Schwermut unterm Zuckerhut

Schwermut unterm Zuckerhut

Die Medienthemen auf einen Blick: Acta, c-base, twitternde Politiker, Leistungsschutzrechtstreit, neues SZ-Layout. Außerdem geht das ZDF zur WM 2014 nicht an den Strand, eine neue Sex-Talkshow bekommt gute und schlechte Kritiken, und Markus Lanz bekommt nur eine schlechte, das dafür sehr.

Die Nachricht des Tages, nach all den Artikeln in den vergangenen Wochen, die von Usedom, vom Fußballstrand, von KMH und OK handelten, lautet heute: Das ZDF wird während der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien nicht vor einer Strandkulisse vordergrundberichten.

Das habe Intendant Thomas Bellut vor dem ZDF-Fernsehrat versprochen, steht in der Süddeutschen Zeitung (S. 37). Und nachdem die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in der Rubrik "Die lieben Kollegen" noch einmal ein wenig gegen die Fußballstrandperformance des Senders nachgetreten hat (Anlass: der am Freitag auch im Altpapier erwähnte FAZ-Gastbeitrag (Korrektur: nicht Interview) von ZDF-Chefredakteur Peter Frey, dessen Argument – "beeindruckende Zuschauerzahlen" – die FAS nicht recht überzeugend finden will), dürfte das auch an dieser Stelle gewissenhaft bearbeitete Thema "Fußball-EM/ZDF/Usedom" hiermit womöglich wirklich beendet sein.

Bitte erheben Sie sich von Ihren Plätzen, und singen Sie laut eine Schweigeminute mit. 2014 freuen wir uns dann auf "Schwermut unterm Zuckerhut" – wäre das nicht vielleicht sogar ein Sendungstitel?

Wenn die Nachricht des Tages allerdings lautet, dass es 2014 etwas nicht geben soll, heißt das auch: So eng an eng stehen die Medien-News heute nicht nebeneinander herum.

Der kleine SZ-Text über Brasilien/Usedom usw. handelt auch davon, dass der Unterhaltungsdampfer Informationssender bis zum Jahresende etwa 100 weitere Stellen abbaue. Was für echte Junkies freilich keine News ist, sie lief schon am Freitag über die Ticker. Die SZ:

"Künftig, sagte Bellut, gehe es vor allem um die Frage, wo sich das ZDF strategisch verkleinern und reduzieren könne. Vermutlich bei den Digitalkanälen, das hatte der ZDF-Intendant zuletzt wiederholt angedeutet."

Und da sind wir bei einem am Wochenende sorgfältig durchrezensierten Programm: "Im Bett mit Paula", eine neue Talkshow, die seit gestern immer sonntags bei ZDF-Kultur läuft. Passenderweise in sechs Folgen, denn es geht um Sex, ha ha... und das sind jedenfalls wohl genau die Witze, die es dort nicht zu hören gibt. Harald Staun lobt in der FAS jedenfalls die

"unglaubliche Normalität der Rede, die völlig ohne Pointenzwang und redaktionelle Gimmicks auskommt".

Allerdings sind die Meinungen gespalten, und zwar ziemlich: Während Focus Online den Newswert der Gespräche lobt ("Wenn Nilz Bokelberg erzählt, er halte nichts von Analverkehr, denn er habe 'gerne Platz', muss man lachen. So konkret hat man das im Fernsehen noch nicht gehört"), findet Spiegel Online die Sendung – und vor allem die männlichen Gäste – ein wenig verklemmt:

"(A)ußer für Exhibitionisten ist Sextalk eben doch eher Privatsache, und so sind die Gäste zwar zuweilen ulkig verlegen, erzählen, dass das erste Mal zu kurz war, reden über Brüste und Hintern, während Paula erklärt, warum sie hängende Säcke nicht mag. Dazu fallen ZDF-untypische Vokabeln wie Vagina, Schaft und ficken so selbstverständlich, dass die Anstandswauwaus vom Lerchenberg schon früher ins Bett geschickt worden sein müssen. Aber wirklich zur Sache geht es eben einfach nicht, weder sprachlich noch haptisch".

