Ganz drüben

Ganz drüben

Günter Wallraff wird von der WamS auf Stasiverbindungen durchleuchtet. Wir haben noch einen weiteren schrecklichen Verdacht: Steckt Wallraff womöglich auch hinter Hans Esser? Ein Pirat gibt ein Zitat frei, von dem er schon weiß, dass es ziemlich dämlich ist, und die Empörungsmaschine rollt an. Dazu Nachbetrachtungen zum Verhältnis von ARD und "Gottschalk live"

 

"Kam Ali aus Ost-Berlin?", fragt die Welt am Sonntag. Ali, Ali – genau, Günter Wallraff. Ali war der Deckname des Journalisten während seiner Recherchen zum Bestseller "Ganz unten", für den er recherchierte, was ein Mann, der wie ein türkischer Arbeiter aussieht, "zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann", so Wallraff seinerzeit (S. 12, Ausgabe 1985). Die WamS:

 

"Günter Wallraff wurde zum Vorbild für Generationen junger Journalisten. Er ist es, in gewisser Weise, bis heute geblieben. Trotz des Verdachts einer Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit."

 

Ausführlich zitiert wird zum Beleg etwa eine Spiegel-Ausgabe von 2003. Und weiter:

 

"Tatsächlich gibt es nun Hinweise, die diese Nähe einmal mehr bestätigen. (...) Sie lassen nicht nur Günter Wallraffs Verhältnis zur DDR und deren Staatssicherheitsdienst in einem sehr zweifelhaften Licht erscheinen, sondern auch und vor allem – ausgerechnet – das erfolgreichste Buch des Autors: seinen Bestseller 'Ganz unten'."

 

Daran habe nämlich die Stasi mitgeschrieben, konkret: ein "Top-Spion" namens Frank Berger: "Jenen Frank Berger (..) weisen Stasi-Akten als mutmaßlichen Agenten des DDR-Geheimdienstes aus." Von dem Stasi-Verdacht gegen den Mitarbeiter habe er nichts gewusst, sagt Wallraff selbst. Ob das alles nun an den Recherchen zu "Ganz unten" zweifeln lässt, oder nur über den Stasi-Umweg die Glaubwürdigkeit des Bild-Kritikers Wallraff beschädigen soll, bleibt etwas vage, man kann es sich je nach Blockzugehörigkeit vielleicht selbst aussuchen. Die taz  fasst via dpa zusammen: "Die Frage ist, ob der Autor 'willentlich und wissentlich' für den Dienst gearbeitet hat" – das sah das Hamburger Oberlandesgericht, das es als erwiesen angesehen habe, dass Wallraff in Stasiunterlagen als "IM" registriert wurde, 2006 als nicht bewiesen an.

 

Was bei alldem irgendwie ein irrer Zufall ist: Gerade noch hat Bild-Chefredakteur Kai Diekmann den Journalisten Wallraff, der einst auch ein Buch über die Methoden der Zeitung schrieb ("Der Aufmacher"), zur Aufarbeitung eines "dunklen Kapitels" in der Geschichte seines Blatts empfangen (siehe taz vom 31. März und Altpapier des Tages). Und nun wird Wallraff mit der unverbissenen Fröhlichkeit, für die Springer-Zeitungen so geschätzt werden, auch schon zurück auf die andere Seite der Mauer verwiesen. Ein kleiner Hinweis darauf, dass Wallraff und Springer eine gemeinsame Geschichte haben, ist immerhin vorhanden:

 

"(S)eine Art der Recherche, andere Identitäten anzunehmen, sich bei Industriebetrieben als Arbeiter anstellen zu lassen, als Türke 'Ali' bei verschiedenen Firmen oder als 'Hans Esser' bei der 'Bild'-Zeitung einzuschleichen, hatte ihm auch international Anerkennung eingebracht."

 

[+++] Das eigentlich größte Medienthema des Tages ist aber ein Zitat des Fraktionsgeschäftsführers der Berliner Piratenpartei, Martin Delius, im Spiegel, das in der Titelgeschichte über die Partei auftaucht ("Avanti Dilettanti"):

 

"Der Aufstieg der Piratenpartei verläuft so rasant wie der der NSDAP zwischen 1928 und 1933."

 

Äh, what? Äh, ja wirklich. Am Sonntag entschuldigte sich Delius in seinem Blog für das Zitat, das ihm "wirklich so passiert" sei. Er habe "keine strukturellen inhaltlichen oder historischen Gemeinsamkeiten" andeuten wollen und wolle, schreibt etwa prominent die Berliner Zeitung, nun nicht mehr für das Amt des Bundesgeschäftsführers kandidieren.

