Der Bewusstlosigkeitsnachweis

Der Bewusstlosigkeitsnachweis

Die Exegese des Guttenberg-Comeback-Interviews ist in vollem Gange, aber die kampagnenjournalistische Rolle, die Giovanni di Lorenzo und die Zeit dabei spielen, bleibt unteranalysiert.

John Pike, der Sergeant der Campuspolizei der University of California, dürfte die derzeit beliebteste Schmähfigur im Netz sein. Weil er bei einer dortigen Aktion von Occupy-Protestlern „gewaltlos sitzende Studenten“ (Welt Online) mit Pfefferspray traktierte, und das auch noch „entspannt wie ein dicklicher Familienvater, der schnell die Ecken der Küche mit einer Familiendose Anti-Kakerlakenmittel aussprüht“ (ebd.), bekommt er nun eine web-typische, humorige Form der Rache zu spüren. Welt-Autor Matthias Heine erklärt:

„Früher brauchte man, um sich zu rächen ein Gewehr, einen Zauberspruch oder einen Anwalt, heute genügt es, auf dem Computer Photoshop zu installieren. Die Bildverarbeitungssoftware hat sich zu einem der beliebtesten Werkzeuge bei Schmähkampagnen im Internet entwickelt.“

Unter anderem in einem Tumblr-Blog findet man mittlerweile unzählige Bildwitze rund um „Sergeant Pepper“. Einen Überblick zum Thema in weniger als drei Minuten liefert die Al-Jazeera-Show „The Stream“. Außerdem berichten unter anderem die Rheinische Post und Zeit Online.

Die beliebteste Schmähfigur hier zu Lande bleibt vorerst natürlich Karl-Theodor zu Guttenberg, dessen Interview mit Giovanni di Lorenzo (siehe Altpapier von Donnerstag) Jürgen Kaube in der FAZ heute unter juristischen Aspekten betrachtet:

„Das Zeitungsgespräch, mit dem er sich jetzt wieder hat ins Spiel bringen lassen, legt (...) nahe: Guttenberg ist nach wie vor ein Fall für die Jurisprudenz. Denn unter Ausstoßen von Zurechtweisungen an einen Staatsrechtler, der ihn einen Betrüger nennt, entwickelt Guttenberg eine interessante neue Rechtsfigur. Man könnte sie den ‚Bewusstlosigkeitsnachweis durch Unwahrscheinlichkeit der Tat‘ nennen. Im Kern lautet das Argument: Wer eine Tat idiotisch begeht, kann, sofern es sich nicht um einen Idioten handelt, sie gar nicht begangen haben.“

Auf derselben Feuilletonseite findet sich die im Lichte der Aktualität wunderbare Headline-Vorspann-Kombination:

„Für wiederkehrende Skandalpolitiker reicht die Unschuldsvermutung. Ein geübter Betrüger taugt wenigstens für Lacher ...“

Es geht dabei allerdings nicht um den CSU-Mann, sondern eine Elfriede-Jelinek-Inszenierung von Oscar Wildes „Idealer Mann“ in Wien. Bei Spiegel Online beschäftigt sich Stefan Kuzmany mit der Rhetorik des Wiederaufgetauchten:

„Da ist es wieder, das alte Guttenberg-Gefühl, sofort weiß man, was einen stets gestört hat an diesem Politiker, ganz unabhängig von seinen politischen Ansichten: (...) diese gestelzte Ausdrucksweise, diese Guttenberg eigene Art, Banalitäten mit großer Geste auszusprechen. (...), dieses demonstrative Ausstellen der eigenen Belesenheit und Bildung.“

Silke Burmester macht, ebenfalls bei Spiegel Online, einen „Zwischenruf“:

„Jeder Bürgerliche hätte an irgendeinem Punkt dieser unappetitlichen Geschichte die Waffen gestreckt. Hätte gesagt: Ja, ich habe abgeschrieben. Ich bin ein Schuft, ein Lügner, ein Betrüger, ein Nepper, Schlepper, Bauernfänger. Nicht so Sie. (...) Und das ist es, werter Freiherr, woran es der gemeine Bürgerliche missen lässt, diese Chuzpe, diese Hybris. Dieser Blick über die Häupter hinweg anstatt auf das eigene Versagen, die Fehleinschätzung und Verblendung - dazu braucht es eben doch eine gewisse Größe. Nicht nur an Metern.“