Die Süddeutsche ist da recht nah an SpOn (geht da was?) und fordert zudem dann aber auch noch eine Innovation von Rang und Namen im Programm:

"Es gibt viele Leute, die über Sex sprechen. Das hat bei Erika Berger vielleicht mal als Sendung funktioniert, aber da war das Fernsehen noch analog und nicht so endlos von sich selbst gelangweilt. Im Bett mit Paula ist der Versuch, erst ein Tabu zu behaupten, und es dann angeblich zu brechen. Dieser Versuch also wird von einem namentlich kulturellen Spartenkanal unternommen, der für das große ZDF Wichtigeres zu leisten hätte – zum Beispiel die Entwicklung einer nennenswerten und guten Literatursendung."

Aber eine Literatursendung, die 24 Stunden dauert, wird andererseits wohl auch kaum gewünscht sein. Am nähesten dran an Moderatorin Paula Lambert ist derweil die Berliner Zeitung (und damit auch die Frankfurter Rundschau), die mit ihr gesprochen hat. Und es steht auch im Text, woher der etwas engere Bezug kommt:

"'Paula Lambert' ist eine Erfindung der Autorin Susanne Frömel, die auch Reportagen für die Berliner Zeitung geschrieben hat. Inzwischen tritt sie fast ausschließlich als 'Paula' auf, auch im Gespräch im Nebenraum jenes Interview-Schlafzimmers."

Die FAS übrigens empfiehlt, das Bett, in der die Gastgeberin mit ihren "mittelprominenten" Gästen liege, mal an Frank Plasberg oder Maybrit Illner auszuleihen: "Dann könnten sich auch ihre Gäste mal wie Erwachsene benehmen." Das kann man vielleicht als den ultimativen Talkshowbash verstehen: Wenn diese Frau mit ihren Gästen über Sex redet, kommt, auch ohne Straßenumfrage, mehr raus als in den ganzen anderen Dingsens-Shows.

[+++] Dass die den von Medienkritikern vergebenen "Phrasendrescher der Woche" erhalten, ist aber nicht ausgemacht; Meedia hat noch ein paar weitere Kandidaten ausgeguckt, darunter Christoph Keese, Springers Verlagsinteressenvertreter, der in Sachen Leistungsschutzrecht auch für den Rest der Verleger-Rasselbande spricht. Ausgangspunkt ist Stefan Niggemeiers gut lesbarer Blog gegen Keese, auf den letzterer mit einem tatsächlich weniger gut lesbaren Blog geantwortet hat: "Abbrennen des ganzen fachchinesischen Blendwerks", fasst Meedia zusammen.

Das sind zwei Kritikpunkte in einem: a) Fachchinesisch, b) Blendwerk. Wolfgang Michal bescheint Keese bei Carta dagegen, "sachverständig" geantwortet zu haben, was beide Vorwürfe zugleich relativiert. Er weist beiden Bloggern Auslassungen nach und rückt den Konflikt um Macht zwischen Verlagen und Google ins Zentrum seiner Betrachtung. Für Anfänger ist das alles kaum nachvollziehbar, aber die Fähigkeit, das Leistungsschutzrecht zur Zufriedenheit aller auf Populärchinesisch zu erklären, hat bislang ja noch niemand unter Beweis gestellt:

"Die Verlage fordern, dass jeder Inhalt aus ihren Häusern eine individuelle Nutzungsbedingung im Quelltext mitführt. Einen Berechtigungsschein, der bei jeder Datei anders aussehen kann. Auf diese Weise könnten die Verlage den Informations-Hahn nach Belieben auf- oder zudrehen. Sie hätten die alleinige Verfügungsmacht. Dass Google sich diesem Ansinnen (bislang) nicht beugt, weist darauf hin, dass der Konzern mehr sein will als nur eine dienstleistende Suchmaschine."

