Krieg zwischen Daten und Kommunikation

Krieg zwischen Daten und Kommunikation

Der Rollenname der neuesten "Tatort"-Kommissarin. Die gegenrevolutionäre Phase der Internetrevolution. Worin Femen Facebook-fitter ist als der "geschockte" Cicero. Eine neue Medienkompetenz-Offensive. Grimmepreis-Kommentare.

Die wenigen Degrees of Separation/ Grade der Trennung, durch die jeder Mensch mit jedem beliebigen anderen verbunden sei, werden seit Jahren gern herangezogen, um zu zeigen, wie sehr Welt und Menschheit zusammengewachsen sind, und seit kürzerem auch um zu zeigen, wie sehr das US-amerikanischen Diensten beim Überwachen bzw. Ausspähen hilft.

Ein Beispiel dafür, dass diese Verbundenheit keineswegs an Lebzeiten gebunden ist, sondern epochenübergreifend funktionieren kann, hat der Tagesspiegel mitten in Berlin gefunden. Weil dort eine der frischgebackensten deutschen Fernsehkommissarins-Darstellerinnen wohnt, und weil dort, wo sie genau wohnt, ein in den Boden eingelassener Stolperstein an die vor 71 Jahren verschleppte und ermordete deutsche Jüdin Selma Jacobi erinnert, soll die neue "Tatort"-Kommisarin aus Frankfurt am Main, die Anfang 2015 das Licht der Bildschirme erblicken soll, ebenfalls Selma Jacobi heißen.

Ob diese Idee nun "reichlich befremdlich" ist, wie die Leiterin der Stolpersteine Berlin-Koordinierungsstelle, Silvija Kavcic, dem Tagesspiegel sagte, oder so gut, dass die Leiterin des Fernsehspiels beim Hessischen Rundfunk, Liane Jessen, ihre Kollegen quasi schon mal bittet, wenn sie eines Tages gestorben sein sollte, an sie auch auf so eine Weise zu erinnern (hatte sie womöglich die neue Horst-Schimanski-Gasse in Duisburg-Ruhrort aus der derzeit zirkulierenden bunten Meldung im Hinterkopf?), braucht und kann nicht beantwortet werden. Schließlich dürften auch noch andere Menschen Selma Jacobi geheißen haben und heißen, schließlich haben all die viele Fernsehkommissare, die immerzu ermitteln, vollständige Rollennamen. Und all die Opfer und Verdächtigen und Täter der irre vielen deutschen Fernsehkrimimorde auch.

Jedenfalls ist an ein Opfer des Holocaust erinnert worden, jedenfalls sind jetzt schon einige ein bisschen auf die circa überübernächste neue "Tatort"-Protagonistin gespannt. Jedenfalls kann ab sofort jeder googeln, wo genau Margarita Broich wohnt. Falls wer ein Autogramm oder ein Selfie schießen wollen sollte.

[+++] Die Berechnung der Grade der Trennung beruht auf Daten, die sowohl gesammelt werden als auch einfach entstehen und, sobald entstanden, kaum mehr zu löschen sind. An Texten über diese digitalen Phänomene herrscht kein Mangel. Schon auf deutsch erscheinen laufend so viele, dass Überblick kaum möglich ist. Tagesaktuell sind zwei zu empfehlen. Erstens der aus dem SZ-Feuilleton gestern (inzwischen frei online), in dem Michael Moorstedt "Die Lüge von den Metadaten" darstellt. Die Antwort auf die Frage, wie viel allein die bekanntlich massenhaft überwachten Telefonverbindungsdaten aussagen, die also keine Telefonat-Inhalte sind, lautet: "Die vermeintlich anonymen Metadaten gaben Geheimnisse preis, die man wohl kaum einer staatlichen Datenbank anvertrauen will".

Das haben Forscher der Universität Stanford herausgefunden. Es ergänzt die derzeit aus dem Snowden-Fundus zirkulierende Meldung, dass amerikanische Geheimdienste alle Telefonat-Inhalte ausgewählter, noch unbekannter Staaten außerdem vollständig aufzeichnen (Washington Post).

