sich vor dem Bildschirm über die „Rollenverteilung beim ZDF“ lüsterne Gedanken macht? Ihm kommt noch nicht einmal in den Sinn, dass diese „Kritik“ nichts anderes als eine Beleidigung der Cheerleader der Elmshorn Fighting Pirates darstellt. Schwilden spricht ihnen jede Autonomie für ihr Handeln ab, nämlich für ihren Sport (es ist einer und kein Genre der Pornoindustrie) Werbung zu machen. Stattdessen mokiert er sich über die „Schleifchen im Haar“, die junge Frauen in dem Alter nun einmal tragen, selbst wenn sie keinen Hochleistungssport machen. Es war wahrscheinlich das Dümmste, was nach 215 Sendungen „Wetten dass“ in deutschen Medien zu lesen gewesen war. Insofern kann man froh sein, wenn mit „Wetten dass“ auch die Kritik ein abgeschlossenes Kapitel der Fernsehgeschichte ist. Ansonsten wäre es nicht ausgeschlossen, wenn Frauen dort in praktischer Anwendung von Schwildens Logik nur noch in Burkas auftreten dürften. Die Angst vor männlicher Lüsternheit ist nämlich deren ideologisches Motiv, sich vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

 

+++ Insofern passt, was in der aktuellen Ausgabe der Funkkorrespondenz thematisiert wird. Altpapier-Autor René Martens berichtet dort von einer Konferenz zum Jugendschutz, die allerdings nicht die Frage stellte, wie man junge Frauen vor lüsternen Welt-Rezensenten schützen könnte. Zum Glück gar nicht, weil das Recht auf freie Meinungsäußerung das höherrangige Gut ist. Aber in diesem Zitat kommt die Hilflosigkeit zum Ausdruck, die sich der Staat in einer digitalen Umgebung ausgesetzt sieht.

Eine von Erdemirs zentralen Äußerungen lautete: „Pädagogik ohne Medienpädagogik gibt es nicht mehr.“ Das klingt einleuchtend, bedarf aber durchaus der Erwähnung – unter anderem weil Medienbildung noch nicht in den Curricula der Lehrerausbildung verankert ist, was mehrere Referenten der Tagung kritisierten. Eva Aernecke, die Vertreterin der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei, sagte dazu, was in diesem Bereich getan werden müsse, sei klar, aber wie lange es dauere, bis die zuständige Kultusministerkonferenz Entsprechendes beschließe, könne sie nicht einschätzen.“

Nun gibt es fast nichts, was Fachreferenten den Schulen in ihre Curricula schreiben wollen. Die Medienpädagogik ist dafür nur ein Beispiel. Aber es dokumentiert zugleich die Hilflosigkeit, die moderne Gesellschaften hinterlassen. Letztlich ist dieser Appell an die Schulen nichts anderes als eine Erwartung zu formulieren: Nämlich an die Selbstbestimmung des Individuums zu glauben. Dass er am Ende zu aufgeklärten Formen des Denkens kommen wird. Wo die Probleme dieser Sichtweise zu erkennen sind, zeigt sich in der Debatte über die Pegida-Demonstrationen in Dresden. Die Medien leben von der Kontroverse. Zugleich haben sie aber ein eigenes Interesse am Ausstieg des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sie wollen sich nicht zum Büttel des Ressentiments machen lassen. Insofern gibt es kaum jemanden, der noch glaubwürdig die alten Parolen früherer Jahrzehnte schmettern will. Deutschland sei kein Einwanderungsland oder die Ausländer nähmen uns die Arbeitsplätze weg. Allerdings ist diese Sichtweise in Teilen der Bevölkerung immer noch zu finden. Sie demonstrieren daher in Dresden, um ihren Unmut Ausdruck zu verleihen. Sie reden aber zugleich nicht mit den Medien und wollen noch nicht einmal das Angebot eines Günther Jauch wahrnehmen, sich mit ihren Positionen der öffentlichen Debatte zu stellen. Michael Hanfeld beschreibt in seiner TV-Kritik dieses Dilemma:

Günther Jauchs Sendung zeigte, dass guter Journalismus (und gute Politik) keine geschlossene Veranstaltung ist. Man muss widerstreitende Meinungen nur aushalten können. Und es ertragen, dass ein Talkmaster seine Gäste beim Schlaffitchen packt und auf ihre Facebook-Seiten schaut. Auf der von Bernd Lucke wurde gepostet, formuliert mit Blick auf die Sendung von Jauch: „Ich halte die Forderungen der Pediga für legitim, was nicht alle teilen werden. Ich freue mich auf die Diskussion. Ich halte die Forderungen der Pediga für legitim, was nicht alle teilen werden. Ich freue mich auf die Diskussion. Ich halte die Forderungen der Pediga (!) für legitim, was nicht alle teilen werden. Ich freue mich auf die Diskussion.“

Das scheint allerdings verloren zu gehen: Die Freude an der Diskussion. Lucke schob diesen Kommentar auf einen Mitarbeiter. Selbst er will nicht mit Positionen identifiziert werden, die aber ein Teil des gesellschaftlichen Diskurses sind. Ob es einem nun gefällt oder nicht. Ihnen Ausdruck zu verleihen, ist die Aufgabe eines Mediensystems. Wenn sich die Pegida-Demonstranten dem entziehen wollen, dokumentieren sie lediglich ihre Schwäche. Insofern ist das ehrlich gemeinte Gesprächsangebot die Voraussetzung für Aufklärung. Es gibt für demokratische Gesellschaften nichts Schlimmeres als wenn alle nur noch im eigenen Milieu nach Bestätigung suchen. Das gilt nicht nur für die Retter des Abendlandes in Dresden.

