Gute Nacht, Herr Vorkötter!

Gute Nacht, Herr Vorkötter!

Ist Berlin das neue Moskau? Beziehungsweise: Hat der Präsident eines Profifußballclubs einen Sportjournalisten „weggemobbt“? Außerdem auf der Agenda: Zapfenstreich-Nachbereitung.

„Das sind durchaus schöne Bilder, das kann man ja auch mal sagen“, sagte Erhard Scherfer, der Mann vom so genannten Ereignissender Phoenix, als gestern Abend schon beinahe die Ereignislosigkeit eingekehrt war rund um das Schloss Bellevue und die Gäste bereits abmarschierten. Der für die Zapfenstreich-Übertragung rekrutierte Hauptstadtjournalist Stephan-Andreas Seelmann-Eggebert hatte gerade die Einschätzung kundgetan, es sei bemerkenswert, dass Guido Westerwelle Bettina Wulff geküsst habe, beim Neujahrsempfang habe er dies nämlich nicht getan. Musste Scherfer vielleicht einfach nur etwas akustisch Wahrnehmbares von sich geben, damit der Zuschauer außer den Vuvuzelas überhaupt noch etwas zu hören bekommt? Hoffen wir das mal für den 51-jährigen Westfalen. Hoffen wir nicht, dass die Formulierung mit den „schönen Bildern“ irgendeine Bedeutung hatte. Auf eine Art irgendwie schön, um bei Scherfers Wortwahl zu bleiben, geriet dann zumindest manche Überschrift zum Event, etwa in der FTD („Wulffs letztes Gratiskonzert“) oder in der FAZ („Den Regenbogen überschritten“)

Nicht Phoenix, sondern das Erste Programm hat Steffen Grimberg für die taz geguckt. Ihm ist aufgefallen, dass „Wulff wie immer avantgardistisch von hinten übers linke Ohr“ gezeigt wurde. Außerdem amüsiert sich der taz-Mann über die Bonmots des in den Zustand der Nicht-Mehr-Parodierbarkeit abgeglittenen ARD-Onkels Ulrich Deppendorf. Etwa dieses:

„Das ist ein Abend, den man sich so nicht hat vorstellen wollen. Vielleicht geht dem einen oder anderen der Gedanke durch den Kopf, ob man nicht hätte doch verschieben wollen sollen.“

Auch nicht schlecht die Erläuterung Deppendorfs zu dem Song „Over the Rainbow“: „Der Sänger in dem Lied“ könne „sich nach dem Traum dann was wünschen, tja“.

[+++] Als eine Art Held geht aus dem heutigen Vergleich der Medienseiten der Sportjournalist Matthias Wolf hervor. Ein unfreiwilliger Held natürlich. Wolf hat kürzlich seine Mitarbeit bei der Berliner Zeitung eingestellt - und es wäre ihm wohl lieber gewesen, es wäre nicht dazu gekommen. Michael Reinsch berichtet in der FAZ - für die Wolf, das ist in dem Artikel auch erwähnt, gelegentlich schreibt - ausführlich über den Fall. Eine zentrale Rolle spielt in der Causa ein im Juli 2011 in der Berliner Zeitung erschienener Artikel Wolfs über Dirk Zingler, den Präsidenten des Fußball-Zweitligisten 1. FC Union Berlin. Der Vereinsboss hatte

„in den achtziger Jahren Dienst beim Wachregiment ‚Feliks Dzierzynski‘ geleistet, das dem Staatssicherheitsdienst unterstand“.

So fasst die FAZ die Kerninformation des Beitrags zusammen. Die Enthüllung passte nicht so recht zur Anti-Stasi-Folklore, die der Verein pflegt, und deshalb passte vielen Fans diese Art des Investigativjournalismus überhaupt nicht:

„Aufgebrachte Kunden stornierten Anzeigen (...) und kündigten ihre Abonnements. Union verbat sich die Berichterstattung von Wolf nicht nur pauschal; Zingler teilte dem Chefredakteur der Zeitung im persönlichen Gespräch mit, dass Wolf nicht willkommen sei.“

Die Strategie hatte offenbar Erfolg, denn: ?