"Die Internetrevolution befindet sich in ihrer gegenrevolutionären Phase", heißt es im anderen aktuell sehr zu empfehlenden Artikel. Er stand im Februar in Le Monde diplomatique und wurde nun von Carta online publiziert. Felix Stalder trennt in berückender, dennoch seriöser Vereinfachung zwischen der "menschenlesbaren Ebene der Kommunikation und der maschinenlesbaren Ebene der Daten"

"Auch wenn Kommunikation und Daten gemeinsam entstehen, könnten ihre sozialen Möglichkeiten kaum unterschiedlicher sein."

Gerade herrsche zwischen Daten und Kommunikation Krieg. "Der Ausgang ... steht noch nicht fest, aber ohne angepasste, demokratische Infrastrukturen, online und offline, wird die Kommunikation unterliegen".

[+++] Zwei laufende Entwicklungen vor solch Hintergrund: Zum Beispiel zeigte sich die Redaktion des Cicero "'geschockt' über das Vorgehen von Facebook" (wiederum Tagesspiegel). Komplexer Hintergrund: Der bei cicero.de, zuvor aber auch im Tagesspiegel  erschienene Text "Abtreibung ist ein Frauenrecht" ist von Facebook offenbar blockiert worden, weil die Cicero-Redaktion ihn mit einem "DPA-Foto von Femen-Aktivisten bei einer Protestaktion im September vergangenen Jahres vor dem Reichstagsgebäude" bebildert hatte und damit gegen gegen "'Facebook Community Standards' verstoßen" habe. "Etwa eine Viertelstunde lang" habe Facebook auch den Rest des cicero.de-Auftritts dort blockiert. Man kann sich zweifellos inhaltlich damit befassen. Muss man aber nicht und tut der Datenkrake nicht: Ein namentlich nicht genannter

"Facebook-Sprecher sagte dem Tagesspiegel, Grund für die Beanstandung sei das von der Redaktion ausgewählte Foto mit der Femen-Protestaktion gewesen. Man habe den Post 'wegen Nacktheit' heruntergenommen. Diese dürfe in dem Netzwerk grundsätzlich nicht gezeigt werden. 'Mit dem Text hatte das nichts zu tun.' Der Facebook-Sprecher ergänzte, die Organisation Femen International sei 'so schlau', auf ihrer Facebook-Seite die Bilder an entscheidenden Stellen so zu verpixeln, dass es keine Probleme gebe."

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Die andere laufende Entwicklung: Googles Chromecast. Über jedes neue Google-Produkt berichten deutsche Medien in Windeseile gern schnell und viel, schon weil Berichte über Google-Produkte die Chancen erhöhen dürften, bei Google oben zu erscheinen, die für die Reichweite mindestens so wichtig sind wie Facebook. Dieses Chromecast ist ein Stick, der einfach ins Fernsehgerät gesteckt wird und Internetinhalte darauf abspielbar macht.

"Für die TV-Sender brechen noch härtere Zeiten an. Ihr lineares, reguliertes, werbeunterbrochenes und oft genug dämliches Programm konkurriert nun auf demselben Gerät imWohnzimmer der Zuschauer mit den unendlichen Weiten des Netzes, in denen man tun und lassen kann, was man möchte", fasst die SZ-Medienseite heute zusammen. "Eine Debatte wird Chromecast mit Sicherheit weiter befeuern: Wer hat die Hoheit über das Fernsehgerät? Bis heute gilt es noch als selbstverständlich, dass ein Fernseher beim Einschalten direkt einen der eingespeicherten Fernsehkanäle anzeigt", meint dwdl.de.

Wie soll man sich da noch zurechtfinden? Mit Medienkompetenz natürlich! Medienkompetenz ist neben Rundfunkänderungsstaatsvertrag das Lieblingswort aller Medienpolitiker.

"'Medienkompetenz' ist zum Buzzword geworden und findet sich gleichermaßen in Lehrplänen, politischen Vorträgen und ist selbst in Wahlprogrammen und dem aktuellen Koalitionsvertrag zu finden",

schreibt Anna Biselli bei netzpolitik.org und leitet damit eine verdienstvolle Zusammenfassung dessen ein, was das überstrapzierte, inhaltsentleerte Wort tatsächlich bedeuten sollte. Von Höhlenmalerien über Francois Fluckinger und Habermas bis zum aktuellen Enzensberger reicht der Bogen im ersten Teil des mehrteilig angelegten Texts. Besonders bemerkenswert: Biselli verzichtet auf naheliegende Ironie.