+++ Am Freitag hatte das Altpapier über die Konferenz des Tagesspiegel namens Agenda 2015 berichtet. Auf die vielfältige Kritik hat der Verlag jetzt reagiert. Man wird sehen, was dabei herauskommen wird.


Altpapierkorb

+++ Wolfgang Michal beschäftigt sich noch einmal mit dem Spiegel. Er sieht in der Eigentümerstruktur mit der Majorität der Mitarbeiter-KG nicht das Problem, sondern die Lösung: Doch das, was beim Spiegel rumort, muss man als schwierigen, nicht immer geradlinigen, oft schlecht kommunizierten Emanzipationsprozess verstehen. Die Angestellten befreien sich – Zug um Zug – aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit und nehmen den Betrieb in die eigenen Hände. Das ist der Kern dessen, was beim Spiegel passiert.“ Die spannende Frage, die aber zu beantworten sein wird. Ob dieser Emanzipationsprozess das klassische Modell widerstreitender Interessen aufheben kann. Die Rolle des Kapitalisten besteht eben nicht nur darin, seinen eigenen Anteil am erwirtschafteten Gewinn zu erhöhen, sondern zugleich die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens zu sichern. Zum Thema und der Sichtweise von Michal passt auch dieser Artikel bei den Netzpiloten. Diesen Mut zum Unternehmertum beweist das IOC. Es will einen eigenen Fernsehsender gründen. Kritisches ist dazu im Medienmagazin von WDR 5 zu hören. Kritischer Sportjournalismus ist dort sicher nicht zu erwarten.

+++ Die erwähnte Funkkorrespondenz hat darüber in ihrer aktuellen Ausgabe ebenfalls berichtet. Heute werden die Mitarbeiter der Deutschen Welle gegen die Unternehmenspolitik ihres Intendanten auf die Straße gehen. In der Pressemitteilung der DJV ist folgendes zu lesen: „Vom drohenden Kahlschlag sind die Fernsehprogramme in Deutsch, Spanisch und Arabisch in Berlin ebenso betroffen wie journalistische Angebote in zehn Sprachen am Standort Bonn. In Berlin bliebe dann nach den Plänen des Intendanten nur noch das Englische Programm übrig.“ Ein Tipp an den Intendanten der Deutschen Welle. Der russische Auslandssender Russia Today wird bei uns erst wahrgenommen, seitdem er als RT-Deutsch online zu sehen ist. Insofern kann es keine gute Idee sein, ausgerechnet die Fremdsprachenprogramme der Deutschen Welle der Vision einer „deutschen BBC“ zu opfern.

+++ Hans Hoff und Peer Schader diskutieren bei DWDL über Leuchttürme und das Kampfrauchen. Was wir uns aber fragen: Raucht Conchita Wurst? Dort ist ebenfalls etwas über die traurige Geschichte eines TV-Zombies zu lesen. Es geht um ZDF-Kultur. Einen Sender, den niemand braucht und deshalb auch keiner gesehen hat. Außer man war Fan der Hitparade. Aber obwohl das jeder so sieht, muss ZDF-Kultur noch ein Jahr weitersenden. Politik ist nicht schnell. Das wusste schon Max Weber.

+++ Damit kommen wir zum neuen Feuilleton-Herausgeber der FAZ, Jürgen Kaube. Er hat jetzt seinen ersten Interviews gegeben. So im newsroom und beim Deutschlandfunk.

+++ Bei der NZZ geht es zu, wie in einer schlecht moderierten Talk Show. Sie suchen einen neuen Chefredakteur. Allerdings hat der Online-Chef der FAZ, Mathias Müller zu Blumencron, laut Spiegel ein entsprechendes Angebot der NZZ abgelehnt.

+++ Von einem überraschenden Comeback des gedruckten Journalismus in der USA berichtet Jens Rehländer.

+++ Außerdem noch ein Hinweis auf eine Konferenz des Merkur zum Thema: „Intellektuelle Beißhemmung“. Einer der Gäste am 5. Dezember war der erwähnte Jürgen Kaube.

+++ In Sydney hat jemand Geiseln genommen und es ist heute weltweit das Top-Thema. Was mit der Berichterstattung zu tun haben könnte, ist die Forderung des Geiselnehmers. Man geht zwar von einem islamistischen Hintergrund aus, aber ohne diesen politischen Hintergrund würde sich außerhalb Australiens kaum jemand für diese Geiselnahme interessieren. Oder würde weltweit live von einer Geiselnahme in einer deutschen Sparkassenfiliale berichtet, wenn es dem Täter nur um die Erpressung von Geld und einer Fluchtmöglichkeit ginge? Insofern fragt man sich schon, welchen politischen Hintergrund ein Geiselnehmer haben kann, wenn er erst die Polizei nach seinem Propagandamaterial fragen muss. Der Geiselnehmer verlangt nämlich gerade ernsthaft nach einer ISIS-Flagge, um man damit die weltweite Aufmerksamkeit zu erreichen, die er ohne diese Flagge nicht bekäme. Aber welcher politische motivierte Täter ist eigentlich so blöd, sein Propagandamaterial zu Hause zu vergessen?

Das nächste Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

weitere Blogs

… von monumentalen Skills, die nicht zählen.
Das queere Vereinsleben ist so bunt und vielfältig wie die queere Szene. Aber wie politisch neutral sollten diese Vereine heute (noch) sein?
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten - und wieder einmal die Kirche. Über drei Monate nach der ForuM-Studie.