An Heiligen mangelt es in Italien nicht, ist doch in Rom der Vatikan zu Hause und somit das Oberhaupt der Katholiken, der Papst. Das meiste mediale Aufsehen erzeugte allerdings die Kanonisierung des Jungen Carlo Acutis. Der mit 15 Jahren an Leukämie gestorbene "Influencer Gottes" wurde gemeinsam mit dem 1901 geborenen Pier Giorgio Frassati heiliggesprochen, der mit 24 Jahren an Kinderlähmung starb. Beide sind nun unter anderem Schutzpatrone junger Menschen.
Dieses Ereignis am 7. September hat nicht nur Zehntausende von Menschen zum Petersdom angezogen (evangelisch.de berichtete), sondern auch diverse Kritiker. So schreibt die taz am 1. September "Heiligsprechungen sind eine eher moderne Praxis. Seit der Jahrhundertwende hat es mehr Heiligsprechungen gegeben, als in der gesamten Kirchengeschichte zuvor. Und selbstverständlich sind sie stets auch politisch".
Am leichtesten lässt sich das an Johannes Paul II. erkennen, schreibt die taz weiter. Er habe das "propagandastische Potenzial" einer Heiligsprechung gezielt im Kampf gegen den Sozialismus und gegen lateinamerikanische Befreiungsbewegungen eingesetzt. Auch der Spiegel hat das Thema bereits 2014 aufgegriffen. Demnach habe Johannes Paul II sage und schreibe 1.820 Menschen selig- und heiliggesprochen - mehr als all seine Vorgänger zusammen. Dafür soll er sogar die Regeln für das Verfahren vereinfacht haben.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
Über 1.726 Heilige, Dunkelziffer unbekannt
Nachforschungen ergeben, dass seit 1588 insgesamt 1.726 Heilige ausgerufen wurden. Das berichtet zumindest die katholische Newsseite Alateia. Aber diese Zahl umfasse möglicherweise nicht die hohe Zahl der in den letzten Jahrzehnten heiliggesprochenen Personen. So hat beispielsweise Johannes Paul II. 482, Papst Benedikt XVI. 45 und Papst Franziskus immerhin 942 Menschen heiliggesprochen. Diese hohen Zahlen seien oft auf "Massenheiligsprechungen" zurückzuführen, wie beispielsweise die Heiligsprechung von 800 italienischen Märtyrern durch Papst Franziskus im Jahr 2013.
Die genaue Zahl der Heiligen weiß niemand, die "Dunkelziffer" schwankt zwischen 1.000 und 8.000 Heiligen. Zu beachten ist auch, dass die Vatikanische Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse erst 1588 gegründet wurde, um diesen Titel zu regulieren und den formellen Heiligsprechungsprozess selektiver zu gestalten. Wie selektiv ist dieser Prozess aber? Wann ist man ein Heiliger? Die Antwort lautet: wenn man ein Wunder vollbracht hat.
Heiligsprechungen am Fließband in der Kritik
Aber was genau ist ein Wunder? Dazu gibt es im Vatikan einen sogenannten Wunderkatalog. Basierend auf diesem Katalog forscht das Dicatero delle cause dei santi (Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsprozesse) mit einem wissenschaftlich-theologischen Ansatz nach Wundern – und das seit 1588. Das hört sich sehr seriös an. Kein Wunder! eigentlich, liegt dem Vatikan doch viel an den Heiligsprechungen. Aufgrund dieser Heiligsprechung am Fließband, nicht zuletzt von Franziskus, könnten man zwei Gründe vermuten: 1. Die Bevölkerung braucht in den turbulenten Zeiten mehr Spiritualität, Hoffnung auf Wunder und Heilige oder 2. Die Kirche braucht mehr Heilige, um das Reliquien- und das Pilgergeschäft anzukurbeln.
Den Punkt 1 unterstreicht die katholische Kirche. Kardinal José Saraiva Martins schreibt beispielsweise: "Die Kirche muss Heilige verkünden, und sie muss dies im Namen jener Verkündigung der Heiligkeit tun, die sie erfüllt und sie geradezu zu einem Instrument der Heiligkeit in der Welt macht." Vor allem in diesen unruhigen Zeiten, rufe "das Phänomen der Heiligen und der christlichen Heiligkeit ein Staunen hervor, das im Leben der Kirche nie nachgelassen hat und das auch einen aufmerksamen weltlichen Beobachter überraschen muss".