[+++] Damit - ob harter Schnitt oder flüssige Überleitung muss das Auge des Betrachters entscheiden - nach Marl. Schließlich war die Stadt oder beherbergte schon im letzten Jahrtausend kurzzeitig ein "Europäisches Zentrum für Medienkompetenz", schließlich hob die Medien- u.v.a.m.-Ministerin Dr. Angelica Schwall-Düren als early adopter-in schon am "Tag der Medienkompetenz 2012" die Medienkompetenz-Bedeutung hervor, schließlich kann man schon jetzt gespannt sein, was die nordrhein-westfälische Ministerialbürokratie dort anstellen wird, wenn Frauke Gerlach erste neue Grimmeinstituts-Direktorin ist.

Erst mal aber wird der Grimmepreis 50 Jahre alt und noch in der alten Besetzung begangen. Gestern wurden die Preisträger bekannt gegeben. Was meint die gedruckte und elektronische Presse?

"Grimme-Preis für Dokumentarfilm über Sexualstraftäter" (EPD/ evangelisch.de). "Sieg der Öffentlich-Rechtlichen" (TAZ), hey, was für eine Überraschung! Bzw. "Triumphieren kann die ARD mit ihren Dritten Programmen und Arte. Das ZDF zieht mit drei Grimme-Preisen deutlich den Kürzeren" (sueddeutsche.de). "Die ARD und ihre Dritten Programme sowie Arte sind mit acht Auszeichnungen die Gewinner bei den Grimme-Preisen 2014" (faz.net). "Ein Kompliment für das Hauptprogramm des Zweiten ist das nicht" (Berliner Zeitung), "auch die Privatsender sind wenig grimmewürdig", was sie freilich schon immer waren. Doch "das Spaßduo von ProSieben wird mit dem TV-Preis ausgezeichnet": "Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf können Lustigeres als blanke Hintern und aufgewärmte Fremdideen. Das sieht jedenfalls die Jury des renommierten Grimme-Preises so" (Spiegel Online). "Wow!" (promiflash.de). Sie sind allerdings die einzigen Privatsender-Preisträger. "Völlig leer ging ... der dreifach nominierte Nischensender Tele 5" aus (wiederum sueddeutsche.de). Ebenso leer aus ging "überraschenderweise" (wiederum faz.net) "Unsere Mütter, unsere Väter" aus. "Die Jury zeichnet lieber das Kundus-Dokudrama 'Eine mörderische Entscheidung' aus - und schlägt sich damit auf die sichere Seite" (Welt), "es ist ein politisches Votum". "Der Grimme-Preis verpasst seine historische Chance" (Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite), nämlich die, "sich vom Deutschen Fernsehpreis abzusetzen. ... Der liegt bekanntlich in Trümmern, auch weil man gar nicht mehr wusste, was dort warum ausgezeichnet wird. Bei Grimme hingegen weiß man das auch im fünfzigsten Jahr: Es ist alles wie immer, aus Marl nichts Neues."

Aber immerhin so viel unterschiedliches Altes, dass jeder seins rausziehen kann.
 


Altpapierkorb

+++ Es ist weder Nico Hofmann, noch sind's die Berbens, die bereits an der Uli- Hoeneß-Verfernsehfilmung arbeiten (Süddeutsche). +++

+++ Wieder nach Marl. Was der altersbedingt scheidende Institutsdirektor Uwe Kammann sagte ("... herausragende Fernsehproduktionen mit einer großen Bandbreite ...", aber auch etwas Überraschendes: "Betroffenheitsjournalismus im besten Sinne"), dokumentieren am ausführlichsten die amtierenden Donnepp-Preisträger von dwdl.de. +++ Was schreibt der andere amtierende, Peer Schader, so? Wirft die Frage "Was kommt nach Scripted Reality?" auf. +++ Der halbe Vorjahres(-Donnepp)-Preisträger Rainer Tittelbach führt kenntnisreich durch die Fiktions-Grimmepreisgewinner. +++