Passend zum medialen Comeback des CSU-Mannes hat Tim Bartels seine aktuelle Präsentation vom Bremer Forum für Wissenschaftsjournalismus ins Netz gestellt: „Kurze Entstehungsgeschichte, Einblicke und Hintergrundinformationen zu Plagiate-Wikis.“ Und Hans-Peter Schütz fasst bei stern.de die Lage so zusammen:

„Dieser Plagiator (...) verschanzt sich hinter der Ausrede, all das sei ein Ergebnis seines politischen Lebensstresses gewesen, ihm quasi ohne eigene Initiative widerfahren. Die Botschaft lautet: Ich musste ja abschreiben, weil ich der Republik treu zu dienen versucht habe. Das Unschuldsbild ist glänzend ausgemalt und - leider - unter Mithilfe der renommierten Zeit auch raffiniert inszeniert.“

Dass das Wochenblatt hier eher beiläufig erwähnt wird, ist symptomatisch. Die gestern an dieser Stelle gemachte Feststellung, auf di Lorenzos Rolle werde „bislang noch wenig abgehoben“, gilt weiterhin. Es fehlt noch ein größeres Stück, das entweder erklärt, warum diese kampagnenjournalistische Inszenierung bei der Zeit gut aufgehoben ist - zum Beispiel, weil der notorisch ölige di Lorenzo und der trotz Haargel-Verzicht notorisch ölige Guttenberg prima zusammen passen - oder warum sie dort definitiv nicht hingehört (was wohl die Position von Schütz wäre, wie man aus dem Wörtchen „leider“ im obigen Zitat schließen kann).

Vorerst müssen wir uns begnügen mit einem recht kurz geratenen Artikel in der taz, in dem Felix Dachsel die GDL/KT-Inszenierung mit dem Schmidt-Steinbrück-Theater vergleicht, sowie einem hämischen Brief an di Lorenzo, in dem sich der Hinweis findet, dass Die Zeit schon mal einen tief gefallenen CSU-Politiker rehabilitiert habe, nämlich Franz-Josef Strauß nach der Spiegel-Affäre.

[listbox:title=Artikel des Tages[Guttenberg ist nach wie vor ein Fall für die Jurisprudenz (FAZ)##Medienjournalismus zwischen Propaganda und Kompetenzmanagel (FK)##Journalisten sollten ihre Telefongespräche mitschneiden (andymiah.net)]]

Wenn der ausgeruhte Text zur Rolle der Zeit und ihres Chefredakteurs nicht bald kommt, wird sich möglicherweise Hans-Jürgen Jakobs bestätigt fühlen, der bei einer Diskussion der Otto-Brenner-Stiftung in dieser Woche den hiesigen Medienjournalismus bekanntlich in der „Holzklasse“ eingeordnet hat (siehe Altpapier). Zum Ausklang der Woche kann die Grundsatzdebatte nun weitergehen, weil die Funkkorrespondenz - die zum Thema des Tages übrigens per Tweet die Formulierung „Rent a di Lorenzo“ beisteuert - in einer Extra-Ausgabe eine Diskussion über „Medienjournalismus zwischen Propaganda und Kompetenzmangel“ abdruckt, die im August in der DRadio-Wissen-Sendung „Netzreporter XL“ stattfand. In dem online auf 14 Klick-Portionen verteilten Gespräch, an dem fünf Personen beteiligt waren, ?sagt beispielsweise Volker Lilienthal, der an der Uni Hamburg als Professor des Qualitätsjournalismus firmiert:

„Der Medienjournalismus (hat) auch ein Kompetenzproblem. Medienjournalismus ist eine unheimlich anspruchsvolle Spielart des Journalismus. Es sind inhaltliche Aspekte zu berücksichtigen, es sind wirtschaftliche Aspekte im Spiel, politische, rechtliche und sogar technische, künstlerische im Grunde auch. Sich mit alldem ein bisschen auszukennen, wird vom Medienjournalisten verlangt.“