 

Man kann sich aber die Wallung ungefähr vorstellen, die ein solcher Satz bei Twitter und an den redaktionellen Newsdesks da bereits verursacht hatte, zumal in einer Phase, in der die Piratenpartei gerade über ihren Freiheitsbegriff und die Grenzen ihrer Offenheit, auch etwa für rechtsextreme Positionen, diskutiert. "Berliner Pirat vergleicht Aufstieg der Partei mit dem der NSDAP", titelte Spiegel Online am Sonntag, was dann die Diskussion ins Rollen brachte.

 

Die Reaktionen reichen von "Erst denken, dann reden" über "Der Satz ist voellig korrekt. Das Problem entsteht erst im Kopf der Leser" bis zu "So dämlich der Vergleich war, die kontextlose Skandalisierung durch SpOn ist der eigentliche Skandal".

 

Allerdings fordert der ziemlich dämliche Satz, medial und speziell medienjournalistisch betrachtet, auch eine Frage heraus, die etwas von der Aufregung wegführt: Wollte Delius als erster Politiker überhaupt (kleine Zuspitzung) seine Zitate am Ende nicht autorisieren? Um das herauszufinden, hilft es, den Spiegel-Text dann vielleicht doch noch im Zusammenhang zu lesen. Da steht:

 

"Am Ende des Gesprächs sagt Delius: 'Der Aufstieg der Piratenpartei verläuft so rasant wie der der NSDAP zwischen 1928 und 1933.' Er erschrickt über seine eigenen Worte, aber weil er transparent sein will, steht er zu diesem kruden Vergleich. Kurz nach dem Gespräch verbreitet ihn Delius auf Twitter" (hier der wohl gemeinte Tweet vom 16. April).

 

Was dann wieder zur Frage nach den Konsequenzen der Transparenz führt: Wenn man Transparenz will, müssen auch Politiker mal dummes Zeug sagen dürfen. Die Frage wäre dann nur noch: wie dumm. Wenn vielleicht mal jemand ein Liquid-Programm entwickeln könnte, mit dem man das herausfinden kann?

 


ALTPAPIERKORB

 

+++ Das "zuletzt immer heftiger werdende Internet-Bashing", das Carta gerade dem gedruckten Spiegel vorwirft, ist heute nur mit großer Mühe zu finden: Die Titelgeschichte ist kein Bashing, und auch der Text über Anonymität im Internet ist keines. "Vermutlich ist der beste Weg, Internetdebatten zu zivilisieren, dass die Nutzer die lautesten Schreihälse schlicht ignorieren", empfiehlt das Autorenteam (S. 88ff.) anstelle etwa eines Verzichts oder einer wie auch immer gearteten Quasi-Abschaffung der Anonymität – schon weil eine Zwangsregistrierung, wie in Südkorea ausprobiert, nicht funktioniere: "die führten ihre Debatten einfach über Twitter oder Facebook, deren Server im Ausland stehen", wird eine NGO-Mitarbeiterin zitiert +++ Ebenfalls der in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Anonymisierungsfrage nimmt sich das SZ-Feuilleton an (S. 11) und stellt eine ganz ähnliche Position ins Zentrum: "Dirk Heckmann, Pionier in Sachen IT-Recht und Leiter der Passauer Forschungsstelle, plädiert ebenfalls für das 'Aushalten' der unschönen Seiten der Anonymität, sodann aber für einen 'Anonymitätsfolgenausgleich'. Dieser müsse die Medienkompetenz, die Bereitschaft zum Perspektivwechsel, ja zum Verzeihen fördern" +++

 

+++ Die Carta-Einlassung zum Spiegel bezieht sich auf den offenbar im Spiegel-Haus stattfindenden Konflikt über die Frage: Paywall oder nicht?, über den auch Meedia schon geschrieben hatte +++ Der Spiegel selbst bearbeitet das Thema Paywall in einem Text über die Bundesligalizenz für Axel Springer: "Ein Großverlag kauft sich Übertragungsrechte, auch um damit sein bisheriges Gratis-Online-Angebot attraktiver zu machen – wohl so attraktiv, dass Springer künftig von seinen bild.de-Usern dafür Geld haben möchte" (S. 92) +++

 

+++ Die ARD habe, Stichwort Bundesliga, eine Einigung über die Radio-Übertragungsrechte im Februar abgelehnt, so die SZ, man "wollte der DFL nicht durch eine frühe Einigung auf Basis einer ungefähr zehnprozentigen Preissteigerung das Gefühl vermitteln, die ARD sei bei der Fernsehrechteversteigerung zu allem bereit. (...) Sollte sich die DFL einen neuen UKW-Partner suchen oder basteln, wäre das für die ARD kein geringes Konferenzproblem" +++