[+++] Was uns zum letzten größeren Medienressortthema führt: In FAS wie Spiegel geht es um Teile der sog. Netzöffentlichkeit. Die FAS hat der "Berliner Hackerhöhle c-base" einen Besuch abgestattet und damit Protagonisten der Netzöffentlichkeit, die nun mit einem gestiegenen Interesse leben müssten – wobei eine Beobachtung im Zentrum steht: Es gebe nicht den Hacker, der entweder politisch engagiert oder Verbrecher sei.

"Deutlich wird (...), dass es im Hackerspace nicht um politischen Tiefgang oder Programmieren, sondern um Tüfteleien und Handwerk geht. (...) Die anderen Nerds im Memberbereich ignorieren mich auf der Tour. Letztendlich ist der Verein ein Schutzraum, in dem sie auf Gleichgesinnte treffen wollen und nicht auf Journalisten. Nicht alle freuen sich über das gestiegene Interesse an ihrer Leidenschaft."

Im Internet, wie man so sagt, gibt es auch kritische Worte: Es sei ein "ratloser Text", twittert @ChristophKappes, daraufhin fällt das Wort "Nerdvoyeurismus", und wiederum Kappes schreibt: "Wenn ein Informatiker drei Stunden in der FAZ-Redaktion gewesen wäre, hätte er wohl auch nur belanglose Bilder berichtet."

Und der Spiegel (S. 76 f.) schreibt noch einmal über das Scheitern von Acta (siehe auch Altpapier vom Mittwoch) und "die neue internationale Netzöffentlichkeit, auf die jede Regierung Rücksicht nehmen muss" – und verteidigt den "digitalen Mob" (FAZ) gegen pauschale Kritik:

"Sicher gab es bei den Anti-Acta-Protesten Auswüchse, es gab Cyber-Attacken gegen Parlamente und ein Anonymous-Video, das ein überzogenes Schreckensbild eines Überwachungsstaats zeichnete. Doch das allein kann den Protest nicht diskreditieren gegen ein viel zu lange hinter verschlossenen Türen verhandeltes Abkommen, das schon deshalb kritikwürdig war, weil Hochburgen der Produktpiraterie wie Russland, Indien und Vietnam nie zum Verhandlungskreis gehörten."


ALTPAPIERKORB

+++ Dass es mit der Schaffung eines neuen Gesellschaftsgesprächs gleichzusetzen ist, wenn Politiker twittern, bezweifelt Robin Alexander in der Welt am Sonntag: "Erstaunlich viele Politiker benehmen sich im Netz, als säßen sie in 'Waldis EM-Club.'" Und er schreibt auch darüber, welche Fallstricke lauern: "Am Dienstag vor einer Woche twitterte (Georg Streiter, der stellvertretende Regierungssprecher): "#Kanzlerin gegen #Euro-Bonds u.ä.: keine gemeinschaftliche Haftung für Schulden europäischer Staaten, solange ich lebe!" und fügte einen Link zu einem Bericht über die Sitzung der FDP-Fraktion an, in der die Kanzlerin überraschend diese erstaunliche Festlegung getroffen hatte. Der Sprecher hatte nicht falsch informiert. Merkel hatte das wirklich so gesagt. Das Problem war: Sie hatte es so nicht sagen wollen. Die Festlegung war ihr entschlüpft. Ihre Mitarbeiter hätten den harten Satz gern wieder eingefangen und relativiert" +++