Wenn das „nicht von allen Berufskollegen geleistet“ werde, komme es zu „Fehlleistungen“. Daran anknüpfend sagt taz-Redakteur Steffen Grimberg (in seiner Zeitung heute vertreten mit einem Beitrag rund um den BR-Intendanten Ulrich Wilhelm, der „mehr Schwiegersohn als Günther Jauch“ ist):

„Ich glaube, der Medienjournalismus heute hat in gewisser Weise, wie vielleicht der Journalismus insgesamt, ein Entgrenzungsproblem. (...) Was ist denn bitte noch Medien? Wo gehören denn Social Networks hinein? Ist das Medien, ist das Gesellschaft, ist das Politik, ist das – ja, was ist das eigentlich? Diese Entgrenzung, so glaube ich, ist in solch einer Übergangsphase wie derzeit eigentlich gar nichts so wahnsinnig Aufregendes.“

Gegen Ende der Diskussion sagt noch einmal Lilienthal:

„Es gibt immer noch einige gute Angebote von Medienjournalismus. Allerdings ist der Medienkonsument heute in der Zwangslage, dass er sich die guten Stücke regelrecht zusammensuchen muss.“

Die Bemerkung, dass es eine Medienkolumne gibt, die einen aus dieser „Zwangslage“ befreien kann, mögen wir uns an dieser Stelle natürlich nicht verkneifen.


Altpapierkorb

+++ Willi Winkler porträtiert für Cicero (S. 14) Bild-Chefredakteur Kai Diekmann unter der Headline „Wir sind Ministrant“: „In den mittlerweile elf Jahren, die er als Chefredakteur von Bild waltet, hat Diekmann das Kunststück fertiggebracht, die Auflage seiner Zeitung um fast ein Drittel (...) zu senken, ihren Einfluss aber immer noch weiter zu steigern.“

+++ Im Zusammenhang mit der Arbeit des Untersuchungsausschusses zum News-of-the-World-Skandal (aktuelle Berichte siehe Welt Online und Huffington Post) macht sich Andy Miah, Professor an der School of Creative & Cultural Industries an der University of the West of Scotland, Gedanken um neue Formen der „Selbstregulierung“ der Medien: „Such a system may also include, for instance, journalists having their own communications recorded in the course of their work, so as to later scrutinize their methods. If call centres monitor the calls with clients, why shouldn’t journalists have their calls monitored ‚for training purposes’? Journalists shouldn’t be hacking our phones, we should be hacking theirs.“

+++ Michael Jäger wartet im Freitag mit der These auf, der netzpolitische Antrag des Bundesvorstands von Bündnis 90/Die Grünen für die heute beginnende Bundesdelegiertenkonferenz in Kiel sei „gut durchdacht“ (S. 11). Die taz weiß dagegen, dass der Vorstand den Antrag „an einer entscheidenden Stelle abschwächen“ will, weil man „den Zorn der Kreativen“ fürchtet. Siehe dazu auch den Protest des Verbandes Deutscher Drehbuchautoren („Grüne wollen Kreative enteignen“). Eine sehr ausführliche Auseinandersetzung mit dem Antrag gibt es auch im Rahmen einer schon länger laufenden Diskussion ums Urheberrecht bei Spreeblick, siehe vor allem Kommentar 88.

+++ Außerdem im Freitag: Altpapier-Autor Klaus Raab porträtiert Frank-Markus Barwasser, jenen Mann, der auf der Bühne und im Fernsehen Erwin Pelzig ist. Und im „Medientagebuch“ schreibt Tom Strohschneider anlässlich des 40. Geburtstages des ak (früher Arbeiterkampf, heute analyse & kritik): „Dass der ak in seinem Alter noch einmal den Versuch unternimmt, (...) nicht sektiererisch, nicht besserwisserisch und bei allen ökonomischen Zwängen weiterhin eine in erster Linie politische Zeitung zu sein, ist ein großes Vorhaben.“

+++ Spiegel Online berichtet, dass die ägyptisch-amerikanische Journalistin und Bloggerin Mona Eltahawy in Kairo zwölf Stunden in Haft saß und während dieser Zeit sexuelle belästigt wurde. Wie Eltahawy die Haft erlebt hat, beschreibt sie hier.