+++ Schon weil deutsche Medien viel über die Konflikte auf der Krim und in der Ukraine berichten, ist auch das ein Medienthema. Einen Überblick über Probleme der Berichterstattung gibt Hannah Beitzer (sueddeutsche.de). Dass dieser Überblick quasi in einer älteren Formulierung Frank Lübberdings aus einer faz.net-Talkshowkritik ("Maßgebliche Teile der westlichen Politik haben es schlicht verlernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen") kulminiert, ist auch aufschlussreich. +++ Sozusagen ein neuer, inner-ukrainischer, aber global (auf Youtube) wirkender Medienmedien-Aspekt: der "Überfall ukrainischer Nationalisten von der Partei 'Swoboda' (Freiheit) auf den Chef der Nationalen Fernsehgesellschaft, Alexander Pantelejmonow" (u.a. FAZ, S. 2). Der Anführer der Überfallenden, Igor Miroschnitschenko "ist ausgerechnet Mitglied des Parlamentsausschusses für Pressefreiheit. ... Präsidentschaftskandidat Vitali Klitschko forderte, dem Abgeordneten sein Mandat abzuerkennen" (DPA/ KSTA). +++

+++ Während es der Freitag unternimmt, "die Pionierleistungen von De:Bug", der vermutlich bald nicht mehr erscheinenden Zeitschrift (Altpapier), "angemessen zu würdigen", erzählt Max Dax im TAZ-Interview: "Ich habe Sascha Kösch auch sofort angerufen und ihm gesagt, dass jedem Ende auch ein Anfang innewohnt. Ich habe ihm angeboten, online eine Rubrik einzuführen, die man Re:Bug nennen könnte. Mal sehen, was daraus wird". Dann wäre Kösch bei der Deutschen Telekom daheim, die Dax' Zeitschrift Electronic Beats herausgibt. Dazu sagt Dax: "Corporate Publishing ist auf alle Fälle nicht der Teufel. Keines der Modelle, wie Zeitschriften sich refinanzieren, ist per se gut oder schlecht. Bei uns thematisieren wir den Umstand des Corporate Publishing offensiv." +++

+++ "Es ist eine kleine Bombe, die in Köln explodiert ist", schreibt Pascal Beucker in der TAZ zur Kölner Zeitungsredaktions-Zusammenlegung (Altpapier gestern). +++ Die FAZ merkt zu ihrer gestrigen Geschichte um den Bonner General-Anzeiger heute an: "Das Landgericht Köln hält die von dem Bonner Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch erwirkte einstweilige Verfügung gegen den 'General-Anzeiger' in drei von vier Punkten aufrecht. ..." +++

+++ "'Wir arbeiten immer an neuen und besseren Wegen, um Youtube noch unterhaltsamer zu gestalten, und wir kommentieren keine Gerüchte oder Spekulationen', hieß es knapp in einer E-Mail", die faz.net auf die Anfrage, ob Youtube ein kostenpflichtiges Kinderportal plane. +++

+++ Ebd. appelliert Heike Hupertz: "Wer die Reihe "Pfarrer Braun" "nie gesehen hat, sollte es spätestens jetzt tun: Ein solches Format gibt’s nicht wieder und einen würdigeren Abgang auch nicht". Heute abend in der ARD ermittelt Ottfried Fischer letztmals in dieser Rolle in einem Fernsehkrimimord. +++ "Regie und Bildgestaltung (Dragan Rogulj ...) sind entsprechend routiniert, filmisch aber frei von jeder Raffinesse. Das Ende allerdings ist angemessen bewegend." (Tilmann P. Ganloff hier nebenan). +++

+++ Und ARD-Talker Reinhold Beckmann ist auf dem besten Wege, ein scharfen Kritiker der Elche zu werden "Qualität ist wichtiger als Mainstream" sagte er etwa der Bunten (dwdl.de). +++ "Erst nachdem sein Abschied feststand, hat Beckmann zu eigener Form gefunden", stößt Joachim Huber (Tsp.) ihm Bescheid. +++ Während Stefan Niggemeier sich über Amazon-Fans von Beckmanns Musik wundert. ... +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.
 

 

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