Die Muße als must have

Die Muße als must have

Wir müssen arbeiten, während alle neu von Müßiggang reden. Immerhin wird Erwin Pelzig Georg-Schramm-Nachfolger. Und der konservative Chefchenideologe Jan Fleischhauer kommt ins Fernsehen.

Ach, was werden wir uns freuen, wenn endlich Alex Rühles neuer Schocker "Ohne Netz. Mein halbes Jahr offline" ausgeliefert wird. Schon der Spiegel hat uns diese Woche den Mund ganz wässrig gemacht mit seinem Hammer-Titel "Ich bin dann mal off".

Das Titelbild illustrierte der Mailänder Künstler Marco Ventura, 47. Er ließ sich von Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Gemälde "Goethe in der Campagna" von 1787 inspieren.

Heißt es in der Hausmitteilung. Wie klug gewählt dieses Vorbild ist, zeigen die vielen Dichter-und-Denker-Köpfe an (Petrarca, Schopenhauer, Casanova), neben denen tolle Weisheiten stehen, die man super in jedes upcoming Party-Gespräch einflechten kann ("Götter tun mit Bewusstsein und Absicht nichts") und bei denen even Daily Dingemann aka MC Quotation abschnallen würde.

Aber auch aus dem Text von Susanne Beyer (Seite 56) ist Wissenswertes zu erfahren.

Doch auch der Kommunismus ist immer eine Arbeitsideologie gewesen...Der kommunistische Chefideologe Wladimir Iljitsch Lenin war ein fanatischer Eiferer gegen den Müßiggang, so sehr, dass er sich sogar auf ein Bibelzitatr berief.

Krass drauf, dieser Chefideologe. Statt einfach sein iPhone abzuschalten, mal ein gutes Buch im "Day Spa" zu lesen und das Erbe zu genießen, macht der hier Alarm.

Der Text von Susanne Beyer ist aber nicht nur lehrreich, sondern auch witzig geschrieben:

Vielleicht würde Goethe heute seinen Faust mit dem iPhone ausstatten? Und Mephisto sich immer wieder neue Apps ausdenken.

Haha, der Mephisto, got it? Wie auch immer, wir loben uns den Rühle. Der hat die Situation gecheckt, wie er heute in der SZ (Seite 11) in der Vorwegnahme der Pointe seines "Digital-Fasten"-Schmökers verrät:

Die gehetzte Unruhe während der Arbeit aber blieb dieselbe wie vor dem Abschalten: Ich habe ruhelos Kataloge gescannt, mich durch die Meldungen gewühlt und Magazine nach Themen durchgerastert.

Ist am Ende also gar nicht das Handy der Grund für unseren Verdruss? Dann könnte's ja auch an bleiben. Auch wenn wir in der Unterzeile von Rühles Text den alarmierenden Befund lesen müssen:

Immer mehr Leute versuchen, ihren Internetkonsum einzuschränken

Vielleicht versuchen auch einfach nur immer mehr Medien, sich was Lustiges auszudenken für die Zeit, in der mal kein CDU-Politiker zurücktritt.

Wenden wir uns also der arbeitenden Bevölkerung zu. Ines Pohl wird von Ulrike Simon für BerlinerFRKSTA (bei der Mitteldeutschen Zeitung haben wir nicht nachgeschaut) zum einjährigen Amtsjubiläum als Chefideologin Chefredakteurin der TAZ interviewt. Aber ach, was müssen wir da lesen:

Außerdem muss die gedruckte taz angesichts der online verfügbaren Informationen ausgeruhter sein, mehr Recherche bieten, hintergründiger informieren. Entschleunigung heißt die Devise.

Äh, das war jetzt eigentlich anders gedacht. Schalten wir zur Tour de France, da wird sich noch geschunden, die Berge rauf, die Berge runter, Zwischensprint, Wasserträger, Tempo hochhalten – klingt wie Musik in unseren Ohren.

Dass in den vergangenen Jahren wegen dieses Beschleunigungstools called Doping immer wieder das Für und Wider einer Übertragung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk debattiert wurde (etwa hier), ist nach dem schmallippigen letzten Jahr: vergessen.