„Nach zwei so genannten Korrekturmeldungen, die Union der Zeitung auf Berichte Wolfs hin abtrotzte, forcierte der Chefredakteur Uwe Vorkötter den Abzug des Reporters von Union.“ 

Mit Vorkötter hat Reinsch auch gesprochen, aber der wollte „sich gegenüber dieser Zeitung“ nicht „zu dem Vorgang zitieren lassen“, ebensowenig wie der Chef des Sportressorts. Aber es gibt ja bessere Zitate, zum Beispiel von einem ehemaligen Union-Präsidenten, der in einer Mail an Vorkötter schrieb:

„Wenn wir so weit sind, dass es einem Fußballpräsidenten gelingt, einen Sportjournalisten wegzumobben – dann gute Nacht zu Ihrem Blatt.“

Insgesamt klingt das alles eher nach Moskau als nach Berlin. Auch auf die Gefahr hin, dass die Frage vielleicht naiv wirkt: Wenn schon ein Fußball-Zweitligist so viel Macht hat, die Berichterstattung einer Hauptstadtzeitung zu beeinflussen - wie viel Einfluss haben dann Organisationen und Institutionen, die man gemeinhin für mächtiger hält? Oder gibt es heutzutage gar nichts Mächtigeres mehr als populäre Fußballclubs?

[+++] Für Investigativjournalismus, wie ihn der Sportjournalist Wolf pflegt, steht auch der Recherche-Blog von DerWesten, der sich aktuell mit der Nachberichterstattung zum Love-Parade-Unglück im Sommer 2010 beschäftigt. David Schraven schreibt:

„Knapp einen Tag nach der Katastrophe der Loveparade wurde nach meinen Recherchen im Lager des Loveparade-Chefs Reiner Schaller die Idee geboren, mithilfe einer Pressekampagne die Schuld am Desaster der Polizei in NRW in die Schuhe zu schieben. (...) Dass Schaller eine Pressekampagne brauchte, um von Fehlern in den eigenen Reihen abzulenken, ist bei einem Blick in die Akten nachvollziehbar.“

[+++] Hans Leyendecker und Nicolas Richter, die Kollegen aus dem Investigativressort der SZ, schreiben auf der Seite Drei ihrer Zeitung heute über den vom FBI „umgedrehten“ Ex-Anonymous-Hacker Sabu, der bis August 2011 „an allen Aktionen beteiligt“ war, die die Gruppierung „in den vergangenen Jahren berühmt gemacht hatten“ (siehe auch Altpapierkorb vom Donnerstag):

„Polizei und Beobachter der Hackerszene sind sich darin einig, dass die Bewegung noch nie einen solch harten Schlag verkraften musste. Dass sich ein Anführer mehr als ein halbes Jahr lang dem Erzfeind, der US-Bundespolizei, zur Verfügung gestellt, dass er Gleichgesinnte denunziert hat, um seinen Kopf zu retten, das verursacht in der Szene Aufruhr. (...) Langfristig könnte der Fall Sabu die Hacker-Bewegung deswegen schwächen, weil sie zwar auf die Macht der Masse setzt, ein jeder in der Masse aber nicht mehr weiß, wem er trauen, auf wen er sich verlassen kann. Es ist nicht der erste Fall von Verrat in diesem Milieu, das sich oft als letzter aufrichtiger Widerstand gegen etablierte, unterdrückerische Mächte geriert. Die Motive der Beteiligten sind nicht immer so edel, wie sie dargestellt werden, und die Treue zueinander oder zur gemeinsamen Sache erweist sich immer wieder als eine vermeintliche.“

[listbox:title=Artikel des Tages[Der hilflose Deppendorf (taz.de)##Feuilleton: Anything goes, außer NSU (Jüdische Allgemeine)##Immer noch keine Pressefreiheit in Ägypten (Tagesspiegel)]]

Weitere Hintergründe zu dem Fall, insbesondere Einzelheiten zu dem letzten Coup von Anonymous, findet man bei ars technica. Die Essenz jenes Artikels twittert Detlef Borchers