+++ Sonia Mikich warnt im Blog des von ihr verantworteten Politikmagazins „Monitor“: „Einige Medien sehen schon jetzt die Quote oder Auflage oder Klickzahl wieder heruntergehen, wenn das Thema ‚rechter Terror‘ bearbeitet wird. (...) Bei mir keimt das beklemmende Gefühl, dass das große Interesse an der rechten Gefahr wie ein konjunkturelles Hoch wieder verschwinden wird.“

+++ Katty Salié wird neue Moderatorin des Kulturmagazins „aspekte“, das „verjüngt“ werden soll (SZ)

+++ Ebenfalls in der SZ benennen Katharina Riehl und Claudia Tieschky das „Dilemma der Medienaufsicht“ im Zusammenhang mit der umstrittenen Sat-1-Sendung „Schwer verliebt“. Sie zitieren Thomas Langheinrich, bei der Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) der Beauftragte für Programm und Werbung. Der sagt, es gehe „in diesen Bereichen oft um ‚Grenzüberschreitungen, die rechtlich schwer zu fassen sind‘". Ausführlicher gesagt: „Das ganze Dilemma zeigt sich gut in einem Papier der Aufseher von 2009. Dort halten sie fest, dass zwar Programmbeschwerden ‚in 25 Jahren Privatfunk selten geblieben‘ seien - es gebe aber Programme, die ‚innerhalb einer durch die Rundfunkfreiheit gesetzten Grenze bleiben, zugleich aber außerhalb der Toleranzgrenze‘ vieler Zuschauer.“

+++ Mehr zur Causa Ken Jebsen (siehe u.v.a. Altpapier von gestern): „Nach der fristlosen Kündigung durch den RBB haben jetzt die Anwälte das Sagen“, weiß der Tagesspiegel. Allerdings: „Was die Anwälte konkret bezwecken wollen, ist noch unklar.“ Michael Hanfeld spottet in der FAZ (S.39): „Zehn Jahre lang wirkte er für den RBB, er erwarb sich bei den Hörern in mehr als 545 Sendungen Kultstatus. Die Verantwortlichen haben ‚KenFM‘ aber wohl erst jetzt wahrgenommen."

+++ Über einen „Datendialog“ in Berlin, zu dem Google eingeladen hatte, und bei dem es den Veranstaltern gelang, „den Titel ‚Datenkrake‘ erfolgreich an Facebook weiter zu reichen“, berichtet Marin Majica in der Berliner Zeitung (siehe auch meedia.de).

+++ konkret (S. 54/55) interviewt für seine Dezember-Ausgabe den 29-jährigen Italienischen Journalisten und Abschiebungskritiker Gabriele del Grande, der gerade das Buch „Das Meer zwischen uns. Flucht und Migration in Zeiten der Abschottung“ veröffentlicht hat und den Blog Fortress Europe betreibt. Zur Lage des Journalismus in Italien sagt er: „Das Problem (...) ist, dass es ein Land alter Leute ist. In den Zeitungsredaktionen beträgt das Durchschnittsalter 60 Jahre. Man hat als Journalist in Italien keine Chance, solange man unter 50 ist. Daher haben viele meiner Kollegen das Land verlassen. Und ich werde der nächste sein.“

+++ Verena Lueken empfiehlt in der FAZ einen heute beim Pay-TV-Sender TNT zu sehenden HBO-Spielfilm „über die Finanzkrise 2008“: „Too Big to Fail“ von Curtis Hanson ( „L.A. Confidential“), basierend auf einem Sachbuch des New-York-Times-Journalisten Andrew Ross Sorkin.

+++ Weil im kommenden „Tatort“ „die Kommissare Batic und Leitmayr im Jüdischen Zentrum München ermitteln“ widmet die Jüdische Allgemeine dem Film eine längere Rezension. Dabei gibt sich Michael Wuliger insgesamt wohlwollend: „Dieser Tatort ist zumindest der Versuch, beim Thema Juden weg von den üblichen Stereotypen zu kommen.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag. 

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