+++ Die taz druckt einen Gastbeitrag der Grünen Oliver Passek und Cem Özdemir (Autorenreihenfolge offiziell andersherum) zur Medienpolitik. Es geht darum, was die Öffentlich-Rechtlichen – so geht der Jargon – "im Internet dürfen". Und es gibt einen ganz heißen Tipp: "Den Zeitungsverlegern wäre auch nicht geholfen, wenn die öffentlich-rechtlichen Sender im Internet weiter begrenzt würden. Beide Seiten sollten sich vielmehr verbünden, um in den hybriden Medienzugängen von morgen überhaupt noch wahrgenommen zu werden." Was uns Medienlangzeithistoriker prompt an good ol' Jürgen Doetz – freilich kein Verleger, aber ja doch sowas Ähnliches, politisch betrachtet – vom Mai 2012 erinnert (Altpapier). Siehe zur grünen Medienpolitik auch die Funkkorrespondenz, am Freitag an dieser Stelle verlinkt +++

+++ Der Tagesspiegel befasst sich mit digitalen Briefkästen für Whistleblower und hat dazu etwa die Investigativjournalisten Oliver Schröm (Stern) und Hans Leyendecker (SZ) befragt; ein instruktiver einführender Text zu einem zu Openleaks-Zeiten oft aufgegriffenen Thema +++

+++ Die Süddeutsche hat ihr Layout sachte reformiert, hier schreibt der Chefredakteur darüber; dazu gibt es ein kress.de-Interview mit dessen Stellvertreter. Ob die Medienseite der überregionalen Ausgabe, die bislang dem Feuilletonbuch zugeordnet war, in Zukunft hinter "München/Bayern", "Jetzt.de", "KfZ-Markt" und "Rätsel" auf Seite 37 bleibt oder nur heute dasteht, wird zu verfolgen sein. Seite 37 ist natürlich auch schön +++ Was steht da heute, abgesehen von dem kleinen ZDF-Fernsehrat-Usedom-Sparprogramm-Text (siehe oben)? Der Aufmacher ist einem Jubiläum gewidmet: Vor 50 Jahren wurde der erste Telekommunikations-Satellit ins All geschossen, wodurch etwa "die Live-Berichterstattung fürs Fernsehen zwischen den Kontinenten Europa und Amerika" ermöglicht worden sei. Ein Jubiläum, das die Rolling Stones, die ihren 50. gerade hinter sich haben, und Bob Dylans "Blowin in the wind", das ebenfalls exakt 50 ist (taz), gleich noch ein wenig frischer wirken lässt +++

+++ Im Spiegel kriegt Markus Lanz für seinen anbiedernden Talkstil ("Man muss schon eine echte Enttäuschung gewesen sein, als Gast bei Lanz, wenn er sich zum Abschied bei einem nicht 'sehr, sehr herzlich' bedankt"), seine schlechten Geografie-Witze ("Morgens Elmex, abends Ural") und seine Interviewtechnik, die das beharrliche Wiederholen sinnloser Fragen beinhaltet, einen Zwei-zweidrittel-Seiten Text, herzlichen Glückwunsch. "Die Biederkeit des lanzschen Vergnügens korrespondiert mit einem konservativen Populismus." Und das übersetzt der Spiegel nach "Wetten, dass..?": "Es könnte alles sein wie bisher. Und das ist kein Grund zur Freude" +++ Mehr lanzsches Vergnügen: Max Mosley zeigt Google an, weil der Konzern Zugang zu Mosleys privaten Sex-Videos ermögliche, die eigentlich gar nicht, na ja, das wäre mal ein Fall für Paula Lambert (Spiegel; Zusammenfassung bei Meedia) +++

+++ Im Fernsehen laufen auch heute Dinge: Die FAZ bespricht nach dem ersten auch den heutigen Teil der SWR-Dokumentarfilmreihe (23.30 Uhr): "Ein Fall für Fitik-Yarisan" +++ Der Tagesspiegel bespricht "Geschichte im Ersten: Westware aus dem Ostknast", ARD, 23.30 Uhr) +++ Die SZ bespricht "Die Story: Mama, hör auf damit! Wenn Mütter ihre Kinder missbrauchen" (ARD, 22.45 Uhr) und ein Radiofeature über Norwegens Black-Metal-Szene ("Schwarze Schafe", WDR 3, 23.05 Uhr) +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

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