[listbox:title=Die Artikel des Tages[1 Jahr Ines Pohl bei der TAZ (FR)##Tour de France rollt wieder durch ARD und ZDF (Berliner)##Erwin Pelzig folgt auf Georg Schramm (TSP)##US-Kongress schaut deutschen Fernsehfilm (TAZ)]]

Das Peloton rollt, und Doping ist das, was Alexander Winokurow mal gemacht hat, weswegen die ZDF-Kommentatoren jeden Pedalschlag von ihm mit pädagogischer Vorsicht genießen. Aber sonst? Marcus Bäcker schreibt in der Berliner:

Wer die notwendige Muße hat, sich nachmittags schon vor den Bildschirm zu setzen, konnte zuletzt beispielsweise einiges Wissenswertes über das Departement Drôme im Südosten Frankreichs erfahren.

Langsam nervt's. Immerhin ist auf das Kabarett Verlass. Da geht noch was, da wird noch von "blitzgescheiten" Köpfen gesprochen, wie dem Text von Joachim Huber im Tagesspiegel zu entnehmen ist. Der zeichnet ob der Georg-Schramm-Nachfolge bei "Neues aus der Anstalt", die Frank-Markus Barwasser aka Erwin Pelzig antreten wird, gleich die öffentlich-rechtliche Humorlandschaft portraitiert (und nur fiese Seitenhiebe für Harald Schmidt übrig hat: "Kim Jong Il"):

Wer aktuell für Kabarett und artverwandt Intelligentes im deutschen Fernsehen einstehen möchte, der muss für das Zweite Deutsche Fernsehen arbeiten. „Neues aus der Anstalt“ ist die bestfunktionierende Verarbeitungsmaschinerie für das aktuelle, das politische Geschehen.

Na endlich: Maschinerie, das klingt nach Fett und Dreck und Gasgeben und Industrialisierung. So soll es sein im hemmungslos effizienten Spätkapitalismus.

Fuck off, Müßiggang!


Altpapierkorb

+++ Noch mehr Wissenswertes. Im FAZ-Wirtschaftsteil (Seite 15) kann man erfahren, wie ein Datenkabel auf dem Meeresgrund verlegt wird. Herrlich: "Die Glasfaserdrähte verlaufen in einem Kupferrohr, das wasserabweisenden Verbundstoff enthält. Als nächste Häute folgen eine Röhre aus Aluminium zum Schutz vor Salzwasser sowie danach dünne Stahlseile und mehrere Schichten Kunststoff. Alles zusammen ergibt ein nur etwa faustdickes Kabel, das in Küstennähe verlegt wird. Weiter draußen, in der Tiefsee von mehreren tausend Metern, verzichtet man auf die meisten Schutzhüllen, so dass nur noch ein fingerdickes Kabel einfach auf den Meeresgrund gelegt wird." +++

+++ Über die Arbeit des afghanischen Fernsehproduzenten Saad Mohseni orientiert die SZ (Seite 15). +++ Dass die Abgeordneten des US-Kongresses einen Fernsehfilm mit Axel Milberg sehen werden, weiß dagegen die TAZ. +++ "Switch" ist der Name einer ProSieben-Sendung, deren Grenzen Michael Hanfeld in der FAZ schaut (Seite 31). +++ "Switch" ist auch der Name des Schweizer Internetdienstes, der künftig gegen Internet-Kriminalität vorgehen will (NZZ). +++ Das Vierte hat einen neuen Chef und wagt einen neuen Anfang, den sich der Tagesspiegel aber nicht so recht vorstellen kann. +++

+++ Aus den vielen Fernsehhinweisen ein Highlight aus der SZ (Seite 15): Spiegel-Redakteur und, äh, Blogger Jan Fleischhauer, der arschloseste Kritiker der "Linken", der sich je Kritiker genannt hat, darf im September sein arschloses Buch "Unter Linken" für den knallhart nachfragenden Politsender RTL verwursten. Wenn das so wird, wie die legendäre Maischberger-Sendung im Oktober letzten Jahres, als Fleischi, the Jungdynamo den versammelten gefühlten 300 Jahren deutschen Kabaretts und Filmschaffens (Dieter Hildebrandt, Franz-Xaver Kroetz, Richard Rogler, Lisa Fitz) die Leviten lesen sollte (ab Minute 45:00), sich stattdessen aber von angejahrtem pädagogischen Welterklärertum eben die Welt erklären lassen musste und nur in Kopfwackeln regredieren konnte – wenn es so wird, dann wird es wenigstens lustig. +++

+++ Und ab morgen unterhält uns dann hoffentlich Michalis Pantelouris mit seiner fancy Live-Investigation aus Griechenland. +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.

 

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