 

+++ Und nochmal Fußball: In einem Artikel über die Sparauflagen, die das ZDF erfüllen muss, und in dem später noch Programmfragen erörtert werden, stellt Michael Hanfeld natürlich völlig zurecht den Kauf der Champions-League infrage: "Dass sich das ZDF zugleich für mehr als fünfzig Millionen Euro pro Jahr die Senderechte an der Champions League gesichert hat, folgt indes einer Logik, die nur noch die Allereingeweihtesten verstehen – zum Beispiel die Ministerpräsidenten und Medienpolitiker in den Aufsichtsgremien des Senders" +++ Die taz nimmt sich dagegen zunächst den jüngsten Verjüngungskurs des ZDFs vor, bevor sie dann zum Schluss zum Sparkurs kommt +++

 

+++ "Gottschalk live" wird abgesetzt, und alle Fragen offen. Alle? Stefan Niggemeier in seiner Spiegel-Kolumne und Friedrich Küppersbusch in seiner taz-Kolumne fürchten: doch nicht. Küppersbusch: "Nun werden wir schmutzige Lieder hören nach der Melodie "Wenn ein mäßig journalistisches Programm selbst mit Gottschalk dort nicht funktioniert, müssen wir ja Unterhaltungsschrott senden." Das ist Selbstverstümmelung. Der ARD". Niggemeier: "Die Fernsehverantwortlichen (...) werden aus dem spektakulären Scheitern sicher die falsche Konsequenz ziehen, das sich Risiken nicht lohnen, und ihre sonstige Mehr-vom-Gleichen-Strategie fortsetzen" +++ Die Hintergründe von Gottschalks Absetzung nimmt sich die Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau vor: Er "soll mit seiner lediglich 25 Minuten dauernden Sendung sogar dafür verantwortlich sein, dass das Erste insgesamt in der Publikumsgunst auf den vierten Rang abgerutscht ist.
Sollte das stimmen, müsste die ARD ja nach der Sommerpause in der Zuschauergunst nach oben schnellen. Falls nicht, braucht es einen neuen Schuldigen"
+++

 

+++ Talkshows? Weiß jeder, was das ist? Laufen im Fernsehen. Der Tagesspiegel kritisiert die Talkshowthemen dieser Woche – Schicksalsschläge und, allen Ernstes, Baumärkte: "Es ist der Sieg des Greif- bis Begreifbaren über das Komplexe, Strukturelle, Uneindeutige. Warum abstrakt, wenn es menschlich geht?" +++ Dem Spiegel ist die Themenauswahl ebenfalls aufgefallen, dort geht es allerdings vor allem um den Plan einiger ARD-Intendanten, die Talkshowschiene auf vier zu begrenzen, womöglich Ende 2013 +++

+++ Die für Leser schönsten Rezensionen sind die Verrisse und die Hymnen. Ersteres heute in der SZ (S. 15) über den "absurd schlechten" ZDF-Film "Mein eigen Fleisch und Blut" (20.15 Uhr): "Nach rasanten elf Minuten ist das gesamte dramatische Potential auf dem Tisch. Doch Mein eigene Fleisch und Blut dreht nach gängiger deutscher Fernsehfilmart jetzt erst richtig auf. Veronika trennt sich von Robert, sie wiederum verliert ihren Job und fährt in den Schreckensort ihrer Kindheit, ins elterliche Dorf, in das sie seit über zwanzig Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hat, und damit keine Fragen offen bleiben, hört man dazu Hurt von Johnny Cash" +++ Die FAZ findet's auch, aber nicht ganz so beknackt: "Wir sehen holzschnittartige Charakteren: die Karrierefrau, den bösen Vater, den Junkiesohn. Franziska sagt Sätze wie: 'Ich weiß, ich komme spät, und ich habe kein Recht dazu, aber ich möchte trotzdem , dass du mir eine Chance gibst.' Und doch täte man dem Drehbuch unrecht, wenn man es ganz abtäte" (S. 31) +++

+++ Die Süddeutsche Zeitung stellt das Social Network "Salamworld" vor, ein "globales soziales Netzwerk auf der Basis islamischer Prinzipien", von dem der PR-Direktor behauptet, es sei das einzige, das von Muslimen gemacht werde. Aber gab es nicht mal ein (derzeit – oder für immer? – nicht aufrufbares) Netzwerk namens Madina.com? +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag.

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