Eben genau ist vielen Kritikern ein Dorn im Auge: Diese vielen Heiligsprechungen seien nur eine Marketingmaßnahme mit dem Ziel, die Führungsrolle des Papsttums in der heutigen Zivilgesellschaft zu stärken und sich, vor allem mit der Heiligsprechungen von jungen Leuten, attraktiver bei Jugendlichen zu machen.
Das Geschäft mit Reliquien und Pilgern
Ein weiterer Kritikpunkt ist auch das Geschäft mit den Reliquien. Die "taz" echauffiert sich an der Exhumierung des 2019 in Assisi begrabenen Acutis. Dabei wurden auf Anweisung von Acutis‘ Mutter die Reste seines Herzens in ein Extragoldgefäß umgefüllt, was "verehrungspraktisch sinnvoll" sei, so die Tageszeitung. Das mag vielleicht weit hergeholt sein, Fakt ist aber, dass Reliquien seit jeher Pilger angelockt haben. Bestätigt wird das durch einen Besuch in Assisi: Dort ist der "Influencer Gottes" aufgebahrt, sehr zum Ärgernis der Bewohner, für die es nur die Heiligen Francesco, Chiara und Rufino gibt. Doch das Geschäft mit den Souvenirs boomt: Carlo Acutis gibt es als Schlüsselanhänger, Tasse, und als lebensgroße Figur, die zum Fotografieren einlädt.
Und auch wenn der katholische Theologe Oliver Wintzek die Verehrung menschlicher Überreste als Reliquien für anachronistisch hält, sind viele Pilger fasziniert von den Überresten. Bereits heute bereiten sich viele Hotels in Assisi auf den Oktober 2026 vor, denn dann jährt sich der Todestag des heiligen Franziskus von Assisi zum 800. Mal. Aus diesem Anlass werden seine sterblichen Überreste in der Basilika erstmals öffentlich gezeigt. Der Leichnam des Heiligen werde dazu aus seinem Grab in der Krypta genommen und in der Unterkirche der Basilika zu Füßen des päpstlichen Altars aufgestellt.
San Francesco und weitere Schutzpatrone
Um möglichst vielen Pilgern den Besuch zu ermöglichen, ist jetzt schon eine kostenlose Online-Reservierung eines Termins erforderlich. "Nächstes Jahr werden doppelt so viele Pilger erwartet, da viele auch wegen Carlo Acutis kommen werden", weiß Carla aus Rom, die jedes Jahr nach Assisi pilgert. Gemeinsam mit ihrer Freundin streift sie durch die Souvenirläden und schüttelt den Kopf. Ihr missfällt, dass Carlo Acutis in Assisi begraben ist. "Ich habe verstanden, dass Carlo hier begraben werden wollte, aber Assisi gehört den drei Stadtheiligen und basta."
San Francesco, der heilige Franziskus, ist nicht nur der Nationalheilige, sondern auch der Schutzpatron der Tiere und des Naturschutzes, nicht aber seiner Geburtsstadt Assisi – das ist San Rufino. Dabei ist die Stadt in Umbrien keine Ausnahme, denn fast jedes noch so kleine Städtchen hat in Italien seinen eigenen, heiligen Schutzpatron und manchmal entfacht ein Streit um dessen Gebeine, wie beispielsweise bei Thomas von Aquin. Der bekannte Theologe starb zwar im Kloster Fossanova bei Neapel. Nach seiner Heiligsprechung wurden seine Gebeine aber nach Toulouse gebracht, wo sie jedes Jahr zahlreiche Pilger anziehen.
Feste der Heiligen, Schutzpatrone und Reliquien sind seit jeher beliebt bei den Italienern und nicht nur: Die Reliquien von Heiligen sind dabei besonders beliebt und das wissen auch die Geschäfte für religiöse Souvenirs. Im Blog von "Mondo Cattolico" heisst es: "Berücksichtigt man jedoch auch die Seligen, Märtyrer und lokalen Schutzpatronen, kommt man auf eine Heiligenzahl zwischen 9.000 und 20.000". Das bekannteste Geschäft Roms versorgt seit 1952 die vielen Pilger und verkauft Souvenirs en masse.