[+++] Eine Grundsatzdebatte könnte Thierry Chervel mit einem Text anstoßen, den er für die Jüdische Allgemeine geschrieben hat. Ihm ist aufgefallen, dass in den für politische und sonstige Debatten seit jeher offenen Feuilletons dieses Landes zwar ausführlich über den Massenmord des norwegischen Rechtsextremisten Anders Breiviks diskutiert wurde, aber „nicht annähernd so intensiv über die Zwickauer Nazigruppe“:

„War ihre Tat nicht, auf ganz andere Art, ebenso unheimlich und bestürzend wie die Breiviks? (...) Bei den Zwickauer Nazis gilt die übliche Arbeitsteilung: Dieses Thema wird auf den Politikseiten behandelt. Das Feuilleton scheint nicht so interessiert.“

Chervels Fazit:

„Man muss fürchten, dass die Feuilletons völlig anders reagiert hätten, wenn die Zwickauer Bande in ihrem Video Sarrazin zitiert hätte. Aber die Wirklichkeit folgt nicht immer medialen Reiz-Reaktions-Schemata.“

Thomas Kuban, jener Journalist, der seit Jahren sein Leben in Gefahr bringt, weil er sich in Nazirock-Konzerte einschleicht (und darüber auch im Feuilleton berichtet), wird derweil bei publikative.org gewürdigt:


Altpapierkorb

+++ Über die radikale Offenheit des Guardian berichtet die Berliner Zeitung (die, was eigene Angelegenheiten betrifft, derzeit nicht so offen ist, siehe oben): „Wurden in der Vergangenheit schon Redakteure bestochen, um zu erfahren, was bei der Konkurrenz im Blatt stehen wird, ist das beim Guardian gar nicht mehr nötig. Die britische Qualitätszeitung hat einen fast gläsernen Produktionsraum etabliert: Jeder im Netz kann in Echtzeit verfolgen, um welche Themen sich die Guardian-Redakteure in der nächsten Ausgabe kümmern werden. (...) Ausgeklammert werden nur Scoops, die rechtlich noch nicht abgesichert sind.“

+++ Mehr Betrachtungen zur geplanten Reform des Kulturprogramms WDR 3 sowie den Protesten der Gruppe „Radioretter“ (siehe Altpapier): Thomas Assheuer schreibt im Zeit-Feuilleton (S. 45), es sei bezeichnend, dass der WDR „beim Kulturprogramm von ‚Effizienzsteigerung‘, von ‚Optimierung‘, von ‚Controlling‘“ rede. „Diese Formeln aus dem Phrasenbestand von Unternehmensberatern sind einer öffentlich-rechtlichen Anstalt unwürdig.“ Assheuer kritisiert auch das Kulturverständnis des - im Text allerdings nicht namentlich genannten - WDR-Hörfunkdirektors Wolfgang Schmitz, der die Reform verteidigt: „Diese ‚Kultur‘ hilft nicht, die Welt verständlich zu machen; sie ist dafür da, den Hörer vor der unverständlichen Welt zu schützen (...)“ Die Funkkorrespondenz blickt schon einmal voraus auf die Rundfunkratssitzung am 16. April: „Das Aufsichtsgremium des Senders wird sich im Rahmen dieses Streits auch die Frage stellen müssen, was sich ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk an gehobenem Feuilleton, an einer intellektuellen Debattenkultur, an Fachkompetenzen in den Redaktionen leisten will. Und zwar ausdrücklich jenseits der Zahlen von Marktforschung und Nutzungsgewohnheiten. Eine Frage, die ins Zentrum des Selbstverständnisses des gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks führt.

+++ Mike Naumann, der bald scheidende Chefredakteur von Cicero, sagt im Interview mit dem Medienmagazin journalist: „Unsere Zielgruppe ist das interessierte Bildungsbürgertum. Es ist groß genug, und es wächst.“ Wir Bildungsbürger vom Altpapier werden das Haus rockende Naumann-Analysen wie diese vermissen: „Ich bin wahrlich kein Atomkraftfreund, aber die schwarz-gelbe Energiewende ist einer der größten Eingriffe in die Wirtschaft seit der kommunistischen Bodenreform nach 1945.“

+++ Wikipedia-Gründer Jimmy Wales hält „Relevanz“ für einen „sehr vagen und moralisierenden Begriff". Die Frage „Ist das wichtig genug, um bei Wikipedia zu erscheinen?“ sei falsch gestellt. „Mir geht es (...) um Nachprüfbarkeit. Können wir alle Informationen durch erstklassige Quellen belegen? Wenn dem so ist, sollte man es bei Wikipedia aufnehmen. (..)“ Es gebe „viele Themen, die trivial erscheinen, über die es aber viel Literatur gibt“, und deshalb sei nichts dagegen einzuwenden, dass es bei Wikipedia einen Artikel zur Geschichte des Pizzakartons gebe. Das sagt Wales in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk.

+++ Mehr Wikipedia: Debora Weber-Wulff, Professorin für Medieninformatik und Autorin der Internet-Enzyklopädie, erläutert im Interview mit Hive, einem Magazin der Deutschen Journalistenschule, unter anderem, „warum es nichts bringt, abgeschriebene Wikipedia-Artikel schnell zu löschen.

+++ „Ich breche nicht gerade in Freudentränen aus, wenn ich mir das Vorhaben ansehe.“ So äußert sich die CSU-Netzpolitikerin Dorothee Bär zu dem von der Regierungskoalition geplanten Leistungsschutzrecht für Verlage (irights.info).

+++ Sonja Pohlmann hat für den Tagesspiegel mit Ibrahim Mansour gesprochen, dem Chefredakteur der ägyptischen Zeitung Al Tahrir, der versuchen will, „die Nachrichten auf den sozialen Netzwerken in die tägliche Berichterstattung einzubeziehen, um so eine Verbindung zu den jüngeren Lesern zu schaffen“, und damit zu kämpfen hat, dass es in Ägypten weiterhin keine Pressefreiheit gibt, aber „dafür mehr als 30 Paragrafen, mit denen missliebige Journalisten ins Gefängnis gebracht werden könnten“.

+++ Lange hat man nichts gehört von Nikolaus Brenders Gesprächssendung „Bei Brender!“. Dafür kann es viele Gründe geben - zum Beispiel, dass sie nur einmal im Monat bei n-tv läuft, und dann auch noch donnerstags um 17.10 Uhr, also „zur Unzeit“, wie Reinhard Lüke in der Funkkorrespondenz bemerkt. Seine Startbilanz fällt dennoch positiv aus: Die Sendung grenze sich ab „von jenem Tele-Talkzirkus, (...) dem Volksvertreter allwöchentlich in großer Zahl ihre Aufwartung machen (...) Nach den bisherigen zwei Ausgaben kann man sagen, dass sich ‚Bei Brender!‘ von den mehr oder minder politischen Plauderkränzchen wohltuend abhebt. Hier wird nicht getalkt, sondern diskutiert, und bei einem einzigen Gast fallen auch jene Schaukämpfe weg, in denen politische Gegner sonst einander auszustechen versuchen.“

+++ Auf die Frage, was die Faszination von TV-Serien ausmache, antwortet Marcus Kirzynowski, der Macher, des neuen, auf Serien spezialisierten Magazins Torrent:
Bei einem Kinofilm hat man höchstens zwei Stunden, in denen man einem Charakter folgt, bei ‚Mad Men‘ wird man, wenn es nach dem Willen der Macher geht, die Charakter am Schluss von 1960 bis 1969 verfolgt haben. So etwas gibt es einfach nirgendwo sonst" (jetzt.de).

+++ Auf der SZ-Medienseite erzählt Katharina Riehl die Geschichte der für den Grimme-Preis nominierten Tele-5-Sendung „Walulis sieht fern“ (siehe Altpapier), die beim Müncher Aus- und Fortbildungskanal afk begann.

+++ Sven Sakowitz schließlich empfiehlt in der taz die Neo-Western-Serie „Justified“, die am Sonnabend bei Kabel Eins startet: „Die Dialoge der Serie stehen in der Tradition von Elmore Leonards Storys und gehören zum Besten, was es seit langem im Fernsehen zu erleben gab.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. 

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